Gerade war der Himmel noch blau

Florian Illies

Gerade war der Himmel noch blau

Texte zur Kunst

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Florian Illies

Florian Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford und wurde 1997 Feuilletonredakteur der

»Frankfurter Allgemeinen Zeitung«; 1999 bis 2001 leitete er die »Berliner Seiten« der FAZ; anschließend war Florian Illies Feuilletonchef der neugegründeten »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, Mitbegründer und Herausgeber der Kunstzeitschrift »Monopol«. 2008 wechselte er als Ressortleiter Feuilleton und Literatur zur »Zeit«. Illies ist jetzt Partner des Berliner Auktionshauses »Villa Grisebach« und dort für die Kunst des 19. Jahrhunderts verantwortlich. Im Mai 2014 wurde er für sein Werk mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Begeistert und begeisternd wie kaum jemand anderes schreibt der Kunsthistoriker und vielfache Bestsellerautor Florian Illies über Kunst und Literatur. Dabei faszinieren ihn vor allem die Maler und die Bilder, die Autoren und ihre Bücher selbst, Vergangenheit wird in seinen Texten unmittelbar als Gegenwart erfahrbar, unter seinem Blick entstehen bewegte Bilder in Farbe, werden aus historischen Figuren leidenschaftlich liebende und lebende Menschen.

In seinem neuen Buch, das zentrale Texte zu Kunst und Literatur aus 25 Jahren versammelt, porträtiert Florian Illies seine persönlichen Helden von Max Friedländer über Gottfried Benn und Harry Graf Kessler bis hin zu Andy Warhol. Und er erkundet, warum die besten Maler des 19. Jahrhunderts am liebsten in den Himmel blickten und begannen, Wolken zu malen, er erzählt, was sie scharenweise in ein kleines italienisches Dörfchen namens Olevano trieb, fragt sich, ob Romantik heilbar ist — und adressiert einen glühenden Liebesbrief an Caspar David Friedrich.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: KOSMOS, Büro für visuelle Kommunikation

Coverabbildung: Johann Heinrich Schilbach, Wolken auf hellblauem Himmel, Sammlung Reinhold, Berlin

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490299-9

 

HENRY JAMES, Die Europäer

Ein Text in diesem Buch heißt »Liebesbrief«. Aber das ist eine Untertreibung, es handelt sich im Grunde nur um Liebeserklärungen: an Maler, an Schriftsteller, an Bilder, an Bücher.

Ich hoffe nicht, dass Liebe wirklich blind macht.

In diesem Band sind Artikel und Reden aus den Jahren 1997 bis 2017 versammelt. Es geht scheinbar um Bilder und Bücher aus der Vergangenheit. Doch für mich sind sie nicht vergangen, weil wir sie eben genau heute sehen und lesen und also: erleben. Deshalb versuche ich, Vergangenheit, die mich berührt, als Gegenwart zu erzählen. Als Augenblick. Gerade war der Himmel noch blau. Jetzt ziehen Wolken auf. Gleich kommt ein Gewitter. Dann wieder: alles blau. Das scheinbar Ewige ist flüchtig, das scheinbar Flüchtige ist ewig, wie Brecht vor hundert Jahren in seiner »Erinnerung an die Marie A.« bewiesen hat: »Und auch den Kuss, ich hätt ihn längst vergessen/Wenn nicht die Wolke dagewesen wär/Die weiß ich noch und werd ich immer wissen/Sie war sehr weiß und kam von oben her.« Das ist das Wissen, von dem große Kunst erzählt. Und das ist es, was ich in meinen Texten erlebbar zu machen versuche.

 

Florian Illies, 4. Mai 2017

Deutsch als Kunst

Julius Meier-Graefe. Drei Worte, eine Verheißung. Mein ganzes kunsthistorisches Studium über schlich ich um seine Bücher herum wie um den heißen Brei, ich wusste, dass sich darin etwas befand, was noch immer, auch hundert Jahre nach seiner Entstehung, eine gefährliche Explosionskraft besaß. Es ist das barock Ausschweifende, das Unwissenschaftliche, das leicht Unseriöse, das ihn umweht. Seine herrliche Praxis etwa, Fußnoten nicht für überflüssige Literaturhinweise zu benutzen, sondern für Anekdoten von persönlichen Begegnungen mit den Künstlern, über die er schrieb.

Doch immer, wenn mir der Kopf brummte, weil ich versucht hatte, eine kunsthistorische Dissertation aus Bochum zu Ende zu lesen, griff ich wieder zu einem der kleinen Insel-Taschenbücher über Manet, Courbet, Delacroix, zu seiner »Entwicklungsgeschichte« und war nach ein, zwei Worten in seinem Bann. Ich wusste, es war kaum möglich, seinen Namen zu nennen in den Räumen, in denen die strengen akademischen Hygienevorschriften herrschen und das Reinheitsgebot deutscher Wissenschaft. Zugleich reizte mich genau dies. Denn wo solche Abstoßung herrscht, da herrscht Angst. Und sie ist es in

Darum sollte, so mein Plan, Julius Meier-Graefe das Thema meiner kunsthistorischen Dissertation werden. Mit Hans Belting hatte ich einen angstfreien und neugierigen Doktorvater gefunden – doch dann geschah etwas Seltsames. So sehr ich es auch drehte und wendete, es wollte mir einfach nicht gelingen, dieses Universum Julius Meier-Graefe in die nüchterne Prosa eines Exposés für ein Dissertationsvorhaben zu pressen. Immer wieder verfiel ich dem eigentümlichen, mitreißenden Stakkato seiner Sätze, immer wieder war ich begeistert über seine Fähigkeit zum kennerschaftlichen Urteil – doch es war mir unmöglich, überhaupt zu umreißen, wie eine Doktorarbeit Julius Meier-Graefes Herr werden sollte. Als ich in diesen Tagen, zwanzig Jahre danach, wieder die alten Insel-Taschenbücher aus Bonn in die Hand nahm, fand ich darin Briefe der großen Meier-Graefe Entdeckerin Catherine Krahmer, in denen sie mir Hinweise gab, wie man unseren Helden vielleicht doch in die deutsche Dissertationsordnung einnorden könnte. Doch alles vergeblich. Es kam nie zur Doktorarbeit, weil ich bereits am Exposé scheiterte. Und ich begann folgerichtig kurz darauf als Kunstkritiker der FAZ zu arbeiten – um dem Idol also nicht durch Exegese, sondern durch Paraphrase nahezukommen.

Sie merken hoffentlich, dass ich nur scheinbar von mir rede. Es käme mir nie in den Sinn, Sie mit biographischen Wendungen zu langweilen, ich weiß, dass auch an diesem Punkt die akademischen Reinheitsgebote unbarmherzig sind. Es geht mir vielmehr darum, zu zeigen, welche Herausforderung es ist, sich mit der eigenen Sprache bzw. der Wissenschaft der Sprache von Julius Meier-Graefe zu

Möglicherweise ist es genauso naiv, zu glauben, man könne darüber einen Festvortrag halten. Denn dabei misst man sich ausschließlich auf dem sprachlichen Niveau. Aber es hat auch einen Vorteil: Man kann Julius Meier-Graefe wörtlich zitieren – und im Zitieren seine Wortgewalt in die eigene Word-Datei integrieren. Und doch ist das Zitat immer bereits ein Gewaltakt: Denn es löst etwas heraus aus einem Gefüge, das eine Einheit ist. Denn »Einheit«, das ist nicht nur Meier-Graefes wichtigste Kategorie zur Bewertung eines Kunstwerkes (»Hier kann man lernen, was Einheit wirklich heißt«, schreibt er einmal über Menzel) – auch seine Texte sind, einmal gedruckt, wie eine feste, nicht mehr in seine Einzelteile zerlegbare Masse. Das ist sehr überraschend zunächst, denn sein Textfluss, seine Wortwahl sind ja glühend, sein Temperament explosiv – aber wenn die Lava erkaltet ist, die aus diesem Vulkan entsprang, dann ist sie wie ein unverrückbares Gebilde. Die Steine und das Feuer sind zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen. So ist das auch mit seinen Texten.

Sie sind, seien wir ehrlich, Literatur. Das ist der Grund, warum sie vom ersten Tag an so geliebt wurden von den Lesern und so gehasst – von den Kunsthistorikern. Es war Wolfgang Ullrich, der als Erster gezeigt hat, wie bewusst Meier-Graefe etwa in seiner »Spanischen Reise«

Julius Meier-Graefe also war der bekannteste Vertreter der Spezies des »Kunstschriftstellers« in Deutschland, die von Anfang an von den Vertretern der Wissenschaft verachtet wurde. Von einem anderen Kunstschriftsteller, nicht weniger verpönt als Meier-Graefe und nur unwesentlich weniger interessant, von Richard Muther nämlich, kommt eine Charakteristik dieses Berufes, die wie perfekt die besondere Fähigkeit unseres Helden beschreibt: Das Ideal eines lehrreichen Textes über Kunst sei, »dass das Werk gar nicht von einem Gelehrten, sondern von einem Dichter geschrieben würde«, denn nur dieser besitze »die ganze Feinfühligkeit, die dazu gehört, ein Kunstwerk in sich aufzunehmen und die nuancenreiche Schmiegsamkeit der Sprache«, um angemessen zu analysieren. Das ist Meier-Graefe.

Kein Wunder also, dass man das eigentlich nicht wirklich beschreiben kann. Eine sehr unglückliche Wahl also für ein Thema, über das man einen Festvortrag halten soll. Aber andererseits: Letztlich ist der »Festvortrag« die einzig angemessene, weil kongeniale Form, diese Sprache zu feiern, denn im Grunde hat Meier-Graefe keine Bücher über Courbet, Renoir, Delacroix, Manet und Cézanne geschrieben, sondern lauter Festvorträge. Sein Ton ist immer der einer Feierstunde – und die Sprache wirkt, als

Das macht das Lesen einzelner Passagen für den Leser selbst zu einem perlenden Fest – zwingt man sich aber, ein Buch von vorne bis hinten an einem Stück zu lesen, dann ertappt man sich dabei, wie bei einem ordentlichen Festvortrag auch, wie man die Gedanken zum Abendessen schweifen lässt, auf die Uhr blickt oder sich Gedanken über die Krawattenfarbe des Vortragenden macht. Denn so kraftvoll, so gehaltvoll, so leidenschaftlich die Sprache Meier-Graefes ist – der Dauerton seiner ekstatischen Schwärmerei piept nach dreißig Seiten etwas anstrengend im Ohr. Aber haben Sie einmal versucht, vier Stunden lang eine Dissertation zu lesen? Also: Gerechtigkeit für unseren Helden.

Es ist unhöflich, dass ich erst jetzt auf den Ort unseres heutigen Zusammentreffens zu sprechen komme. Die Französische Botschaft in Berlin – ich glaube, es gibt keinen würdigeren Ort auf der Welt, um die Bedeutung Julius Meier-Graefes zu feiern. Er hat Frankreich, Paris und die französische Kunst auf eine Weise geliebt, wie sie vom reaktionären Berlin um 1900 gehasst wurde: nämlich unbändig.

Am Gipfelpunkt seiner eigenen Entwicklungsgeschichte der Kunst standen die französischen Impressionisten. Und das Größte, was es für Julius Meier-Graefe gab, war es, ein Franzose zu sein. Goya und Constable, den jeweils einzigen Spanier und Engländer, den er duldete in seinem ästhetischen Olymp, waren für ihn Franzosen ehrenhalber, und Menzel, der Deutsche, hatte die entscheidenden malerischen Impulse in Paris erfahren. Im Grunde schreibt Meier-Graefe immer über dasselbe, aber er schreibt es immer wieder neu. Es geht ihm um die

Das sollten wir nie vergessen. Dieser Mann hatte immer eine Mission. Egal, ob er, wie meist, den dummen Deutschen die Delikatesse der Franzosen anschaulich machen wollte. Oder ob er der dummen Welt die Weltklasse eines Hans von Marées mit einem zweibändigen Monumentalwerk einzuhämmern versuchte. Oder aber – einer seiner nachhaltigsten Triumphe – ob er El Greco in den Kanon der Kunstgeschichte aufnahm bzw. mit der »Jahrhundertausstellung von 1906« den Deutschen nicht weniger als ein ganzes vergessenes Jahrhundert, das 19. nämlich, erstmals ins Bewusstsein zurückholte. Er vermochte dies alles dank der Kraft seiner Sprache.

Dass er in seiner Missionsarbeit bei den Heiden manche Donareiche fällte, die eigentlich gar nicht im Wege stand, haben ihm seine Zeitgenossen übel genommen. Aus dem Rückblick aber erkennt man, dass es darum natürlich überhaupt nicht geht. Sondern darum, dass er die französischen Impressionisten zu einem Zeitpunkt in Deutschland als ästhetisches Ideal etablierte, als ihr Heimatland als Erzfeind galt, und dass er die Größe des deutschen 19. Jahrhunderts erkannte und Caspar David Friedrich nach fünfzig Jahren des Vergessens wieder ans Licht rückte, als parallel um ihn herum sich die Expressionisten und Kubisten zu den Ufern der Abstraktion aufmachten.

Er selbst sah in dieser Seherfahrung den größten Unterschied zu der akademischen Kunstgeschichte. Denn natürlich war Meier-Graefe zeitlebens unter Beschuss – aber er schoss auch zurück. So in seinem Buch über Hans von Marées. Da schreibt er so klar wie bissig: »Man hat bei uns immer formuliert, bevor geeignete Erfahrungen da waren. Dem Denker genügte auch das mangelhafte Kunstwerk zur Auslösung bewundernswerter Gedankengänge. Wir dachten stets über die Blume nach, anstatt zu riechen.« Dagegen also Julius Meier-Graefe: Er atmet Kunst ein, um sie als Sprache wieder auszuatmen.

Die Blume ist ein schönes Symbol für Meier-Graefes Art zu riechen und zu schauen. Denn sie kann blühen, und sie kann welken. Und passt deshalb präzise zu seiner Leitidee einer evolutionären Entwicklungsgeschichte der Kunst. Auch das ist natürlich verpönt, weil doch eigentlich, so Martin Warnke über Meier-Graefe, »alle Kunstepochen unmittelbar zu Gott« seien, also alle Werturteile unangebracht sind. Meier-Graefe aber braucht diesen Glauben an die Entwicklungsgeschichte – denn nur so kann er die Kunst als einen stetig rauschenden Fluss beschreiben, als etwas Dynamisches. Durch die Einordnung in eine Entwicklung gibt er der jeweiligen Kunst eine Dringlichkeit

In diesen zwei Sätzen haben wir den ganzen Meier-Graefe: Aus einem ungeheuren Einfühlungsvermögen, aus einem unermesslichen Schatz an Seherfahrung erwächst ein Fazit, wie es außer ihm niemand zu ziehen – und ich würde ergänzen: niemand zu denken wagt. Doch ist es erst einmal gedacht, dann schnurren bei Meier-Graefe die Jahrhunderte zu Sekunden zusammen, und es scheint vollkommen plausibel, Böcklin und Cranach in einem Atemzug zu nennen. Und schließlich, das ist das Wichtigste: Hat man dieses Fazit, oder sagen wir zurückhaltender, diese These einmal im Kopf, dann wird man auf »deutsche Kunst« künftig anders schauen, und man wird, das sei Ihnen prophezeit, sehr oft merken, wie weise diese lapidare Bemerkung ist. Die Deutschen sind Meister des ruhenden Balls.

Ohnehin scheint Meier-Graefe in seinem ästhetischen Urteil eine seltene Ausnahmebegabung zu besitzen. Es gelingt ihm immer wieder, auf seine Zeitgenossen mit einem retrospektiven Blick zu schauen – also das eigene Werturteil kurzzuschließen mit dem, was er als das Werturteil der Zukunft vermutet. So zum Beispiel über Manet: »Wenn in hundert Jahren« – also heute – »der Geschichtsschreiber nach den entscheidenden Dokumenten unserer

Diese Worte über Manet finden sich übrigens in einem Buch über Renoir. In dem Buch über Renoir finden sich auch unzählige Bewertungen von Delacroix. In dem Buch über Manet liest man sehr viel über Courbet. Und wenn er über Corot schreibt, dann erfährt man Tiefsinniges über Cézanne. Es ist bei Meier-Graefe, als sei er mit einer Rakete im Weltall unterwegs – all die Zentralgestirne und Planeten dort kreisen um sich, und Meier-Graefe setzt sie permanent zueinander in Beziehung. Wo also Corot seinen Schatten auf Cézanne wirft und wo die Sonne Delacroix’ noch auf dem Planeten Renoir zu sehen ist. Wie alle im Grunde sich um Delacroix drehen. Und so weiter. Und in fernen Milchstraßen sieht Meier-Graefe dann auch noch Giotto, Rubens oder Cranach leuchten.

Zwei Jahre später, im nächsten Buch, schaut Meier-Graefe dann aus einer anderen Perspektive, und die Abfolge vom Zentralgestirn zu seinen Monden sieht etwas anders aus. Man mag das Opportunismus nennen, weil sich die Reihenfolge im Olymp manchmal, je nach Blickwechsel und Argumentationskette, durchaus verschieben kann. Aber wenn man sich fest anschnallt, dann ist der Lerneffekt immens: Sichtbarmachen durch rapide Perspektivwechsel also, per Anhalter durch die Galaxis, auf dem Rücksitz von Meier-Graefe.

So rauscht einem immer wieder der Kopf, weil Meier-Graefe sich unermüdlich bemüht, die Wechselwirkungen, die Abhängigkeiten, die Magnetwirkungen, die Verschattungen und die Beleuchtungen der Größten untereinander aus immer wieder neuen Perspektiven zu beschreiben. Doch auch in diesem Fall gilt: Selten wurde Kunst

Noch ein Beispiel, zwei Sätze aus dem Vorwort zu seinem Buch über Renoir. Ganz aus dem Nichts fragt Julius Meier-Graefe dort plötzlich: »Wer schreibt die Geschichte des Barocks im 19. Jahrhundert?« Und bevor man sich fragen konnte, was das nun wieder sein könnte, hat Meier-Graefe die Geschichte des Barocks im 19. Jahrhundert schon selbst geschrieben. Er braucht dafür einen Satz. Hier kommt er – er steht für das, was ich meine, wenn ich diesem Vortrag den Titel »Deutsch als Kunst« gegeben habe. Erst, wie zum Schwungholen für den Autor, die rhetorische Frage: »Wer schreibt die Geschichte des Barocks im 19. Jahrhundert?« Und dann: »Jenes wenig greifbaren Barocks, das Delacroix’ ganzes Œuvre wie eine gewaltige Woge bewegt, das dem Naturalismus Courbets widerstand und von Manet vergeblich bekämpft wurde, das Rodin in Höhen und Untiefen trieb, in Monets besten Bildern die Pinselstriche kräuselte, in Cézanne zu dem phantastischen Bau seiner Mystik wurde, van Gogh zu inbrünstigen Visionen hinriss und noch in den verhaltenen Empfindungen der Jüngeren, eines Bonnard etwa, spielt wie die flachen Lachen des Meeres auf sandigen Dünen.«

Das ist der ganze Meier-Graefe – er schaut auf die Kunst seiner Gegenwart durch die Scheibe seiner Rakete, mit der er durch das Kunstuniversum fliegt, und in seinem Blick fügen sich die Planeten in immer neue Ordnungen, er hat den Mut zum großen Bogen und natürlich auch zum Looping, und er setzt die Adjektive und die Verben mit einer Präzision ein wie ein Weltraummechaniker. Und noch etwas – und das ist – so denke ich, das Wichtigste. Er sieht etwas, was wir nicht sehen.

Wissen heißt, zu misstrauen

Das ist das Schwerste: Worte zu finden für das, was man sieht. Kaum jemand wusste so genau wie Max Friedländer, wie hart der Kampf um den richtigen Begriff ist, wie unmöglich letztlich die Suche nach der vollkommenen sprachlichen Entsprechung für eine sinnliche Wahrnehmung. »In meinen Aufsätzen«, so schreibt er einmal, »stößt der Leser auf die Bemühung, das Eigentümliche dieses oder jenes Malers in Worte zu fassen.« Man merkt diesem Satz an, dass das Formulieren für Friedländer zeitlebens eine körperliche Arbeit gewesen ist, ein Kraftakt. Die Sätze flossen nicht einfach aus ihm heraus wie aus seinem Zeitgenossen Julius Meier-Graefe etwa, dessen Worte perlten wie Champagner. Bei Friedländer hat man das Gefühl, jeder Buchstabe sei uralten Weinstöcken auf einer unzugänglichen Steillage abgetrotzt. Umso größer das Wunder, wenn man die Zahl seiner Veröffentlichungen sieht: 595 Texte hat er in seinem über 90-jährigen Leben verfasst, im Zentrum natürlich das Monument der 14 Bände seiner »Altniederländischen Malerei«, daneben die Unzahl von Katalogen, Aufsätzen, Rezensionen, die Bibliothek der Künstlermonographien von Altdorfer angefangen, Cranach, Lucas van Leyden, Dürer, und

Es ist ein Verdienst der Biographie von Simon Elson, dass er sich weder vom Umfang des Werkes Friedländers hat einschüchtern lassen noch von dessen Skrupelhaftigkeit in Bezug auf die Sprache. Dass nun erstmals eine so umfassende Würdigung des Lebens und Werks dieser singulären Persönlichkeit vorliegt, ist eine verdienstvolle Tat. Die Leistung des Biographen liegt vor allem darin, dass er das Leben eines Menschen erzählen musste, der nur für sein Werk gelebt hat. So wie Friedländer selbst zeitlebens auf der Suche danach war, »Lücken« in der Kenntnis bestimmter Maler zu schließen, so musste auch Elson sich nun aus den Lücken dieses schweigsamen, zurückhaltenden, genügsamen Gelehrten doch ein »Bild« von einem Leben machen. Elson kennt seinen Friedländer und weiß darum, wo die Tücken liegen, wenn man ein solches Bild zu zeichnen versucht: »Die spärlichen Fragmente, die der Zufall uns bewahrt hat, zu lückenloser Kette schmieden, heißt der fixen Idee des Historikers zu Liebe die Beobachtungen zu fälschen.« So heißt es bei Friedländer. Und es ist Simon Elson gelungen, aus der Frische seiner Lektüre und der Neugier seiner nachgeborenen Anschauung keine Fälschung, sondern ein Original zu schaffen, das vor unseren Augen zu leben beginnt. Schon zu Lebzeiten scheint sich Friedländer jeder Form der Fixierung seiner

Mein Text soll nur ein kleines Schlaglicht werfen – und zwar auf die Eigentümlichkeiten von Friedländers Weise, über Kunst zu schreiben.

Friedländer macht es einem als Leser nicht leicht. Er bezirzt nicht durch flotte Formulierungen, wenn er einmal Beispiele aus dem Alltag zum Einstieg sucht, dann wirkt das gesucht. Ganz bei sich ist er, wenn er Bilder beschreibt, Eigenarten eines Malers vergleicht, urteilt. Man muss sich auf ihn einlassen, stundenlang, muss Aufsatz um Aufsatz lesen, Buch um Buch – und dann plötzlich geschieht es: Man spürt den Zauber dieser spröden Prosa. Es gab und gibt wohl niemanden, der größere Sachkenntnis hatte über die altniederländische Malerei als er. Aber – und das ist das erste Charakteristikum seiner Einzigartigkeit – sein Wissen macht ihn nicht hochmütig, sondern demütig. Immer wieder liest man ein »vermutlich« oder ein »wohl«. Niemals ein »auf jeden Fall« oder ein »ausgeschlossen«. Dem Wissenden ist alle Gewissheit suspekt – das ist das geheime Credo von Friedländers Kennerschaft. Man muss sich die Tiefe und die Untiefe dieser Haltung vergegenwärtigen, um ihre Bedeutung ermessen zu können: Dieser Kunsthistoriker, der wie kaum einer seiner Zeitgenossen um das präzise Wort gerungen hat, dieser Kenner, der mehr um die Geschichte der Malerei wusste als fast alle seiner Kollegen, dieser Max Friedländer wurde mit jedem Jahrzehnt an zusätzlicher Kennerschaft und Detailkenntnis skeptischer. Er wurde klüger. Denn Klugheit heißt, zu wissen, dass man sich trauen kann und zugleich immer misstrauen muss.

Das zweite zentrale Geheimnis seiner Kennerschaft ist sein Wissen um seine Zeitgebundenheit. Auch hier wieder dasselbe Phänomen: Je mehr Friedländer sieht und weiß und durchschaut, umso klarer wird ihm deutlich: Es ist immer nur das Urteil auf der Basis des Wissens des Jahres 1910, 1920, 1930. Jedes Urteil ist relativ – weil der Kenner immer auf einem Auge blind ist, durch seine eigene Verankerung in seiner Gegenwart: »Man stelle sich vor, wie Menzel über van Gogh geurteilt hätte. Von seinem Standpunkte könnte er nichts als Fehler erblicken. Aber gerade das in seinen Augen Fehlerhafte macht den Stil van Goghs aus.« Was an dieser Beobachtung so außerordentlich ist: Hier spricht nicht der Journalist oder der Kunstschriftsteller, der sich qua Amt der teilnehmenden Beobachtung verschrieben hat, für den die Wahrnehmung vom eigenen, flackernden Standpunkt her die richtige, weil ihm einzig mögliche Form der Betrachtung ist. Hier spricht Max J. Friedländer, stellvertretender Direktor der Berliner Museen, Direktor des Kupferstichkabinettes, Autor unzähliger Aufsätze, Expertisen und Bücher, ein Mann also, der permanent die Aufgabe hat, »objektive« Urteile zu fällen. Es spricht für die Souveränität dieses Mannes, dass er öffentlich macht, um die Relativität seiner Einschätzungen zu wissen. Dass er dennoch täglich urteilt, spricht für seine Fähigkeit, die großen Widersprüche ästhetischer Urteilskraft auszuhalten und sich ihnen zu stellen. Denn liest man etwa kritische Passagen von Friedländer über Courbet, bei dem er den Eindruck hat, dessen Bedeutung hätte sich längst überholt, dann fällt sich der Autor plötzlich selbst ins Wort: »Wenn mir ein

Auch heute wird ja Friedländer verehrt, selbst wenn kaum jemand eine Zeile von ihm gelesen hat. Und es gibt ja in der Tat verschiedene Gründe zur Verehrung. Neben seiner kunsthistorischen Gesamtleistung halte ich aber diese so nüchterne wie poetische Beschreibung der Grenzen jedes ästhetischen Werturteils für Friedländers wichtiges Legat für die Nachwelt. Wir alle, die wir über Kunst reden, stehen nur auf treibenden Eisschollen. Viele haben dies geahnt – dann aber irgendwann doch kalte Füße bekommen. Friedländer aber stellt sich der Tatsache und macht die Demut damit zu einem Fundament jeder ästhetischen Äußerung.

Der erste Teil der Überschrift könnte von Friedländer stammen. Die Klammer natürlich nicht. Aber natürlich wüsste er, dass sie stimmt. Friedländer war ein Mensch von großer Ordnungsliebe und Akkuratesse, das schlägt immer wieder durch, wenn er, an seinem Schreibtisch sitzend, versucht, sich einen Überblick über eine bestimmte Zeit zu verschaffen – und dann merkt, dass dies eigentlich nicht möglich ist. Dann tut er nicht so, wie es Kunstwissenschaftler gerne tun, als gebe es eine klare Ordnung. Sondern er benennt die Unordnung: »Das 19. Jahrhundert bietet ein besonders verwirrendes Bild«, schreibt er etwa, oder: »Die Antwerpener Produktion zur Zeit, als Patenier starb, bietet einen reichen und wirren Anblick.« Dann begibt sich Friedländer, seinem Naturell gemäß, natürlich doch daran, zu ordnen, aber er weiß dabei immer, dass es ein Versuch bleiben muss. Weil wir ja nur noch ordnen können, was übriggeblieben ist aus vergangenen Zeiten, und wir nicht wissen, wo überall Lücken klaffen. Und weil Friedländer letztlich auch immer wieder durchscheinen lässt, dass der Wunsch nach Ordnung oft falsche Eindeutigkeiten erzeugt. So schreibt er einmal über den Kupferstich »Mohammed und der getötete Mönch« des offenbar erst 14-jährigen Lucas van Leyden: »Wie entschieden auch alle Erfahrungen der Vorstellung widerstreben, wir müssen wohl oder übel an dem Geburtsdatum festhalten und die Abnormität in das Bild einfügen, das wir von dem Maler schaffen.«

Ja, da steht tatsächlich »schaffen«. Und nicht »haben«. Eine winzige Sollbruchstelle, an der aus dem bescheidenen Museumsbeamten doch der Anspruch durchbricht,

4. Urteilen heißt, sich irren zu können

Wenn Friedländer schreibt, urteilt er. Er ist sich dieser Tatsache bewusst. »Es hat nur einen Kunstkenner gegeben, der sich nie blamiert hat, und der war stumm und konnte nicht schreiben.« Anders also Friedländer: Er war nicht stumm und konnte schreiben. Und zwar »in das knappste nur denkbare sprachliche Gewand gekleidet«, wie Günter Busch einmal sagte. Es gibt meist Hauptsätze, Adjektive sind, vor allem im Spätwerk, selten. Er ringt lieber stundenlang um das richtige Verb, als dem Leser ein paar schmackhafte Worthülsen anzubieten. »Man sollte so gut schreiben, dass niemand merkt, dass es gut geschrieben ist« – was für ein herrliches Credo. Das Sehen ist für Friedländer eine körperliche Handlung. Und das Schreiben auch. In diesen beiden geistig-seelischen Aktionen erschöpfte sich sein Leben. Er erblickt und erfasst. Auf unnachahmliche Weise. Mit einem höchsten Maß an Sprachbewusstsein, das Fremdwörter vermeidet und jede

5. Sketch of a Self-Portrait

Friedländers großer Antipode war Bernard Berenson. Doch so wie sich der eine, seinem Naturell gemäß, den Nordländern zuwandte, galt Berensons Passion den Malern Italiens. Während Friedländer seine Studierstube und sein Museum nie verließ, wohnte Berenson als kleiner Medici-Fürst oberhalb von Florenz in seiner Villa I Tatti inmitten eigener Kunstschätze. Beide haben Geschmacksgeschichte geschrieben. Aber nur Berenson eine Autobiographie. »Sketch for a Self-Portrait« lautet deren kongenialer Titel. Friedländer wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, über sich selbst zu schreiben, seine Selbstdarstellung passt auf eine halbe Seite, am wichtigsten war ihm, dass er nur 200 Meter von der Museumsinsel entfernt geboren wurde und dass er diese Insel der Seligen quasi nie verlassen hat – bevor ihn 1933 die

Das Frösteln in der Moderne

Wer 1868 als Harry Kessler geboren, mit elf Jahren geadelt und mit 13 Jahren zum Grafen wird, der hat zeitlebens ein ganz besonderes Sensorium für die Klassenunterschiede. Harry Graf Kesslers jahrzehntelanges Ringen darum, Begriffe für Schönheit und Ästhetik zu finden, ist immer mitbestimmt von seiner Aufmerksamkeit für Distinktionsgewinne und Klassenbewusstsein. Die Schärfe seines Blickes für soziale und gesellschaftliche Hierarchien wird in den Tagebüchern bei den Umwälzungen am Ende des Ersten Weltkrieges frappant. So besucht er am 18. November 1917 den Maler George Grosz in dessen Atelier – und es geschieht etwas ganz Merkwürdiges. Harry Graf Kessler, der große Geschmacksinnovator, der ganz aufzugehen scheint in den fließenden internationalen Jugendstil-Linien eines Ludwig von Hofmann, van de Velde und Maillol, erkennt in Sekundenschnelle die Größe der Kunst von Grosz. Er schreibt abends in sein Tagebuch: »Überhaupt diese neuberlinische Kunst, Grosz, Becher, Benn, Wieland Herzfelde, höchst merkwürdig; Großstadtkunst, von hochgespannter Dichtigkeit der Eindrücke, die bis zur Simultanität steigt; brutal realistisch und gleichgültig märchenhaft wie die Großstadt