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Jérôme Ferrari

Ein Gott ein Tier

Roman

EIN GOTT EIN TIER

JÉRÔME FERRARI

ROMAN

AUS DEM FRANZÖSISCHEN ÜBERSETZT VON CHRISTIAN RUZICSKA

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Un dieu un animal«.
© 2009 ACTES SUD, ARLES

Erste Auflage
© 2017 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung:
Christian Ruzicska
Lektorat: Alexander Weidel
Korrektorat: Dr. Peter Natter
www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:
Erik Spiekermann, Berlin
Herstellung:
Renate Stefan, Berlin

eISBN 978-3-906910-03-1

FÜR RYAD GIROD

Kein Fernsein für mich nach Deinem

Fernsein

Seit mir die Gewissheit war, dass nah

Und fern eins sind

Denn selbst in der Verlassenheit begleitet

Mich Die Verlassenheit

Und wie könnte es Verlassenheit geben

Wo doch die Liebe existieren lässt?

Lob sei Dir! Du führst in vollendeter

Reinheit

Einen reinen Verehrer, der sich tief verneigt

Nur für Dich

HUSSEIN IBN MANSŪR AL-HALLĀDSCH

Inhalt

Ein Gott ein Tier

Gewiss, die Dinge enden schlecht, und doch, du wärest fortgegangen und du wärest, sobald die Umarmung der Welt zu drückend geworden wäre, zurückgekehrt zu dir nach Hause. Aber so ist es eben nicht gelaufen, denn die Dinge enden auf ihre rätselhafte und grausame Weise schlecht und lassen sämtliche Illusionen der Hellsichtigkeit an sich zerschellen. Du bist fortgegangen, die Welt hat dich nicht umarmt, und als du zurückkehrtest, da war dies nicht mehr dein Zuhause. Da waren deine Eltern, dein Haus und dein Dorf, und auf wundersame Weise war es nicht mehr dein Zuhause. Deine Mutter küsste dich mit ihrer schweigsamen Liebe, dann auch dein Vater, und du erkanntest ihren Geruch wieder, den Geruch, der deinen Großeltern eigen war, all deinen gesichtslosen Vorfahren, und von dem du so sehr befürchtet hast, er würde eines Tages auch der deine werden, dieser feuchte und süßliche Geruch nach Savon de Marseille, nach Holzkohlenfeuer, nach kaltem Schweiß, nach Eau de Cologne und müdem Fleisch, den selbst die täglichen Duschen und Waschungen mit Rosshaarschwämmen nicht mehr zu mildern imstande waren, und der seit so geraumer Zeit das ganze Haus durchdrang, der Geruch des Alters und des Todes, nach all dem, dessen Würfel bereits gefallen waren. Aber er machte dir keine Angst mehr, da es nicht mehr dein Zuhause war. Und an dem Tag, da deine Stunde schlagen sollte, würde er, nachdem er um dich herumgeschlichen wäre, schließlich von allein erlöschen, denn er würde dich nicht wiedererkannt und niemanden gefunden haben, um das Gesetz seiner Übertragung zu erfüllen. Als deine Mutter dich fragte, wie es dir gehe, und dabei deinen verletzten Arm streichelte, da hast du sanft ihre Hand beiseitegeschoben und konntest sie nach so langer Zeit zum ersten Mal an dich drücken und sie beruhigen und ihr Haar riechen, ohne vor Ekel zu erschaudern, als wäre sie nicht länger deine Mutter, sondern schlicht und einfach eine alte, fremde Frau, die dein Mitgefühl verdiente. Nun gehst du durchs Dorf und erinnerst dich, wie ungeheuer verzweifelt du darüber warst, es sich selbst so ähnlich vorgefunden zu haben, als du das letzte Mal zurückgekehrt warst, und auch jetzt ist es sich selbst noch immer so erstaunlich ähnlich – aber es ist nicht mehr dein Zuhause. Du kommst am Haus von Jean-Do vorbei, und Jean-Dos Vater ist trotz der Kälte auf der Veranda, er raucht, er schaut, über das neblige Tal hinweg, der Sonne zu, wie sie über dem Meer versinkt, und er wendet seinen Kopf nicht zu dir um, du denkst, er habe dich nicht gesehen, und du trittst ganz nah an ihn heran und rufst vorsichtig Monsieur Peretti, Monsieur Peretti, aber er wendet seinen Kopf nicht um, und er sagt, während er starr nach vorn blickt, ich nehme es dir nicht übel, ich wünsche dir nichts Böses, mein Sohn hat stets nach seinem eigenen Kopf gehandelt, das war schon so, als er noch ganz klein war, daran ist niemand schuld, aber nun denke ich doch lieber, dass mit ihm auch du tot bist, das solltest du wissen, und von daher rede ich jetzt zu dir, aber von nun an werde ich nicht mehr mit dir reden und ich will nichts mehr von dir hören und ich will dich nicht mehr sehen. Um seinen Wunsch zu achten, entfernst du dich geräuschlos, wie ein Toter sich entfernen würde, und gehst in der Abenddämmerung weiter deines Weges. Du hörst das Gebimmel eines Glöckchens, das sich nähert, und ein Jagdhund richtet seine großen, furchtsamen Augen auf dich und wedelt mit dem Schwanz und krümmt sein Rückgrat, als er auf dich trifft. Du gehst eine geraume Zeit lang, ohne jemandem zu begegnen. Du setzt dich auf ein Mäuerchen. Es ist Nacht. Du betrachtest die klobigen Häuser, die verschlossenen Fensterläden vor den eisigen Zimmern, die wenigen, in freudlosen Fenstern entzündeten Lichter. Das Gebimmel erklingt wieder schüchtern in der Nacht, und der Hund erscheint ein weiteres Mal. Er umkreist dich einen Moment, während er misstrauisch die Augen zusammenkneift, und dann nähert er sich dir zitternd, aus Angst, geschlagen zu werden. Als du ihn streichelst, stößt er ein spitzes Heulen aus und legt sich vor dir auf den Boden und leckt dir die Hand.

Lang ist es her, entsinne dich, da hattest du dich, als dies noch dein Zuhause war, darüber beschwert, dass das Dorf eine Wüste sei. Aber da hast du dich geirrt. Eine Wüste, das ist es mitnichten. Du weißt, es gab einmal eine Zeit, da die Menschen in die Wüste gingen, um Gott zu suchen. Sie aßen bittere Wurzeln, die sie Durst leiden ließen im Gegenzug für lächerliche Visionen, und sie sprachen vor den Sanddünen und versuchten die Skorpione zu zähmen und weinten aus Einsamkeit, denn kein einziger Dämon war gekommen, sie in Versuchung zu führen, um ihre Liebe und ihren unnützen Glauben auf die Probe zu stellen, und sie fanden Gott nicht, sie fanden nichts als den klaffenden Raum ihrer Seele, und Gott war der klaffende Raum ihrer Seele. Mag sein, ich war einer von ihnen, ich erinnere mich dessen nicht mehr, aber ich weiß, was das ist, eine Wüste, und dies ist es mitnichten, Stille und Langweile genügen nicht. Niemand käme auf diesen Friedhof, um Gott zu suchen. Und eines Tages hast du es begriffen. Du befandest dich, von der Hitze niedergedrückt, verschwitzt unter deiner kugelsicheren Weste, am Eingang der Grünen Zone, am checkpoint, gemeinsam mit Jean-Do und dem Serben, einige Wochen, bevor der Wagen eurer Marter dann explodieren sollte, vielleicht sogar an genau jenem Ort, an dem Ibn Mansūr al-Hallādsch, außer sich vor Liebe an seinem Kreuz, der Hände und Füße beraubt, Gott schließlich gefunden hatte. Aber du interessiertest dich nicht für das einst vergossene Blut der Märtyrer. Du hast auf die Kinder gewartet. Sie kamen seit einigen Tagen, sie schauten euch an, sie feuerten kleine Kiesel auf euch ab und Beleidigungen in arabischer Sprache, die sie auflachen ließen. Am Vortag hattest du dich mit Kaugummi ausgestattet. Als die Kinder kamen, hast du es ihnen gezeigt. Du hast einen Moment lang abgewartet und ihnen dann bedeutet, näherzukommen. Anfangs rührten sie sich nicht, schließlich aber näherte sich einer der beiden. Es war ein kleiner lockenköpfiger Junge, zartgliedrig und voller Anmut, mit klaren Augen. Er war vielleicht acht oder neun Jahre alt. Du hast ihm ein Kaugummi hingehalten, und er hat es in den Mund gesteckt und angefangen zu kauen. Du hast ihn nach seinem Namen gefragt, mehrmals hintereinander wiederholtest du Ismak? Ismak?, und er kaute lachend sein Kaugummi. Du hast ihm ein zweites hingehalten, und dann ein drittes, und dann kam der Mann. Er versetzte dem Jungen eine Ohrfeige und zwang ihn, seinen Mund zu öffnen und das Kaugummi auszuspucken, die beiden anderen warf er auf den Boden. Er zwang das Kind, ihn anzusehen, und er brüllte und gab ihm eine weitere Ohrfeige. Du dachtest, es sei sein Vater, und dass es besser wäre, nichts zu sagen, da zuzusehen, wie du die Verteidigung seines Sohns übernimmst, ihn vielleicht noch stärker hätte erregen können. Jean-Do tat einen Schritt nach vorn, aber du sagtest zu ihm, bleib, wo du ist, halt dein Maul, halt endlich einmal dein beschissenes Maul. Der Mann packte den kleinen Jungen am Kragen und entfernte sich vom checkpoint, wobei er ihn zwang, vor ihm herzugehen, und er stieß ihn, und der kleine Junge machte einen Satz nach vorn und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, und der Mann stieß ihn noch heftiger, der kleine Junge strauchelte und warf seine Arme in die Luft, aber er blieb aufrecht, und der Mann stieß ihn ein letztes Mal, und der kleine Junge fiel flach auf den staubigen Gehweg. Er war so leicht, dass sein Sturz nicht den geringsten Lärm erzeugte. Der Mann sah ihn einen Augenblick lang an, und in diesem Moment, dessen bist du dir sicher, hatte er nicht die geringste Vorstellung von dem, was er im Folgenden tun würde, nicht die geringste, aber er sah die Beine, die über die Bordsteinkante ragten, und es war, als ob du es in seinem eigenen Geiste vorausgeahnt hättest, erinnere dich, als ob du, ohne auch nur etwas dagegen tun zu können, die Zeit gehabt hättest, zu sehen, wie seine Vorstellungen aufkeimten, gediehen und in Handlung umschlugen, noch bevor er sich selbst darüber gewahr wurde, auch nur daran gedacht zu haben, und du wärest bereit zu schwören, dass du deine Waffe bereits auf ihn gerichtet hattest, als er mit einem harten Tritt, in den er sein ganzes Gewicht legte, seinen Absatz auf das kleine Beine niederfahren ließ, und du das Knacken des Knochens hörtest und das Aufschreien des Kindes. Der Mann heftete seine Augen auf dein ausgerichtetes Gewehr und sah dir mit dem schrecklichen Blick der Wahrheit ins Gesicht und hob seinen Absatz ein weiteres Mal in die Höhe und zerschmetterte das andere Bein. Jean-Do schrie, bring mir diesen Dreck um, dieses Arschloch, bring ihn um, und der Serbe schrie, bau keinen Scheiß, schieß nicht, bau keinen Scheiß, und du standest da, starr, in den Bann gezogen vom Blick dieses Mannes, und du wusstest, dass du nicht schießen würdest. Er forderte dich nicht heraus, er hatte keine Angst vor dem Tod, er hatte keine Angst vor dir. Er war so vollkommen erfüllt von Hass und von Liebe, dass in ihm kein Platz mehr war für irgendetwas anderes, und er sah dich an aus einer verlorenen Welt jenseits von Strafe und Urteil, in der dein Wunsch, ihn zu ahnden, ihn niemals hätte erreichen können. Er sah dich nicht lange an, er hockte sich zu dem Kind, als hätte es dich und dein Gewehr niemals gegeben, er streichelte ihm das Haar und schloss es in seine Arme, er drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und brachte es weit von dir weg und flüsterte ihm vielleicht trostvolle Worte ins Ohr.

Am Abend in der Hotelbar sagtest du zu Conti, den du, gleichwohl ihr inzwischen einer Armee ohne Grade und Flagge dientet, noch immer nur als Mon Adjudant ansprechen konntest, eine grauenvolle Niederlage, wir werden uns niedermetzeln lassen, da ist einfach nichts zu machen. Er ließ eine Flasche Whisky bringen und ein einziges Glas, er gab dir zu trinken und sagte, einige denken, sie seien des Geldes wegen hergekommen, andere dürften jeden Tag nach dem Grund forschen, warum sie hier sind, du und ich aber, wir kennen die Wahrheit von Anfang an, wir haben es nicht nötig, uns Schwachsinnigkeiten zu erzählen, wir lügen nicht, wir sind des Krieges wegen hergekommen, der einzig gültige Grund, der Krieg, diese Geschichten von Niederlagen und von Siegen interessieren uns nicht, überlass das den Arabern, überlass das den Amerikanern, du bist mehr wert als das, und du hast zugestimmt, aber du hast dir gesagt, dass er anfängt dich zu nerven mit seiner Naziphilosophie. Du hattest Angst, ihn schließlich aus denselben Gründen zu verachten, die ihn in deinen Augen stets haben bewundernswert erscheinen lassen, und du wusstest nicht, dass du dazu keine Zeit haben solltest. Du hast zugestimmt und du hast nichts gesagt, du hast nicht etwa gesagt, Sie auch, Sie lügen auch, Mon Adjudant, Sie interessieren sich für die Niederlage weitaus mehr als die Araber und die Amerikaner, die Niederlage fasziniert Sie, deshalb lieben Sie den Krieg, und den Sieg finden Sie vulgär, das ist Ihre Art Noblesse, Sie haben stets bedauert, zu spät geboren zu sein, um in Dien Bien Phu mitgemacht haben zu können, oder um sich bei den Thermopylen niedergemetzelt haben zu lassen, oder dass irgendein englischer Haudegen Ihren Ritterhelm mit der Spitze seiner Pike hochgeschoben haben würde und Sie auf dem Schlachtfeld von Azincourt geblutet hätten wie ein Schwein, und jetzt sind Sie glücklich darüber, hier zu sein, Sie sind glücklich, dass die Geschichte Ihnen endlich die Gelegenheit bietet, die Schlappe einzustecken, von der Sie schon immer geträumt haben, du bist still geblieben und hast weiterhin allem zugestimmt, was er von sich gab, bis er dich schließlich mit der Flasche Whisky allein zurückgelassen hat. Bevor die Trunkenheit deine Sehnsüchte verunstalten sollte, schien es dir, als würde dir nichts mehr Freude bereiten, als dieses Dorf wiederzusehen, das du so häufig hattest fliehen wollen. Du wolltest zu deinem Zuhause zurückkehren und etwas finden, das du zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon verloren hattest, und zwar für immer. Und du hast weitergetrunken, und die Dinge wurden plötzlich furchtbar klar, du hast den schwindelerregenden Ausschlag der aufkommenden Niederlage ermessen wie auch deine Machtlosigkeit, und du hast dir gesagt, wenn du ein Geringstes an Mut und Mitgefühl zeigen würdest, dann müsstest du tatsächlich zu dir nach Hause zurückkehren, ohne Lärm zu machen, wenn alle Welt schläft, und eine Kugel in den Nacken deiner Mutter bringen, und eine Kugel in den Nacken deines Vaters, und von Haus zu Haus ziehen, und dich bewaffnen mit Mut und mit Liebe, um die Alten zu töten, und in ihren Wiegen die Säuglinge zu erwürgen, und deren Eltern in der molligen Wärme des ehelichen Bettes, und sämtliche Kinder, eines um das andere, und um die schlagenden Herzen der jungen Mädchen mit ihren dümmlichen Träumen zu durchbohren. Und du konntest dir dich selbst vorstellen, aufrecht stehend, Prophet und Erlöser, die Arme weit ausgestreckt in die Nacht hinein, blutüberströmt inmitten der Häuser, die du zu Särgen verwandelt hast, in Erwartung der Sonne, dass sie dein Werk bestrahle und strahle, um dir zu danken dafür, dass du deinem Dorf endlich ermöglicht hast, seine Bestimmung als Friedhof zu erfüllen. Aber du besitzt weder Mut mehr noch Mitgefühl. Du hast die Welt dem Kummer ihres langsamen Todes überlassen. Die Sonne strahlt nicht, und du bist allein in der Winternacht auf diesem Friedhof, den du lange Zeit für eine Wüste gehalten hast, mit einem Hund zu deinen Füßen, der dir folgt, wenn du dich erhebst, um heimzugehen zum Schlafen.