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Von der Universität zur university

George Turner

Von der Universität zur university

Sackgassen und Umwege
der Hochschulpolitik seit 1945

2., überarbeitete Auflage

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BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

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ISBN 978-3-8305-2156-3
eISBN 978-3-8305-2974-3

Umschlagabbildung: Modifikation des Fotos „Saar-Hunsrück-Steig Wegweiser“
von Karin Hünerfauth-Brixius (www.wanderwunder.info)

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Einleitung: Bildung und Ausbildung

Innerhalb von 60 Jahren ist die Zahl der Studierenden von 300.000 auf 2,8 Millionen angestiegen. Die Gründe liegen im Ausbau – zunächst – der Gymnasien und anschließend der Hochschulen. Möglichst viele sollen teilhaben an „Bildung“.

Wenn im politischen Raum von Bildung gesprochen wird, ist regelmäßig „Ausbildung“ gemeint. So wäre es denn zutreffender, die zuständigen Einrichtungen nicht Bildungsministerien, sondern Ausbildungsministerien zu nennen.

Ausbildung ist das Einüben von Kompetenzen, der Erwerb von Fertigkeiten. Die Reduzierung des Begriffs „Bildung“ auf Ausbildung kann bei den Betroffenen zu einem Steckenbleiben in unverarbeitetem Wissen führen. Zur Umsetzung des reinen Faktenwissens in einen Vorgang geistiger Formung kommt es oft gar nicht. Davon, dass Bildung „der Erwerb eines Systems moralisch erwünschter Einstellungen durch die Vermittlung und Aneignung von Wissen derart ist, dass Menschen im Bezugssystem ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Welt wählend, wertend und stellungnehmend ihren Standort definieren, Persönlichkeitsprofil bekommen und Lebens- und Handlungsorientierung gewinnen“ (Kössler, Bildung und Identität, S. 56), haben manche sog. Bildungspolitiker womöglich noch nicht einmal etwas vernommen. Reden darüber hört man sie jedenfalls nicht. Der Begriff Bildungskatastrophe bekommt damit eine neue Bedeutung.

Die Hochschulen sollen beides bewerkstelligen – Bildung vermitteln und Ausbildung betreiben. Dabei befinden sie sich in einer Phase der Neuordnung. Die Einteilung in Universitäten, Fachhochschulen, Kunst- und Musikhochschulen sowie Kirchliche Hochschulen vermittelt nur eine erste Orientierung. Immer deutlicher sind vor allem bei Universitäten und Fachhochschulen einerseits Angleichungen und andererseits Separationsbemühungen auszumachen, die es zunehmend erschweren, die Aufgaben der verschiedenen Hochschularten zu erkennen.

Die Vielfalt und Vielfältigkeit mögen die begrüßen, die meinen, darin liege die Chance von Innovation und Kreativität. Andere nehmen in erster Linie Unübersichtlichkeit und Verwirrung wahr. Jedenfalls verschwimmen die klaren Strukturen eines höheren Bildungssystems immer mehr. Das erschwert die Orientierung und lässt bei der Selbstdarstellung Raum für manche phantasievollen Bezeichnungen. Man muss also genau hinschauen, um festzustellen, was sich hinter einem Etikett verbirgt. Das gilt für Studierwillige, die auf falsche Fährten gelockt werden können, aber auch für Arbeitgeber, denen die Bezeichnung eines Abschlusses nicht ohne weiteres sagt, welche Qualifikation damit bescheinigt wird.

Verständlich werden die aktuelle Situation und die wahrscheinliche Entwicklung nur, wenn man sich den Hintergrund verdeutlicht – die Geschichte des Hochschulwesens seit Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 – von der Universität zur university.

Inhalt

Einleitung: Bildung und Ausbildung

I. Die Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Humboldtsche Idee

Weitere Entwicklung

II. Die Universitäten in den 1950er Jahren

Prägung unterschiedlicher Studentengenerationen

Die typische Universität

III. Hochschulreformen

1. Anstöße

Bildungsnotstand

Zunehmendes Bildungsinteresse

2. „1968“

Die APO

„Anti“

Universitäten als Einfalltor für Veränderungen

Exzesse

Wirkungen

„68“ und die Hochschulreform

Resultate und Folgen

3. Quantitative Veränderungen

Fehleinschätzungen

Eingliederung der DDR

Die Pakte

4. Organisationsreform

a) Die Gruppenuniversität

Flankierende Maßnahmen
Grenzen der Mitwirkung

b) Rahmenkompetenz des Bundes

Hohe Zeit der Hochschulpolitik
Parteipolitische Kontroversen
Universitäten am Abgrund
Entdeckung der Realität

5. Wechselbäder der Bildungspolitik

a) Zentrifugale Kräfte

Themenschwerpunkte
Gestaltungsvielfalt

b) Deregulierung und Föderalismus

„ … in die Freiheit entlassen“
Verwirrende Unübersichtlichkeit
Überzogene Vorhaben
Länder in der Pflicht

c) Leitungsstruktur

Rektor oder Präsident
Hochschulräte

d) Ranking

Kriterien
Gewichtung
Shanghai-Ranking
Status quo

e) Fachhochschulen und Berufsakademien

„Assistenten“-Hochschulen?
Berufsakademien = Rolle rückwärts

f) Private Hochschulen als Vorbild?

g) Verfasste Studierendenschaft

h) Studiengebühren

i) Weitere Beispiele

IV. Suche nach dem Zukunftsmodell der Universität

1. Kriterien

2. Der Bologna-Prozess

Grundsätze

Adressaten

Interessenvertreter als Bremser

Fächerdiversifikation

Rektorenkonferenz auf Schlingerkurs

3. Exzellenzinitiative

a) Auswahlverfahren

Die Sieger der 1. Runde
Blankoscheck
Ländergefälle
„Elite“ ist mehr
Die 2. Runde
Exzellenzfreie Zonen der Planwirtschaft
Breites Spektrum neben „Exzellenz“
Hinkende Vergleiche

b) „Nebenwirkungen“

Ausdruck des Unbehagens
„Trittbrettfahrer“
Das böse Erwachen

c) Der „Rest“

d) Umwege

Sortierung
Wie geht es weiter?
Imboden-Kommission
Das sich abzeichnendes Bild
Die Entscheidung
Verdeckte Absicht der Exzellenzinitiative
Versuch der Fehlerbereinigung
Konsequente Fehlerfortführung
Rückschau als Erkenntnisquelle

V. Ausblick: die Zeit nach 2019

Universität der Zukunft?

Vorstellung und Wirklichkeit

Unterschiede einerseits, Einebnungen andererseits

Promotionsrecht als Prüfstein

Corporate identity?

Reformen als Dauerthema

Anfälligkeit der Hochschulpolitik(er) für Reformen

Schlussbetrachtung: Bildungsrepublik Deutschland

Schrifttum

I. Die Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg

Bereits im Herbst 1945 wurden an einigen Universitäten wieder Lehrveranstaltungen durchgeführt. Das Bild wurde bestimmt durch die zurückgekehrten Kriegsteilnehmer, die Flüchtlinge aus dem Osten und die allgemeine schlechte materielle Lage mit dem Existenzkampf zum Überleben. Die Studentenzahlen an den Universitäten in den drei westlichen Besatzungszonen überstiegen schon 1948 die Zahlen in der Weimarer Republik. Die Ausrichtung der Universitäten folgte Vorstellungen der Zeit vor dem Nationalsozialismus und knüpfte bewusst an die klassische Universität an. Da viele der jüngeren Professoren als politisch belastet entlassen wurden1, hielten vor allem ältere Kollegen den Betrieb aufrecht, viele bereits vor 1933 tätig, von denen manche aus politischen oder rassischen Gründen zwischenzeitlich aus dem Hochschuldienst entfernt worden waren2. Sie orientierten sich an ihren Erfahrungen aus jener Zeit und an den Prinzipien der Humboldtschen Idee der Universität3. Stimmen, dass diese Ausrichtung zu eng sei, gab es bereits zu Beginn. So äußerte sich Karl Jaspers in seinem berühmt gewordenen Vortrag „Erneuerung der Universität“ schon im August 1945 in Heidelberg, dass es um nichts weniger gehen müsse als um eine „Erneuerung“, einen Neubeginn, der kein „einfaches Anknüpfen an den Zustand vor 1933 sein“ könne4.

Die Humboldtsche Idee

Die Neugründung der Universität Berlin im Jahr 1812 war Ausdruck preußisch-protestantischer Kritik an einem mehr oder minder schulmäßigen Lehrund Lernbetrieb im Zeitalter der Aufklärung. Sie wurde das prägende Vorbild für alle deutschen Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert. Die Idee der Universität bedeutet den Übergang von der doctrina zur Forschung oder, wie Wilhelm v. Humboldt es selber definiert hat: den Übergang zur „Wissenschaft, die noch nicht ganz gefunden ist“. Als mit der Universität zutiefst verbunden wurde begriffen: „an Forschung teilzunehmen“. Das aber war nicht gleichgesetzt mit der Vorbereitung für einen Beruf, in dem Wissenschaft zur Anwendung gelangte, sondern meinte allgemein „Bildung“5. Grundwerte dieser Universitätsidee waren die Freiheit der Studiengestaltung und die „Einsamkeit der forschenden Arbeit“. Es galt als selbstverständlich, diese Werte als Vorbildung für Berufe fruchtbar zu machen, aber nicht in der Weise, dass die Universität ausgerichtet sein sollte als „Berufsschule“, die nur den Fachmann hervorbringt. Ausbildung für Berufe hat fraglos auch die klassische Universität betrieben. Doch galt ihr dies nur als Teilaspekt, im Extremfall als Nebenprodukt der eigentlichen wissenschaftlichen Bemühungen6.

Repräsentanten der Universitäten betonten bis in die 1960er Jahre und gelegentlich auch noch später, dass Wissenschaft ihren Zweck allein in sich selbst trage, insbesondere in Gestalt der nur der reinen Erkenntnissuche verpflichteten Grundlagenforschung. Soweit dies Reaktionen auf die ideologische und machtpolitische Indienstnahme der Wissenschaft während des „Dritten Reichs“ von 1933 bis 1945 und auf die Entwicklung in der DDR waren, erschien dies verständlich7.

Weitere Entwicklung

Die Humboldtsche Universität wurde zunächst von der bürgerlichen Elite wahrgenommen. Während der Zeit der Weimarer Republik stand grundsätzlich allen Teilen der Bevölkerung der Zugang zur Universität offen. Ein akademischer Abschluss und ein darauf aufbauender Beruf konnten damit das Ziel aller sein, die sich nach ihren Fähigkeiten ein Studium zutrauten – abgesehen von den finanziellen Möglichkeiten.

Während im sowjetischen Einflussgebiet Deutschlands das Bildungswesen dem „Aufbau des Sozialismus dienen“ sollte und bis zum Ende der DDR im Sinn des Klassenkampfes instrumentalisiert und zentral organisiert war, begannen die Deutschen in der Bundesrepublik, eine ihnen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus vertraute Gesellschaft und deren Institutionen in ihren wesentlichen Zügen wieder aufzubauen. Das Herkömmliche hatte seine Chance8. Die Jugendlichen der 50er Jahre zeichnete eine Absage an die Romantik und eine Pseudo-Erwachsenheit aus9. Für die spätere Entwicklung ist von Bedeutung, dass den Ländern für zwei Jahrzehnte in „Wiederaufnahme föderalistischer Traditionen“10 die Zuständigkeit für das Bildungswesen allein übertragen wurde. Der Bund erhielt erst 1969 begrenzte Kompetenzen, zu einer Zeit, als die öffentliche Debatte um die Universitäten längst eingesetzt hatte. 37 Jahre später, im Jahr 2006, sind im Zuge der sog. Föderalismusreform die Befugnisse der Länder wieder gestärkt und der Bund fast völlig aus der Zuständigkeit für die Hochschulen entlassen worden. Inzwischen gibt es keinen Zweifel, dass dies nicht der richtige Weg war11.

1 Ritter, Über Deutschland, S. 35.

2 Thieme, Deutsches Hochschulrecht, S. 19.

3 Jarausch, Das Humboldt-Syndrom, S. 61.

4 Jaspers, Erneuerung der Universität.

5 Gadamer, Die Idee der Universität, S. 2 f.

6 Schluchter, Auf der Suche nach der verlorenen Einheit, S. 257, 265. Der von Bernd Henningsen im Jahr 2007 herausgegebene Sammelband „Humboldts Zukunft“ enthält Darstellungen zur Idee der Humboldtschen Universität und ihrer Bedeutung in Gegenwart und Zukunft.

7 Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945, S. 14 ff.

8 Ellwein, Die deutsche Universität vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 239.

9 Jarausch, Deutsche Studenten 1800 –1970, S. 223.

10 Führ, S. 2.

11 S. u. S. 47 f.

II. Die Universitäten in den 1950er Jahren

Die deutschen Universitäten galten als Muster und Beispiel für ihre hervorragenden akademischen Leistungen, ihre Autonomie, trotz der Finanzierung durch den Staat, ihren elitären Charakter und die herausragende Position und Macht der auf Lebenszeit berufenen Professoren, der Ordinarien. Zusammenfassend beschreibt Hans-Peter Schwarz die Situation12: „Jede Disziplin bewegte sich in die Nachkriegswelt in der Mitte des letzten Jahrhunderts mit jener Vielfalt der Ansätze, Methoden, Doktrinen hinein, die sich weitgehend in der Zeit vor dem „Dritten Reich“ gebildet hatten. Neben der Vielfalt in den Fächern wirkte im Umkreis der einzelnen Lehrstühle das durchaus noch erfolgreiche Bestreben der Ordinarien, ihre Studenten im Sinn der wissenschaftlichen Auffassungen zu prägen, die sie für die allein angemessenen hielten. Tatsächlich gelang es ihnen vielfach, durch ihre Vorlesungen, Seminare und Veröffentlichungen jene Studenten nachhaltig zu beeinflussen, die sich auf das Studium bei ihnen einließen oder einlassen mussten. Die Strenge war meist größer als die Liberalität; aber es gab beides. Vielen war schon damals bewusst, dass die Institutionen und die geistigen Grundlagen der deutschen Universität auf schwankendem Boden standen.“

Prägung unterschiedlicher Studentengenerationen

In jener Zeit sind noch einmal drei Generationen im Geist der alten deutschen Universität geformt worden: Einmal die Studierenden der ersten Nachkriegsgeneration. Sie hatten am Krieg teilgenommen oder den Krieg unmittelbar miterlebt, ebenso wie den Zusammenbruch der Weltanschauung, in der sie erzogen worden waren. Teilweise befanden sie sich bereits weit in den Zwanzigern, zeigten eine bemerkenswerte geistige Aufgeschlossenheit, einen ausgesprochenen Gestaltungswillen und strebten nach schneller beruflicher Sicherung. Nachdem diese Studentengeneration die Universitäten verlassen hatte, folgten diejenigen, die zwar unter der nationalsozialistischen Herrschaft aufgewachsen waren, ihre Hochschulreife aber erst später erworben hatten. Sie suchten nach neuer Orientierung. Schließlich kam die darauf folgende Generation an die Hochschulen, noch Kinder in der Nachkriegszeit und während des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Sie sahen das Studium vor allem als Basis für die spätere berufliche Tätigkeit13.

Die Ausbildung in den überkommenen Formen war allerdings nur deshalb möglich, weil die Zahl der Studenten überschaubar blieb, wenngleich sich auch zu jener Zeit das Massenphänomen bereits abzeichnete. Überfüllte Hörsäle und ein zu geringer Bücherbestand in den Bibliotheken wurden als wesentliche Beeinträchtigungen beim Studium empfunden.

Die typische Universität

Die durchschnittliche deutsche Universität oder Technische Hochschule in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre hatte zwischen 4.000 und 6.000 Studenten. München, die größte Universität, zählte rund 11.000 Studierende, klassische Universitäten wie Tübingen, Marburg oder Göttingen etwa 5.000. Der Anteil weiblicher Studierender betrug 25 %, wobei es Unterschiede zwischen den Fächern gab. An den höheren Schulen machten 1950 nur rund 3 Prozent eines Jahrgangs das Abitur. Die Bildungsinhalte an den Schulen in den Bundesländern waren im Wesentlichen dieselben. Auch in diesem Bereich war es der letzte Zeitabschnitt, in dem ein einigermaßen homogenes Wissen nach weitgehend einheitlichen Lehrplänen von annähernd gleichwertig ausgebildeten Lehrern vermittelt wurde. Die vergleichsweise breite Allgemeinbildung, mit der die Studenten zum Studium kamen, hatte immerhin noch ein gewisses Interesse an einem studium generale zur Folge. Geistig rege Studenten haben sich damals oft nicht auf ein reines Fachstudium beschränkt. Manche orientierten sich eine Zeitlang an jenen Professoren, die über ihre Disziplin hinaus wirkten und von denen es an den meisten Universitäten einige gab14.

Die überschaubaren Größenordnungen an den Universitäten in den frühen und mittleren fünfziger Jahren ermöglichten ein lebendiges interdisziplinäres Gespräch, gekennzeichnet durch intensive Bemühungen um die Klärung von Grundsatzfragen und eine überall noch ziemlich stark traditionelle Ausrichtung. Kaum eine Spur von Traditionsbruch war festzustellen, allerdings Merkmale von institutioneller Schwerfälligkeit. Eine Diskussion etwa um die Stellung der Universität und ihrer Mitglieder in der Gesellschaft nach 1933 fand nicht statt15. Die Professoren blieben bei solchen Themen „zugeknöpft“; allenfalls wurde auf abgeschlossene Entnazifizierungsverfahren verwiesen. Es blieb späteren Studentengenerationen überlassen, danach zu fragen, wie einzelne sich während der Zeit des Nationalsozialismus verhalten haben, gepaart mit Unverständnis darüber, warum nicht schon früher Antworten eingefordert worden seien. Treffend schreibt Hartmut Boockmann16: „Die Kinder derer, die nach 1945, ernüchtert und erleichtert angesichts des zu Ende gehenden Schreckens, in den Hörsälen saßen, sollten 25 Jahre später ihren Eltern vorwerfen, damals nicht erst jahrelang Grundsatzdebatten geführt zu haben, bevor sie sich ans Studium und an die Erarbeitung jener komfortablen Lebensumstände machten, unter denen sie, die Kinder, nun litten.“

Ohne dass es den Professoren und Studenten jener Jahre bewusst war, erlebten sie damals die „Abendröte der alten deutschen Universität“17.

12 Schwarz, Die Ära Adenauer 1949 –57, Bd. 2, S. 417 f.

13 Kleifeld, Wende zum Geist, S. 59.

14 Schwarz, S. 418 f.

15 Jarausch, Das Humboldt-Syndrom, S. 63.

16 Göttingen – Vergangenheit und Gegenwart einer europäischen Universität, S. 64.

17 So Schwarz, S. 420.

III. Hochschulreformen

Die allgemeine Entwicklung der Hochschulen in der (alten) Bundesrepublik lässt sich in folgenden Etappen beschreiben:

vom Kriegsende bis Mitte der 60er Jahre (Restaurierung der Ordinarien-Universität)

Mitte der 60er bis Anfang der 70er Jahre (politische Mobilisierung, Studentenrevolte)

ab Anfang der 70er Jahre (Verrechtlichung, Bürokratisierung, Verschulung, Differenzierung der Hochschultypen, permanente Reformen)

Nach der Wiedervereinigung und Ablösung des DDR-Systems

in den 1990ern Trendwende (Ökonomisierung, Wettbewerb)

seit Beginn des neuen Jahrhunderts Bologna-Prozess (Studienstrukturreform) und Exzellenzwettbewerb (Eliteförderung in der Forschung).

1. Anstöße

„Das Mandarinentum der deutschen Ordinarien“18 ging mit den fünfziger Jahren zu Ende. Vereinzelt schon Ausgang jenes Jahrzehnts, vor allem aber am Anfang der sechziger Jahre wurden in der Bundesrepublik kritische Stimmen laut, welche auf gewisse Unzulänglichkeiten, unter anderem bei den Lehrmethoden und auf die überholte Verfassung der Universitäten hinwiesen. Beobachtern der Entwicklung war schon damals bewusst, dass eine Entscheidung zu fällen war, ob in Zukunft die vorhandenen Universitäten und Technischen Hochschulen ausgebaut oder neue Einrichtungen gegründet werden sollten.

Bildungsnotstand

Allgemein bekannt geworden ist der Warnruf des Pädagogen Georg Picht19 aus dem Jahr 1964 vom „Bildungsnotstand“, der dies mit wirtschaftlichem Notstand gleichsetzte. Picht prophezeite ein rasches Ende des eingetretenen wirtschaftlichen Aufschwungs, wenn qualifizierte Nachwuchskräfte fehlten, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem etwas leisten könne. Die Zahl der Abiturienten sei das geistige Potential eines Volkes. Von diesem geistigen Potential seien in der modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialprodukts und die politische Stellung abhängig. Aus dem im Vergleich zu anderen Industrienationen geringeren Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik leiteten neben Picht auch weitere Kritiker eine nachrangige, unterwertige Rolle der Bildung auf der nationalen Prioritätenliste ab. Den quantitativen Mangel sah man darin, dass es eine zu geringe Bildungsbeteiligung20, zu wenige Abiturienten, zu wenige Lehrer und überfüllte Hochschulen gebe. Als qualitativ unzureichend galten das „veraltete“ Bildungssystem, worunter die innere Verfassung der Hochschulen verstanden wurde, überlange Studienzeiten und die unterschiedlichen Chancen infolge der sozialen Herkunft21 beim Zugang zu einer höheren Ausbildung22.

Zunehmendes Bildungsinteresse

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