Dr. Laurin 101 – Wie ein Lied in meinem Herzen

Dr. Laurin –101–

Wie ein Lied in meinem Herzen

Roman von Patricia Vandenberg

»Sieh nur!« Antonia Laurin zog ihren Mann ans Fenster und deutete hinaus. »Konstantin und Kaja haben für mich eingekauft.«

Dr. Leon Laurin beobachtete die Zwillinge, die mit Plastiktüten beladen auf das Haus zukamen. Der Arzt legte den Arm um die Schultern seiner Frau und sagte lakonisch: »Und wie immer sind sie geteilter Meinung.«

Gleich darauf flog die Tür auf, und Kaja rief vorwurfsvoll: »Du hättest ja Papiertüten verlangen können. Außerdem sind sie billiger!«

»Warum denn immer ich?«, maulte Konstantin. »Du hast ja eingekauft. Ich durfte es nur nach Hause tragen. Außerdem wollte ich dir mit meinen Worten klarmachen, dass Papiertüten umweltfreundlicher sind als dieses Plastikzeug.«

Die Zwillinge begrüßten ihre Eltern mit einem lässigen »Hallo«, und Kaja begann sofort, sich über ihren Bruder zu beschweren.

»Den ganzen Weg über motzt er schon. Bloß wegen der paar albernen Tüten.«

»Ist doch auch wahr!«, wehrte sich Konstantin. »Jeder redet von Umweltschutz, und dann verlangt sie das Zeug hier.« Damit warf er einen abfälligen Blick auf die Tüten.

»Was würdet ihr davon halten, wenn ihr in Zukunft eine der Einkaufstaschen nehmen würdet, die in der Küche stehen?«, fragte Antonia Laurin.

»Die haben wir vergessen«, antworteten die Zwillinge wie aus einem Mund und brachten die Lebensmittel in die Küche.

»Na, wenigstens sind sie sich in diesem Punkt einig«, lachte Leon Laurin. »Eigentlich wollte ich dir gerade erzählen …«

»Was ist denn das?« Konstantin war zurückgekommen und hob lauschend den Kopf.

Hinter ihm tauchte nun auch Kaja auf. »Kyra übt«, stellte sie fest.

»Freiwillig?« Konstantin schaute seine Eltern überrascht an.

Auch Antonia und Leon Laurin hörten das Klavierspiel, das aus dem Obergeschoss kam und das von der zarten Stimme ihrer jüngsten Tochter begleitet wurde.

»Warum sollte sie nicht freiwillig üben?«, fragte Leon Laurin. »Schließlich war sie es, die Klavierunterricht haben wollte.«

»Seit wann singt man zu Sonaten?«, wollte Konstantin wissen.

Bevor die Eltern etwas erwidern konnten, brachen Gesang und Klavierspiel ab. Man hörte lautes Klatschen, dann Kyras empörte Stimme. Gleich darauf schlug eine Tür, und die Kleine kam mit hochrotem Kopf zu ihren Eltern ins Wohnzimmer gelaufen.

»Kevin soll gefälligst in seinem Zimmer bleiben, wenn ich übe!«, rief sie empört aus. »Es geht ihn überhaupt nichts an, ob ich dazu singe oder nicht.«

»Das hört er aber auch in seinem Zimmer«, gab Konstantin zu bedenken. »Wieso willst du ihn eigentlich um diesen Genuss bringen?« Er beugte sich zu seiner kleinen Schwester hinunter und frotzelte: »Du bist also entschlossen, Sängerin zu werden?«

»Lass die Kleine doch in Ruhe!«, rief Kaja, worauf sich Kyra zu ihr umdrehte und rief: »Ich bin gar nicht mehr so klein! Saskia Neumann ist so alt wie ich und hat sogar schon einmal vorsingen dürfen.«

In diesem Augenblick erscholl von der Tür her ein recht flegelhaftes Lachen, und Kyra stürzte sich mit geballten Fäusten auf ihren älteren Bruder Kevin, der ihre Arme in der Luft auf­fing und sich dann mit ihr herumbalgte.

»Ich habe unsere kleine Diva gestört, und jetzt ist sie sauer«, sagte er. »Dabei habe ich sogar applaudiert.«

»Ich glaube, es reicht jetzt.« Leon Laurin nahm Kyra tröstend in die Arme.

»Kevin soll nur nicht denken, dass er mich auslachen kann!«, rief die Kleine leidenschaftlich. »Er darf sich nicht alles erlauben, nur, weil er zwei Jahre älter ist als ich.«

»Aber wir wollten Kyra doch bloß ein bisschen hochnehmen«, sagte Kaja entschuldigend.

»Ist ja schon gut.« Antonia Laurin legte versöhnlich den Arm um ihre Große. »Es gefällt uns nur nicht, wenn ihr euch immer die Kleinste dazu aussucht. Was ist schon dabei, wenn sich Kyra an der kleinen Saskia Neumann ein Vorbild nimmt?«

»Ich habe dir vorhin übrigens auch zugehört.« Leon Laurin streichelte zärtlich über die Wange seiner Tochter. »Und ich muss sagen, dass es mir gefallen hat.«

»Aber die anderen haben mich ausgelacht«, beharrte Kyra schmollend.

»Hast du nicht gehört, was Kaja sagte?«, fragte ihre Mutter. »Sie wollten dich ja nur hochnehmen. Ich meine jedenfalls, du solltest weiterüben und auch dazu singen, wenn dir danach zumute ist.«

Leon Laurin fuhr Kevin durch das wirre Haar. Dann wandte er sich wieder an seine Frau. »Eigentlich hatte ich vor, dir schon vor einer halben Stunde von Saskia Neumann zu erzählen.«

»Die kleine Sängerin?« Kyra fuhr wie elektrisiert auf. »Hast du sie seit dem Liederabend wieder einmal gesehen?«

»Ja. Heute wurde sie zu uns in die Klinik gebracht«, antwortete ihr Vater und schaute seine Frau an. »Appendizitis.«

»Akut?«, fragte Antonia Laurin besorgt.

»Ich fürchte, ja. Wir werden schon bald operieren müssen.«

»Hat sie schon mal gesungen?«, fragte Kyra.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Kevin. »Wenn sie Schmerzen hat, wird ihr das Singen vergangen sein.«

»Aber wenn Vati sie behandelt, kann er ihr doch eine Spritze geben«, gab Kyra mit kindlicher Logik zu bedenken. »Dann hat sie keine Schmerzen mehr.«

»So einfach ist das nicht«, antwortete Dr. Laurin seiner Jüngsten ernsthaft. »Außerdem sind ihre Eltern gerade auf Reisen. Ausgerechnet jetzt, wo das Kind sie dringend bräuchte«, fügte er gedankenvoll hinzu. »Saskia lebt während der Abwesenheit ihrer Eltern bei Bekannten – und nun ist das passiert.«

»Wenn ich irgendwie helfen kann«, Antonia schaute ihren Mann fragend an. »Ich meine, wenn sie so gar niemanden hat, der sich um sie kümmert, bin ich gern bereit, sie zu besuchen.«

»Das ist lieb von dir.« Dr. Laurin warf seiner Frau einen dankbaren Blick zu. »Aber das wird nicht nötig sein. Du kennst doch Schwester Marie. Sie arbeitet zwar normalerweise auf der Frauenstation, aber seit Saskia bei uns ist, hält sie sich oft in der Pädiatrie auf. Und die anderen Schwes­tern bemühen sich auch ganz besonders um das Kind.«

»Müsste man nicht die Eltern benachrichtigen?«, fragte Antonia.

»Das haben wir bereits getan.« Leon Laurin zuckte die Schultern. »Wir haben sie zwar nicht persönlich erreicht, aber ich hoffe, dass man ihnen unsere Nachricht überbringen wird. Mach dir keine Gedanken.« Liebevoll schaute er seine Frau an. »Saskia ist bei uns gut aufgehoben.«

»Das weiß ich, Leon.«

»Können Mami und ich sie vielleicht später mal besuchen?«, fragte Kyra. »Ich meine, wenn sie ihren Blinddarm heraus hat.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden.« Dr. Laurin schaute auf die Uhr. »Ich werde noch einmal in die Klinik fahren.« Fragend schaute er seine Tochter an. »Soll ich Saskia etwas von dir ausrichten?«

»Ja. Sag’ ihr, dass wir alle bei ihrem Liederabend waren, und dass sie wunderschön gesungen hat. Vielleicht werde ich jetzt auch Sängerin.« Erwartungsvoll schaute sie von einem zum anderen, und während ihr Vater sich erhob, ohne etwas zu erwidern, meinte Antonia Laurin ernsthaft: »Warum nicht? Aber ich möchte dich nur daran erinnern, dass du letzte Woche noch Lehrerin werden wolltest …«

*

Schwester Marie wies der neuen Patientin ein Bett zu. »Haben Sie noch einen Wunsch?«, fragte sie und sah zur Uhr. »Ich möchte nämlich nur kurz zur Pädiatrie hinüber.

»Nein, danke. Ich richte mir schon alles ein.« Eliette Padburg lächelte der freundlichen Schwester zu. »Außerdem habe ich mir genügend Lesestoff mitgebracht. Vielleicht werde ich auch noch einen Spaziergang durch die Klinik machen. Schließlich muss ich ja nicht im Bett bleiben.«

»Noch nicht«, verbesserte Schwes­ter Marie sie. »Nach Ihrer Operation sieht das allerdings anders aus.«

»Ich wünschte, sie wäre schon vorüber«, seufzte Eliette.

»Aber, Frau Padburg! Die Entfernung eines Myoms ist heutzutage für die Chirurgie Routine. Außerdem ist ein Myom eine gutartige Geschwulst, und für unseren Chef ist die Operation eine Kleinigkeit. Ungefähr wie eine Blinddarmoperation.« Aufmunternd lächelte sie der jungen Frau zu. Dann wandte sie sich um. »Bis später dann. Wenn etwas sein sollte, dann wenden Sie sich an Schwester Monika.«

Eliette Padburg räumte ihre Sachen in den Schrank und ging nachdenklich in dem kleinen Krankenzimmer auf und ab. Sie dachte an ihre Arbeit in einem Rechtsanwaltsbüro und an ihre Freundin Ruth, die sie beschworen hatte, nach der Erkennung des Myoms gleich in die Klinik zu gehen und die Sache nicht anstehen zu lassen.

Nachdenklich blieb die junge Frau am Fenster stehen und beobachtete den Sonnenuntergang. Eigentlich hatte sie in diesem Jahr ja nach Spanien fahren wollen. Aber wozu? Um allein am Strand zu liegen? Um abends allein essen zu gehen oder beim Tanzen männliche Blicke oder Berührungen zu fühlen, die sie kalt ließen?

Eliette seufzte. Seit sie die Liebe ihres Lebens geopfert hatte, wollte sie nichts mehr von Männern wissen. Das war jetzt zehn Jahre her. Sie hatte seither zwar einige Männer kennengelernt, doch die Beziehungen waren jedes Mal nur flüchtig gewesen, weil sie sie immer wieder abgebrochen hatte, noch ehe sie richtig begannen.

Entschlossen nahm sie eine Zeitschrift und blätterte darin. Dann legte sie sie wieder zur Seite und warf ihren Morgenmantel über. Plötzlich fiel ihr ein, dass Schwester Marie etwas von einer Kinderabteilung gesagt hatte. Entschlossen verließ sie ihr Zimmer.

Als ihr Schwester Monika begegnete, die sich ihr vorhin bereits vorgestellt hatte, fragte Eliette: »Spricht etwas dagegen, wenn ich mich ein biss­chen umsehe?«

»Aber nein. Nur sollten Sie zum Fieber messen wieder hier sein.« Ein freundliches Lächeln, dann ging Eliette den Krankenhausflur entlang und stieß die Tür mit dem Schild »Pädiatrie« auf. Rechterhand lag die Säuglingsstation, die sie sehr interessierte. Als sie neugierig hineinsah, entdeckte sie zwei Reihen mit kleinen Bettchen, in denen die Neugeborenen lagen. Ganz andächtig schaute sie in die rosigen Gesichter, sah, wie sich die Händ­chen zu Fäusten ballten, kleine Münder nach der Nahrungsquelle suchten und heftig protestierten, als sie sie nicht fanden.

Eliette glaubte plötzlich, die Zeit würde sich zurückdrehen. Sie meinte, so ein kleines Wesen in ihren Armen zu halten, es zu wiegen und dennoch zu wissen, dass es keine glückliche Zukunft geben konnte. Sie merkte gar nicht, wie ihr die Tränen über die Wangen rollten.

Erst als sie eine Bewegung neben sich wahrnahm, schien sie wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Ein kleines Mädchen stand neben ihr und schaute sie forschend an.

»Ob ich auch mal so klein war?«

Endlich fand Eliette ihre Sprache wieder. »Ganz bestimmt.« Sie lächelte der Kleinen zu und schaute in ein Paar blaue Kinderaugen, die sie ernsthaft anblickten. »Wie heißt du denn?«, fragte sie.

»Saskia«, antwortete das Kind, und seine Stimme klang ziemlich bedrückt, als es fortfuhr: »Morgen soll ich operiert werden. Dabei habe ich kaum noch Schmerzen.« Hoffnungsvoll schaute Saskia die junge Frau an und fragte: »Glaubst du, dass mir der Doktor trotzdem den Blinddarm herausnimmt?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Eliette. »Das kann nur ein Arzt entscheiden.« Sie warf noch einen letzten Blick auf die Babys und ging dann neben Saskia her.

»Dort ist mein Zimmer.« Das Mädchen deutete auf eine der Türen und sagte: »Ich habe eine Puppe, die sieht genauso aus wie die Babys. Meine Mami hat sie mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt. Willst du sie sehen?«

Eliette nickte zustimmend und sah nachdenklich auf das Kind nieder. Sie überlegte, warum die Kleine ihr so bekannt und vertraut vorkam.

Als sie das Zimmer betraten, rief sie spontan: »Hast du aber viele Spielsachen!« Sie beugte sich zu einem Teddybären hinunter, der ziemlich groß war und auf dem Stuhl saß. Dann zeigte ihr Saskia stolz ihre Babypuppe. Ihre Augen leuchteten, als sie sich vergewisserte:

»Sie sieht doch aus wie ein richtiges Baby, oder? Willst du sie einmal nehmen?« Aufmerksam besann sie sich und verbesserte sich schnell: »Ich meine, wollen Sie …«

»Du kannst ruhig ›Du‹ zu mir sagen«, unterbrach Eliette sie und nannte ihren Namen.

Saskia strahlte sie daraufhin an. Man sah förmlich, wie sie sich darüber freute. Dann reichte sie Eliette die Puppe.

»Sie heißt Rosi, und sie kann auch ›Mama‹ sagen und sogar ›schlafen‹.« Plötzlich zog ein Schatten über das Kindergesicht. »Meine Mami und mein Papi wissen gar nicht, dass ich hier bin. Sie sind verreist und ganz weit weg.«

Eliette beobachtete, dass Saskia plötzlich einen Schmollmund zog und mit den Tränen kämpfte.

»Aber sie kommen doch bestimmt bald zurück«, sagte sie schnell.

Daraufhin zuckte das Kind mit den Schultern und meinte: »Dr. Laurin hat gesagt, dass er mit ihnen telefonieren wollte, aber sie waren nicht da.«

»Aber dann wird man es deinen Eltern doch sicherlich ausrichten, dass du im Krankenhaus bist«, versuchte Eliette die Kleine zu trösten.

»Weiß nicht«, schluchzte Saskia, und schon kullerten die ersten Tränen über ihre Wangen. Spontan beugte sich Eliette zu der Kleinen hinunter und nahm sie in die Arme.

»Da bin ich ganz sicher«, sagte sie beruhigend. »Du wirst sehen, dass deine Mami und dein Papi dann gleich zurückkommen werden.«

»Das hat Schwester Marie auch gesagt. Aber wenn sie nun nicht da sind, und ich werde doch operiert?«

Eliette sah die Angst in den Kinderaugen, und sie streichelte immer wieder beruhigend Saskias Wange und sprach tröstend auf das Kind ein, bis es etwas ruhiger wurde.

»Wirst du auch operiert?«, fragte Saskia nach einer Weile. Als Eliette nickte, kam auch schon die nächste Frage: »Auch am Blinddarm?«

»Nein, aber so etwas Ähnliches«, antwortete Eliette. »Und ich bin auch ganz allein hier«, fügte sie hinzu und hoffte damit das Kind zu trösten.

»Hast du keine Mami und keinen Papi?«

»Nein.«

»Na ja, du bist auch schon groß und hast bestimmt keine Angst«, sagte Saskia und schaute sie grübelnd an. »Hast du auch keine Kinder?«, war ihre nächste Frage.

Eliette schüttelte nach kurzem Zögern den Kopf. Dann erhob sie sich.

»Jetzt muss ich aber gehen. Ich habe den Schwestern nämlich versprochen, zum Fieber messen zurück zu sein.« Ihr Blick fiel auf die aufgeschlagene Zeitung, die auf dem Nachttisch lag, und plötzlich wusste sie, woher sie das Kind kannte. »Bist du Saskia Neumann?«, fragte sie überrascht und betrachtete Saskias Foto. »Ich habe dich kürzlich bei dem Liederabend in der Stadthalle gehört. Du bist sehr begabt und hast eine wunderbare Stimme.«

Die blauen Augen des Kindes strahlten sie an, und Eliette fragte, ob sie ihr einmal etwas vorsingen würde. »Weißt du«, sagte sie, »als ich so alt war wie du, hatte ich auch den Wunsch, Sängerin zu werden. Aber dann hat es sich immer wieder zerschlagen.«

»Ich bekomme schon seit ein paar Jahren Gesangsunterricht«, erzählte Saskia und trällerte mühelos die Tonleiter rauf und runter. »Und neulich durfte ich zum ersten Mal auf einer richtigen Bühne stehen. Das war toll! Und die Leute haben ganz doll geklatscht …«

»Ich weiß, ich war ja ebenfalls da.« Eliette lächelte dem Kind zu und erschrak. Das eben noch lächelnde Gesicht hatte plötzlich einen gequälten Ausdruck angenommen, und ein Schmerzenslaut kam über Saskias Lippen, während sie ihre Hand auf den Leib presste.

Eliette drückte sie auf einen Stuhl und lief hinaus, um Hilfe zu holen. »Bitte, kommen Sie!«, rief sie einer Schwester zu. »Ich glaube, Saskia hat Schmerzen.«