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Mathieu Riboulet
Die Werke der Barmherzigkeit
Fiktionen & Wirklichkeiten

Mathieu
Riboulet

Die
Werke
der
Barmherzigkeit

Roman

Aus dem Französischen
von Paul Sourzac

Erste Auflage
© 2016 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Paul Sourzac
Lektorat: Christian Ruzicska
Korrektorat: Dr. Peter Natter
www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:
Erik Spiekermann und Robert Grund, Berlin
Herstellung: Renate Stefan, Berlin
Friedrich Pustet KG, Regensburg
Papier Innenteil: 100 g Fly 05
Papier Überzug: 115 g Surbalin Perleffekt gold
Papier Vor- und Nachsatz: 115 g Fly 05
Gesetzt aus der Lyon
und der Wittenberger Fraktur
ISBN 978-3-905951-85-1
eISBN 978-3-905951-86-8

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text
wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Dieses Buch erscheint im Rahmen des
Förderprogramms des Institut Français.

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»Jeder, auch ein Schriftsteller, treibe es, so gut er kann.«

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Prolog

DIE HUNGRIGEN SPEISEN, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, die Kranken besuchen, die Gefangenen besuchen, die Toten begraben: Die Werke der Barmherzigkeit bilden eine Einheit kirchlich erlassener moralischer Gebote, die die Christen in die Pflicht nehmen und mit all ihrem Gewicht in die Waagschale des Jüngsten Gerichts fallen sollen. Wie auch die Todsünden sieben an der Zahl, sind sie all jenen bekannt, die als Abkömmlinge der christlichen Kultur zwangsläufig von ihnen geprägt wurden, ohne auch nur recht zu wissen, woher ihre Kenntnisse über sie stammen, noch worauf diese genau zurückgehen.

Der Ursprung dieser Gebote findet sich in folgender Passage des Matthäus-Evangeliums (25, 34–40): »Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.«

Der Geschichte zufolge wurde das letzte Gebot, die Toten zu begraben, erst später hinzugefügt. Und diese Einheit bildet nun die Werke der sogenannten »leiblichen« Barmherzigkeit, die es der Vollständigkeit halber durch die sieben Werke der geistlichen Barmherzigkeit zu ergänzen gilt, welche noch später formuliert wurden, von denen hier aber nicht die Rede sein wird: Zweifelnden raten, Unwissende lehren, Sünder zurechtweisen, Trauernde trösten, Beleidigern verzeihen, Lästige ertragen, zu Gott für die Lebenden und Toten beten – ein perfektes Brevier für die Beherrschung der Seelen …

Doch das Kapitel 25 des Matthäus-Evangeliums fährt mit folgenden, die Kehrseite darstellenden Versen fort (41–46): »Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.« Von nichts kommt nichts.

1.

Die nadten bekleiden

LANGE BIN ICH ein Gefangener des vagen, unausgesprochenen Gefühls geblieben, demzufolge Deutschland nicht zu bereisen sei. Zwar ließ ich mich von keiner bestimmten Vorstellung leiten, weniger noch von Groll, in meiner Familie aber ging man ganz einfach nicht nach Deutschland. Wenn überhaupt, durchfuhr man es hastig, um nach Dänemark, nach Polen zu gelangen, oder auch auf dem Rückweg von Ungarn. Nun, da mehr als die Hälfte meines Lebens vorüber ist, sage ich mir, dass es an der Zeit sei, dieses große Stück Europas zu sehen, das sich vom Rhein bis zur Oder erstreckt, von den Alpen bis zur Ostsee, an der Zeit, die Menschen zu sehen, die es bevölkern, von ihm träumen, an es denken, von ihm leben. Ich will den Körper eines dieser Männer in meine Arme schließen, deren Sprache ich nicht spreche, den Körper eines dieser Männer, die die Geschichte mir lange Zeit feindlich gegenüberstellt hat, den Körper eines deutschen Mannes. Ich begebe mich also eines schönen Maientags nach Köln, es ist ganz nah, man muss nicht einmal den Rhein überqueren, und ich tue, was für einen Franzosen seine Sinnesschwere hat: mit einem Deutschen schlafen. Es war einfach und zart. Woraufhin ich beschloss, dass ich Deutschland und die Deutschen liebte: Man kann nicht ständig behaupten, dass immer nur Tod und Verderben den Rhein überquert haben.

Einen Körper zu berühren stellt keine einfache Geste dar, sie ist sogar derart heikel, dass man sie des Denkens beraubt hat, um aus ihr einen Automatismus zu machen. Allein die Verrückten, Mörder und Liebenden halten, bevor sie den anderen erreichen, in ihrer Bewegung einen Moment lang inne. Sich die Zeit des Blicks gewähren, sich die Zeit des Denkens gönnen, und dann erst, wenn man alles gewählt hat – den Ort, den Moment und die Geste –, die Hand auflegen, das eben erlebte ich mit dem deutschen Körper. Doch frage ich mich auch, wie man sich packt, wenn man beabsichtigt, einander umzubringen. Mit der Geste eines Kriegers?

Ich hob meinen linken Arm, legte meine Hand an seinen Nacken, fühlte ihn breitbeinig dastehen, stark und stämmig, regungslos. So dockte ich behutsam an. Dann, in der plötzlichen Geschmeidigkeit seiner Nackenmuskulatur, fühlte ich unsere Eintracht sich ausbreiten. Nun legte sich seine linke, deutsche Hand ihrerseits um meinen Nacken und zog gegen den seinen meinen nun furchtlosen französischen Körper, meine Lippen betteten sich in die seinen, meine rechte Hand direkt unterhalb seines linken Schlüsselbeins, dort, wo stämmige Männer das exakte Maß ihrer Beschaffenheit preisgeben. Ich verspürte ein heftiges Verlangen nach fester Struktur, starken Knochen und Ankerplatz, das diese Geste befriedigte. Von seinem Nacken ablassend, tastete sich meine linke Hand durch den feinen Stoff seines Hemdes hindurch langsam an seinen Wirbeln hinab und verursachte gleich einem Reflex eine analoge Bewegung seiner Finger auf meinem Rücken, und diese langsame Erkundung lieferte mir die ersten ersehnten Schlüssel zu der eigenartigen und komplexen Konstruktion, vor der ich stand. Deutsch. Dieser angezogene Junge ist für mich bereits nackt, gekleidet in mein Begehren.

Vorher hatte ich nie an die Deutschen, an Deutschland, an die deutsche Sprache denken können, ohne am Horizont dieser Gedanken nicht auch die Spur des Konflikts sich abzeichnen zu sehen, der uns dreimal feindlich gegenüberstellt hat, eine umso verderblichere, hartnäckigere Spur, als sie ererbt war und nicht erlebt. Meine Urgroßmutter, die starb, als ich sechs war, und von der ich zahlreiche und präzise Erinnerungen hege, wurde im Jahr der Pariser Kommune geboren; über sie also bin ich an das ausgehende neunzehnte Jahrhundert gebunden, an die armen Leute und den Krieg. Man kommt nicht ohne Folgen wenige Wochen vor Sedan und der Niederschlagung des Pariser Aufstands zur Welt, und sei es auch in einem spürbar armen ländlichen Winkel. Als Beweis will ich die Hartnäckigkeit des Bildes der »Pickelhaube« im familiären französischen Vokabular anführen, ein Bild, das wieder aufgegriffen und in der Folge erweitert wurde durch die »Dicke Bertha« und die »Fritze«, sowie durch die wenig schmeichelhaften, unmittelbar daran geknüpften Werte. Die Bedeutung, die bei dieser Hartnäckigkeit die Rolle der beiden folgenden Konflikte einnahm, deren zeitweilige Erzähler zunächst mein Großvater, dann mein Vater waren, und die auf diese Weise die unbewusste Flamme der immer stärker flackernden, aber nie ganz erloschenen Feindseligkeit am Leben hielten, ist offensichtlich. Ich ertappe mich sogar dabei, wie ich nach einer Mahlzeit sage: »Noch eine, die die Boches nicht kriegen werden«, als wäre ich jemals persönlich bedroht worden … Laut Hölderlin, einem deutschen Dichter, ist »die Sprache dem Menschen gegeben, […] damit er zeuge, was er sei / geerbet zu haben.«

Aber es gibt die Wörter, wie man weiß, und es gibt die Dinge. Das »Ding« ist in diesem Fall der große bebende Körper, an dessen Saum ich mich halte und umgekehrt. Direkt über uns, irgendwo senkrecht über unserem Schulterkreis, schweben unsere Ahnenfolgen. Unsere Hände, Hände des Friedens und der Begierde, haben nach dem anderen gegriffen, wir sind also ausgeliefert, er mir, ich ihm, und blitzartig ahne ich, was uns geschähe, sollten unsere Hände sich plötzlich beschweren mit ererbter Gewalt, mit auferlegter, historischer Strafe: statt Liebeslied ein Leichenfeld. Die Risswunden, die wir uns augenblicklich zufügen würden, wären keine herbeigerufenen und begrüßten sexuellen, sondern unserem unantastbaren Wohl direkt angetane, unverzeihliche. Entlang der Punktierung meiner Wirbelsäule würde die deutsche Hand also meinen Rücken öffnen, ich wäre von klebriger Hitze durchpulst, bald schon würden sich meine Augen, mein Mund mit Blut füllen, ihm hingegen hätte ich die Brust durchbohrt und die Klinge stecken lassen, damit die Wallung nicht entweicht; dann würden wir voneinander abrücken, um allein zu sterben, ohne jede Kontaktmöglichkeit mit dem Körper unseres Feindes: noli me tangere, um ungehindert in den Himmel zu fahren.

Ich werde die Nacht damit verbringen, mich an diesem Deutschen zu laben, es wird eine Wonne werden, daran besteht kein Zweifel, und mit den Schatten der in meinen Knochen schlummernden Handvoll Ahnen, die erst den Dolch ziehen, dann das Blut strömen lassen mussten, um irgendeinen hübschen Sachsen zu erledigen, anstatt ihm schönzutun, werde ich eindringen in ihn, um seine Wärme zu erkunden, so tief, wie es mir erlaubt sein wird, ohne aus meinem Eintritt ein unbefugtes Eindringen zu machen. Und ich gehe davon aus, dass in ihm zwei, drei blonde Rheinländer erzittern werden, welche ein paar vor Zorn, Ohnmacht und Angst trunkene Bretonenschädel zu zerschmettern hatten, deren verblasste Spuren ich im Spiel seiner Lenden noch gut fühlen werde. Was tun mit all diesen Toten, wo leben, wie sich lieben?

Anfangs schulterte ich die Last der Sprache, der Geschichte, des Landes und der Zeit, in welche ich geraten bin. Es gab bei den Meinen keinerlei Ressentiment gegen die Männer und Frauen, die wie sie, jedoch jenseits des Rheins, aberwitzige Kräfte in Konflikten verschwendet hatten, bezüglich derer man mir schon sehr früh beibrachte, dass sie weniger von einem angeblichen Hass der einen gegen die anderen herrührten als von der Entfesselung politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder geografisch bedingter Mechanismen. Doch gab es da, in Verbindung mit den unschlüssigen Schwankungen, aus denen unsere Leben gewoben sind, einen mal laschen oder rissigen, mal bis zum Ersticken festgezurrten Faden, die Histoire, an die man ein großes H heftete, und auf diesem Faden drei Tatsachen, eng miteinander verquickt in einer Art zeitlichem Kontinuum mit der Aufgabe, diese drei Tatsachen in ein und denselben historischen Rhythmus umzuwandeln, bei dem jede Bewegung die Voraussetzungen für die Entfaltung der nächsten schaffen sollte: das Ende des Second Empire im eingekesselten Sedan, mit, unter anderem, der Folge der hiesigen Geburt des Deutschen Kaiserreichs und der dortigen Niederschlagung der Pariser Kommune; dann, mit dreiundvierzig Jahren Abstand, das Eröffnungsgemetzel des zwanzigsten Jahrhunderts; schließlich, gut zwanzig Jahre später, der Nazismus. Danach, nichts mehr.

Es sind dies schwerwiegende Tatsachen, deren Leugnung keinesfalls bewirken würde, dass sie nicht stattgefunden hätten. Sie sind eingeschrieben in den großen deutschen Körper, den ich, um in ihm aufzugehen, heute Abend erwählt habe. Gelingt es mir, dessen bereitwillige Öffnung zu erwirken, werde ich in meinem eigenen Körper diesen Frieden schließen können, den die Verträge seit Langem abgezeichnet haben, dem sich jedoch, seit ich hier bin, etwas zutiefst Ungedachtes in mir verweigert. Weil eben die Studien, die Betrachtungen, das Wissen, aus denen ich schöpfe, letztlich an einer Barre des Undenkbaren immer wieder auf Grund laufen, bin ich nun in Köln. Denn am Ende sind stets wir es, die in den Tiefen unserer Eingeweide die Abgründe der Geschichte bergen, die es aufzusuchen gilt, um mit ihnen in der Stille der Gesten zu tanzen. Also packten der Deutsche und ich uns wieder an den Nacken, um ineinander einzutauchen, geräuschlos und ohne Hass.

Aber ich frage mich noch immer, wie man den anderen ergreift, den man zu töten gedenkt. Mit der Geste eines Henkers? Und was man tut, wenn man getötet hat und rückwärts auf seinen Ellbogen, seinen Knien diese in der Erde klaffenden Schützengräben zurücklegt, um den Tod zu geleiten, ihn zu säen, wohl wissend, dass er nichts wachsen lässt?

Im Gespräch mit der Schriftstellerin Marie-Hélène Lafon berichtet Madame Jean, siebzigjährige Bewohnerin des Departements Cantal, im nach ihr benannten, 2010 von Sophie Bruneau und Marc-Antoine Roudil gedrehten Dokumentarfilm, dass sie ihren Vater in den Fünfzigerjahren auf einer Pilgerreise nach Verdun begleitet hat. Ihre Stimme wird unmerklich brüchig. Sie spricht von der Reise, sie sagt: »Ich weinte von Bar-le-Duc bis nach Verdun.« Ich sitze in der Dunkelheit des Saals. Sie war noch nicht geboren, als ihr Vater in den Krieg zog, ich war noch nicht geboren, als sie diesen Weg zurücklegte. Diese Ergriffenheit, die sie bei einem Abstand von über fünfzig Jahren unvermindert überwältigt, ruft meine eigene hervor, die mich ebenfalls überwältigt, und das seit Langem schon: Mit zehn Jahren schnürte mir allein die Vorstellung, dass man Männer in den Kampf schicken kann, die Kehle zu. Ich war niedergeschmettert von dem, was mir ein tragisches Schicksal schien. Ich wusste noch nicht, dass das eigentlich Unerträgliche darin besteht, ein Stück Fleisch zu sein, ohne dem Schlachthof auch nur irgendwie entrinnen zu können, und dass das Unglück derer, die keinen Frieden fanden, als es aufzuhören galt, noch immer nachhallt, lange nachdem sie verstummt sind. Seit bald schon hundert Jahren weine ich ab Bar-le-Duc, wenn ich in den Krieg ziehe. Seit bald schon hundert Jahren weine ich im Hinterland, wo man uns zurückgelassen hat, unter Frauen gemischte Kinder, von Kindern überforderte Frauen. Was tun mit all diesen Toten?

2.

Die Toten begraben

ES GAB EINEN pro Jahr. Und bei jedem verlor sich der Klang einer rissigen Glocke im Abend, in der gähnenden Leere der Felder und Überfülle der Wälder, in den von Schlaflosigkeit und Hoffnung erschöpften Seelen. Einen pro Jahr, mit metronomischem Gleichmaß, pedantischer Sorgfalt, unbeteiligter, eisiger Achtsamkeit, das Vaterland, wie man damals noch sagte, hatte sich geholt, was es offenkundig als Anrecht betrachtete, fordernder noch als der Sensenmann, der stets wählerisch war beim Alter, der Lebensenergie, dem Mut und der Kraft, während Ersteres nahm, was kam, einfach so daherkam, ohne Unterscheidung des Rangs, Vermögens oder Geschlechts.

An den Ersten erinnern sich alle, als wäre es gestern gewesen, und dieser Erinnerungen wegen wird es auf ewig gestrig bleiben. Henriette war recht spät in den Garten hinuntergegangen, um Grünzeug zur Streckung der Suppe zu holen und kam wieder herauf, indem sie ihre abgewetzte Schürze, in die sie das Gepflückte gebettet hatte, an ihre Taille drückte, als ihre Schwester Émilie sie plötzlich zurückhielt. Um ihr mitzuteilen, dass die Mutter im Bauernhaus einen Brief erhalten habe, dass die Dorfglocke für Louis schlagen würde, gleich schon, kaum dass sie sich zu Tisch gesetzt haben würden. Henriette stolperte, der Atem stockte ihr, Émilie unterdrückte einen als trockenes Husten getarnten Schluchzer. Sie waren noch nicht daran gewöhnt, wo ja die Wirren vor wenigen Wochen erst begonnen hatten, sie zitterten noch nicht, wenn sie die Post kommen sahen, wie sie es bald schon tun sollten. Um ehrlich zu sein, sollte sich vier Jahre später, da der letzte der Jungen an der Reihe war, sein Blut zu lassen, noch immer niemand daran gewöhnt haben. Sie begaben sich dennoch zu Tisch, und der Rest dieses Tages spielte sich eben ab, wie er sich abzuspielen hatte, und die folgenden ebenfalls, ein Weg dies, sich dem zu entziehen?

Als wäre es gestern gewesen, brannten sich diese Erinnerungen in die Köpfe ein, noch bevor sie in Stein gemeißelt waren, dort oben vor der Kirche, gegenüber dem ruhevollen Panorama, das während fünf Jahren Raserei kein einziges Mal mit der Wimper zuckte. Überall waren Frauen zugegen, in allen Weilern des Landkreises, im Dorf, sie schienen dem blinden Blick entstiegen, den man bis dahin auf sie gerichtet hatte, sie taten all das, was sie noch nie getan hatten, und sie machten es gut. Henriettes Mutter etwa war mit über sechzig Jahren Postbotin geworden, kreuz und quer durchfuhr sie die Straßen der Gemeinde und strampelte auf dem Fahrrad tagtäglich die Kuppen der Hügel hinauf, und die hatten es in sich. Gleich zu Beginn ihrer Tour konnten die Leute an ihrem Gesicht ablesen, ob es da einen zu überbringen gab oder nicht. An besagtem Morgen, jenem, der bleibt, als wäre es gestern gewesen, gab es ganz sicher einen, er war für die Mutter des Weilers bestimmt, aber das erfuhr man erst später, da man an den Türen lauschte, um jene Wortfetzen zu erhaschen, die die Frauen, einsam und verlassen, sich zu Füßen rieseln ließen, ohne zu ahnen, dass die Kinder sich daran weiden würden, indem sie sich zuweilen gar ins Fäustchen lachten, so formlos war dies alles und ungewohnt, ja geradezu absurd, so stark ließ dies alles die Herzen der gebrochenen Erwachsenen schlagen, ihre Tränen fließen und ihre Gesichter erstarren. Die Knirpse spürten wohl die bleierne Schwere, dass das Unglück bei ihnen, die ja nicht einmal reich waren, Einzug gehalten hatte, ohne jedoch recht zu wissen, durch welche Tür oder welches Fenster, und weniger noch, was mit ihm anzufangen, wo es zu verstauen und wie sich seiner zu bedienen war. Also spielten sie mit ihm, hinter dem Rücken der Erwachsenen, und das Dickicht, die Felsschluchten und die Wiesen waren ihnen Schlachtfelder, Schützengräben, Hinterhalte, rauchende Ruinen und Geschosse. Nicht ein Tag, an dem nicht einer von ihnen starb, ohne Gott sei Dank etwas mitzubekommen vom leisen Wallen des aus offenen, bisweilen klaffenden Arterien rinnenden Blutes, das umgehend von der mit Alteisen gestopften und knochendurchpflügten Erde aufgesogen wurde.

Der Weiler war streng genommen kein Weiler wie die anderen, er war der Weiler einer einzigen Familie. Fünf Häuser, von denen zwei abseits lagen, drei dem ältesten Bruder gehörten, zwei dem jüngeren, der Vater hatte es so, da er seinen Tod nahen fühlte, beschlossen – man stirbt jung hier, anno 1870, mit vierzig, niemand hatte mit der Wimper gezuckt. Die beiden Söhne hatten die Mutter heimlich das Regiment führen lassen, und als sie an der Reihe waren, hatten sie den Bund der Ehe geschlossen, sich fortgepflanzt; beim Ältesten nisteten sich zwei Kleine ein, beim Jüngsten ein einziges, alles Jungen. Mit dem Tod der Mutter im Jahre 1880 hatte die Frau des Ältesten das Zepter in die Hand genommen, an der Ordnung der Dinge zu rütteln, kam gar nicht erst infrage. Dann ging der Älteste des Ältesten den Bund der Ehe ein, pflanzte sich fort, und wieder waren es zwei Jungen. Was den Sohn des Jüngsten betrifft, so ging er auf die Dreißig zu, nicht aber auf die Frauen. 1913 zählte man im Weiler damit fünf Jungen, eine Ehefrau und zwei Witwen, da die beiden Brüder 1910 mit zwei Monaten Abstand ins Gras gebissen hatten. Sie starben eines natürlichen Todes, der es ihnen ersparte, das Kommende zu erleben. Allzu häufig kommen Weiler, in denen eine einzige Familie regiert, nicht vor, es hatte etwas Beunruhigendes, löste eine Mischung aus Neid und Respekt aus, man fühlte sich bei ihnen schon mit den ersten aus einiger Distanz gesichteten Dachziegeln zu Hause. Reich wurden sie deshalb nicht, aber es schweißte sie zusammen in der Stille, der Arbeit, der Zugehörigkeit zu einer Geschlechterfolge von Menschen, die die Welt in Händen hielten – eine arme und gestrenge Welt, doch immerhin eine Welt.

Der Atem wird Henriette schließlich alle fünf Male gestockt haben, gewöhnt hatte sie sich daran nie, weder an den stockenden Atem noch an diese von der Post überbrachten Nachrichten, knapp und knittrig, die ihn stocken ließen, nicht an den auf dem Papier dieser Briefe ruhenden Tod der Männer, und auch nicht an dieses fernab liegende Schlachten, das diese Tode hervorrief. An diesen Tod hatte sie sich nie gewöhnt, anders als beim anderen, dem alltäglichen Tod, dem der Tiere und Menschen aus der Gegend, die man eines Tages starr auf einem Feld fand, oder die zu guter Letzt in ihrem Bett sang- und klanglos dahinschieden, oder aber sich in den sinnlosen, fürchterlichen, unvergesslichen Krämpfen dieser Todeskämpfe wanden, die einen vom Bauch her packen und uns, ausgelaugt und bitter, erst loslassen, wenn sie die Wurzel des Haars, der Nägel erreichen. Der natürliche Tod eben. Die fünf Kerle des Weilers sind nicht so gestorben, sind nicht einfach so gestorben. Diese fünf, und mit ihnen Tausende andere, hat man genommen, hat man ausgesetzt auf einer verdammten Erde, auf der nichts mehr gedieh, um sie dann auf dieser nackten, verdammten Erde zu öffnen und zu sehen, wie das Blut ihrer Eingeweide darüber floss, das Blut ihrer Arterien Ströme bildete, Pfützen, Tümpel, bald Teiche, das Blut ihrer Jugend. Diese Männer, die von hier stammen, selbst wenn sie nicht, wie Henriette es sich für Louis erhofft hatte, im Bett der hiesigen Frauen endeten, diese Männer sind nicht gestorben, sie wurden umgebracht. Das ist nicht dasselbe.