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Alexandra Liebert

DIE ASSISTENTIN

Liebesgeschichte

© 2016

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ISBN 978-3-95609-200-8

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»Verdammte Schmerzen!« Ellen fauchte die Tastatur ihres Notebooks mit wildem Gesichtsausdruck an.

Der eigentliche Grund ihres Wutausbruchs lag zwar in ihren Händen, doch die Schmerzen machten sich nur bei allzu langem Tippen am Computer bemerkbar. So gesehen trug ihrer Ansicht nach die Tastatur die größte Schuld an ihrem Leiden. Wie so oft in den letzten Monaten schaltete sie frustriert das Notebook aus und griff stattdessen zum Telefon.

»Praxis Dr. Gutmann«, meldete sich nach dem sechsten Klingeln eine genervt klingende Stimme.

»Hesse. Guten Tag. Ich bräuchte bitte dringend einen Termin bei Dr. Gutmann.« Schon wieder, fügte Ellen in Gedanken hinzu.

Am anderen Ende der Leitung hörte man aufreizend laut das Rascheln von Papier, wahrscheinlich das Blättern im übervollen Terminkalender des Arztes. Schließlich bot die nun professionell klingende Stimme Ellen einen Termin für den nächsten Tag an. »Um halb elf könnte ich Sie noch reinschieben.«

Für einen Moment stutzte Ellen. »Vielen Dank«, sagte sie dann. »Bis morgen.« Sie unterbrach die Verbindung. »Reinschieben«, äffte sie ärgerlich die Sprechstundenhilfe nach. Leider konnte man in Zeiten der schnurlosen Telefone den Hörer nicht mehr wütend auf die Gabel knallen, deshalb musste sie ihren Frust mit einer Schimpftirade loswerden: »Warum hat man beim Orthopäden nur immer das Gefühl, ein Termin wäre schwerer zu bekommen als eine Audienz beim Papst? Diese Idioten! Scheffeln Geld wie Heu, aber wenn man sie mal braucht . . . dann sind sie auf den Bahamas oder sonst wo. Spielen den ganzen Tag Golf oder sitzen mit ihren Frauen beim Schönheitschirurgen, damit auch die letzte Falte noch glattgebügelt wird. Die sollte man alle mal anketten, damit sie arbeiten müssen. Und wenn sie sich zu einem Termin mit dem Fußvolk herablassen, speisen sie einen innerhalb von fünf Minuten ab. Arbeiten Sie nicht so viel! Essen Sie nicht so viel! Bewegen Sie sich mehr! Legen Sie sich doch einen Hund zu, dann kommen Sie öfter einmal an die frische Luft! Die haben leicht reden, die haben ihre Schäfchen ja im Trockenen.«

Sie war natürlich klug genug, solche Äußerungen nur in Gegenwart ihrer Topfpflanzen von sich zu geben. Wenn eine der Arzthelferinnen oder Ärzte das mitbekäme, könnte sie in Zukunft vermutlich lange auf einen Termin warten.

Mit einem tiefen Seufzer legte sie das Telefon auf den Tisch. »Zwangsurlaub bis morgen«, teilte sie ihrem schwarzen Monitor mit. »Und das bei einer Autorin . . .«

»Hallo, ich heiße Heike.«

Ellen hatte diese Frau noch nie zuvor hier in der Disco gesehen. Auch heute war sie ihr bislang noch nicht aufgefallen. Plötzlich hatte sie vor ihr gestanden, ein Glas Cola in der Hand und ein Lächeln im Gesicht.

»Hallo«, erwiderte Ellen den Gruß und vermied es wie immer, ihren eigenen Namen zu nennen.

»Ganz schön was los hier heute.« Heike hatte sich in Ellens Richtung gelehnt, damit sie nicht allzu laut schreien musste, um den Geräuschpegel zu übertönen.

Oh, eine, die Konversation betreibt, bevor sie zum Punkt kommt. »Freitags ist hier immer die Hölle los«, bestätigte Ellen.

»Ah ja. Ich war freitags noch nie hier.« Heike schaute verlegen zu Boden und fügte dann etwas leiser, durch die laute Musik fast nicht hörbar, hinzu: »Ich gehe nicht sehr oft aus.«

Ellen lächelte. Heikes zurückhaltende Art gefiel ihr. Sie war wohltuend anders als die Frauen, die sie sonst ansprachen, und schien in keine von Ellens Kategorien zu passen. Weder war sie so schüchtern wie die, die in Gegenwart ihres prominenten Schwarms keine zwei Wörter herausbekamen, noch so draufgängerisch wie die Trophäenjägerinnen. Ob sie Ellen erkannt hatte? Davon war Ellen automatisch ausgegangen, so selten war es, dass sie hier in diesem Umfeld irgendwer nicht sofort als Edith Braun identifiziert hätte. Zumal Heike sie ja auch nicht nach ihrem Namen gefragt hatte. Aber wenn die andere das nicht gleich zum Thema machte, sollte Ellen das nur recht sein.

Sie versuchten, gegen die Übermacht der Musik anzukämpfen und sich zu unterhalten. Doch das war bei der Lautstärke, die in der Disco herrschte, kein wirkliches Vergnügen, weil jede zweite Äußerung aus einem lauten »Was?« oder »Wie bitte?« bestand.

»Ich möchte nicht aufdringlich oder plump erscheinen«, wagte sich Heike irgendwann vor. »Aber wollen wir vielleicht irgendwo, wo es nicht so laut ist, einen Kaffee trinken?«

Die Stunde der Wahrheit! Nun würde sich zeigen, ob Heike wirklich anders war als die anderen. Plötzlich spürte Ellen, wie sehr sie wollte, dass Heike sie nicht nur als attraktive Abwechslung für ihr Bett betrachtete. Merkwürdig eigentlich. Sie hatte gedacht, dass sie diese Hoffnung längst aufgegeben hätte, und bei den meisten anderen Frauen spielte sie auch überhaupt keine Rolle. Doch Heike . . . sie könnte tatsächlich etwas Besonderes sein.

Vor der Disco blieb Heike stehen. »Bist du auch mit dem Wagen hier?«

Ellen nickte.

»Ein paar Straßen weiter ist ein Café, das noch geöffnet hat. Ist es okay, wenn ich vorweg fahre, und du folgst mir?« Heike unterbrach sich und biss sich auf die Unterlippe, als bereue sie ihren Vorschlag. »Oder ist das blöd?«

Ellen hätte über so viel erfrischende Natürlichkeit am liebsten laut gelacht. Dass es so was noch gab . . . Doch sie wollte nicht, dass Heike dachte, sie würde sie auslachen, deshalb beließ sie es bei einem breiten Grinsen. »Nein, das ist gar nicht blöd, sondern eine sehr gute Idee.«

Zehn Minuten später saßen sie sich in einem kleinen Café gegenüber, in dem Ellen noch nie gewesen war. Da merkte man mal wieder, dass sie hier in der Innenstadt wirklich nur die Discos und Clubs kannte.

»Schön ruhig hier, nicht wahr?«, fragte Heike und lächelte zaghaft. Sie wirkte noch schüchterner als vorhin in der Disco. Ellen fragte sich, wie Heike den Mut gefunden hatte, sie überhaupt anzusprechen.

Obwohl sie ihre neuen und meist auch nur sehr flüchtigen Bekanntschaften für gewöhnlich erst in aller Schärfe analysierte und dabei eher zuhörte, beobachtete und die andere reden ließ, hatte sie bei Heike das Bedürfnis, sie nicht so in der Luft hängen zu lassen. »Das hier ist wirklich angenehmer als in der Disco«, stimmte sie ihr zu. »Zum Unterhalten ist man dort an der falschen Adresse.«

»Oh ja! Und ich mag es eigentlich überhaupt nicht, wenn es so laut und stickig und voller Menschen ist«, antwortet Heike prompt, und ihr Lächeln wurde breiter. Sie schien dankbar für Ellens Initiative.

»Und warum warst du dann da?« Auch Ellen lächelte – ermutigend und interessiert, nicht leicht ironisch wie sonst so oft. Sie war tatsächlich neugierig. Schließlich kannte sie das selbst gut genug, dass man Dinge tat, die man eigentlich so gar nicht wollte.

Heike hob die Schultern. »Das weiß ich gar nicht so genau. Irgendwie dachte ich, es würde mir guttun. Einfach mal was komplett Neues machen – aus meinem Schneckenhaus rauskommen, in eine ganz andere Welt eintauchen. Der Gedanke hatte etwas Abenteuerliches, als ich mich auf den Weg in die Disko gemacht habe.«

»Und hat er gehalten, was du dir davon versprochen hast?«

»Nein!« Heike lachte kurz auf. »Es stank nach Schweiß und Alkohol, und ich glaube sogar, dass jemand auf dem Weg zur Toilette gekotzt hatte. Die Luft war so schlecht, dass ich kaum atmen konnte, geschweige denn Lust hatte, mich ins Getümmel zu stürzen und zu tanzen.«

Die beiden Frauen lachten zusammen.

»Der Kaffee hier ist übrigens etwas ganz Besonderes«, klärte Heike Ellen dann auf. »Die zwei Brüder, die das Café hier betreiben, haben eine eigene kleine Rösterei. Sie sind in jungen Jahren durch Südamerika getingelt und haben dort alles über Kaffeebohnen gelernt, was man nur wissen kann. Und irgendwann fingen sie selbst mit dem Rösten an. Sie experimentieren ständig, und man hat das Gefühl, hier jeden Tag einen anderen Geschmack in der Tasse zu haben.«

Sieh an, sie taut ja richtig auf, dachte Ellen und bestätigte: »Ich hatte mich tatsächlich schon über den Kaffee gewundert. Der schmeckt wirklich ganz speziell. Aber sehr gut.« Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: »Und der Gedanke an Südamerika weckt eher meine Abenteuerlust als ein Abend in der Disco.«

Sie sprachen über Kaffee, über Reisen und Urlaub im Allgemeinen, und mit jeder Minute entspannte Ellen sich mehr. So ein angenehmes Gespräch hatte sie schon lange nicht mehr geführt. Sie ging richtig darin auf und hatte nicht einen Moment Angst, dass die Seifenblase platzen könnte. Die Zeit verflog geradezu, doch der Gesprächsstoff ging ihnen nicht aus. Und das schönste war, dass Heike noch kein Wort über Edith Braun verloren hatte.

Irgendwann, es war inzwischen schon nach Mitternacht, sagte Ellen: »Ich glaube, es wird langsam Zeit für mich.« Sie wartete gespannt, wie Heike reagieren würde. Ob sie jetzt doch noch ihre wahren Absichten offenbarte?

Doch Heike warf nur einen Blick auf die Uhr und stellte fest: »Oh ja, es ist wirklich schon spät.« Sonst sagte sie nichts.

Die beiden bezahlten ihre Getränke. Als Ellen aufstehen wollte, hielt Heike sie am Arm fest. Genauso zaghaft wie ganz am Anfang fragte sie: »Wollen wir vielleicht unsere E-Mail-Adressen austauschen?«

Mailadressen? Ellen traute ihren Ohren kaum. Die Überraschung war gleich doppelt: Zum einen schien Heike sich tatsächlich für den Abend verabschieden zu wollen – was Ellens stille, aber intensive Hoffnung bestätigte, dass Heike tatsächlich mehr suchen könnte als nur einen One-Night-Stand. Zum anderen war Ellen erstaunt, dass Heike keine Telefonnummer wollte, keine Handynummer, sondern ihr ganz klassisch eine Mail schreiben wollte. Das war ja beinahe schon altmodisch. Eine so indirekte Form der Kommunikation würde wohl kaum jemand wählen, der ganz wild darauf war, sich an Ellen heranzuschmeißen.

Sie besaß unter anderem eine neutrale Mailadresse, die weder ihren wahren Namen noch ihren Künstlernamen verriet. Diese notierte sie nun auf einem kleinen Zettel, den Heike ihr hinhielt.

»Und hier ist meine.« Heike schob einen eilig bekritzelten Bierdeckel über den Tisch. »Es . . . es war ein sehr schöner Abend«, fügte sie flüsternd hinzu.

»Das finde ich auch.« Ellen schenkte ihr ein warmes Lächeln, bevor sie den Bierdeckel einsteckte und sich erhob.

Wortlos schlenderten sie zu ihren Autos, für die sie zwei Parkplätze direkt nebeneinander gefunden hatten. »Hier sind wir«, stellte Ellen überflüssigerweise fest, als sie sie erreicht hatten.

»Ja«, bestätigte Heike. »Hier sind wir.«

Nach ein paar weiteren Sekunden betretenen Schweigens sperrte Heike ihre Autotür auf, drehte sich dann aber noch einmal zögernd zu Ellen um. »Ich höre von dir?«

»Ganz sicher«, versprach Ellen und umarmte Heike zum Abschied.

Das Wartezimmer füllte sich mehr und mehr. Wie immer, wenn Ellen sich tagsüber bei Ärzten oder Ämtern mit langen Menschenschlangen herumärgerte, fragte sie sich, ob denn keiner dieser Menschen arbeiten musste.

Sie schielte auf ihre Armbanduhr. Zwanzig vor elf, und das Wartezimmer war bis zum letzten Stuhl gefüllt. Na, vielleicht sind das alles Schriftsteller, die Probleme mit den Händen haben. Ellen grinste bei diesem Gedanken in sich hinein.

Spaßeshalber begann sie die Anwesenden genauer zu beobachten. Worüber der Typ im Anzug dort am Fenster wohl schreiben würde? Wahrscheinlich über die zu erwartenden Schwankungen am Börsenmarkt. Und die Frau neben ihm, mit geblümtem Kleid und Hochsteckfrisur, arbeitete bestimmt an einem Kochbuch. Der Junge daneben, der mit einem Smartphone spielte, zeichnete bestenfalls Comics, seine Mutter schrieb einen Erziehungsratgeber und die alte Dame am Eingang Gebete für jede Lebenslage.

Ellen musste an ihre Bekanntschaft der letzten Nacht denken. Wären das hier wirklich lauter Berühmtheiten, sie hätte ihre wahre Freude daran.

Sie . . . Ellen wusste nicht einmal ihren Namen. Als sie kurz vor dem Morgengrauen ihre Sachen zusammengesucht und sich ein Taxi gerufen hatte, hatte die Dunkelhaarige gefragt, ob sie ihn ihr verraten sollte.

»Nicht nötig«, hatte Ellen geantwortet. »Du kennst meinen Namen ja auch nicht.« Mit diesen Worten hatte sie die Wohnung verlassen.

Es war nicht so, dass sie aus ihrem Namen ein Geheimnis machte. Aber viele ihrer Leserinnen sahen nur das Offensichtliche, betrachteten nur die Oberfläche. Auch die Fremde hatte sie letzte Nacht Edith genannt. Edith Braun, das war ihr Pseudonym, unter dem sie in der Lesbenwelt bekannt war. Edith nach ihrer geliebten Großmutter, und Braun war der Mädchenname ihrer Mutter. Nur ganz selten einmal hinterfragte eine ihrer Verehrerinnen ihren Namen. Sie schrieb als Edith, gab als Edith viel von sich preis, also war sie in den Augen der Leserinnen Edith. Edith, von der sie glaubten, sie zu kennen.

Und dabei habt ihr keine Ahnung von mir.

»Frau Hesse.« Die Arzthelferin rief den Namen gelangweilt in den überfüllten Raum.

Na, immerhin noch einigermaßen pünktlich. Dafür, dass ich nur reingeschoben bin . . . Ellen folgte der Frau im weißen Kittel ins Behandlungszimmer.

»Der Doktor kommt gleich.« Die Arzthelferin legte Ellens Akte sorgfältig in die Mitte des schweren Eichenholzschreibtisches und verließ den Raum. Es dauerte dann allerdings noch knapp zehn Minuten, bis Dr. Gutmann hereinkam.

»Frau Hesse. Guten Tag.« Der grauhaarige Mann lächelte Ellen freundlich an. Mitfühlend fragte er: »Immer noch die Hände?«

Ellen nickte. »Ich kann kaum noch fünf Minuten tippen. Die Schmerzen werden von Tag zu Tag größer.«

Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und schlug ihre Akte auf.

»Vielleicht könnten Sie mir noch einmal eine Spritze geben und mir diese Schmerztabletten verschreiben?«, fragte Ellen hoffnungsvoll. Sie wusste schon, was der Arzt dazu sagen würde. Doch sie wollte es wenigstens versucht haben.

Der Doktor lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute Ellen eindringlich an. »Wie oft hatten wir dieses Gespräch nun schon in den letzten Monaten?«

Ellen starrte auf ihre Hände, die verkrampft in ihrem Schoß lagen. »Oft«, gab sie kleinlaut zu.

»Frau Hesse . . .« Dr. Gutmann beugte sich nach vorn, stützte die Unterarme auf dem Schreibtisch ab und wartete, bis Ellen ihn ansah. Seine Augen blickten viel milder, als er fortfuhr: »Schmerzmittel sind nicht die Lösung für Ihr Problem. Ich kann das auf Dauer einfach nicht verantworten, und das wissen Sie auch. Wenn Sie nicht endlich damit anfangen, Ihre Hände zu schonen, dann werde ich sie Ihnen bis zu den Ellenbogen eingipsen!«

Obwohl der Arzt den letzten Satz mit einem Augenzwinkern sagte, war Ellen den Tränen nahe. »Aber Sie wissen doch, dass ich mein Geld mit dem Schreiben verdiene«, rechtfertigte sie ihre verzweifelte Bitte. »Ich kann nicht einfach so damit aufhören.«

»Sie müssen ja nicht komplett damit aufhören«, beschwichtigte er sie mit ruhiger und sanftmütiger Stimme, als spräche er mit einem bockigen Kind. »Aber Sie müssen es radikal verkürzen. Und ich meine damit wirklich radikal! Wenn Sie das nicht tun, kann es sein, dass Sie in einem Jahr fast gar nichts mehr schmerzfrei mit Ihren Händen machen können.«

Ellen wurde eiskalt. Dabei war ihr der Ernst der Lage schon lange bewusst. Vor einem halben Jahr hatte Dr. Gutmann ein RSI-Syndrom diagnostiziert – im Volksmund auch Mausarm – und sie immer wieder nachdrücklich dazu aufgefordert, das Schreiben für einige Zeit zu unterlassen, damit ihre Hände sich regenerieren konnten.

Mutlos fragte sie: »Und wie lange sollte ich Ihrer Meinung nach die Finger von der Tastatur lassen?« Allein der Gedanke war eine Qual. Sie konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. Was war denn eine Autorin, wenn sie nicht schreiben konnte?

»Ich kann Ihnen keinen festen Zeitrahmen nennen, Frau Hesse«, antwortete der Arzt sachlich, »aber wir sollten von ein paar Monaten ausgehen. Ich werde Sie in dieser Zeit regelmäßig untersuchen, wir werden ein paar begleitende Behandlungen und Übungen durchführen, und ich bin überzeugt davon, dass sich eine Besserung einstellen wird. Sie brauchen vor allem sehr viel Geduld. Aber ich versichere Ihnen, dass wir auf diese Weise Ihre Hände wieder vollständig heilen können. Auch wenn ich Ihnen allerdings auch dann davon abraten muss, acht Stunden oder länger am Tag am Computer zu sitzen.«

Ellen atmete tief ein. Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich geschlagen geben. Zerknirscht verabschiedete sie sich und machte sich auf den Heimweg, grübelnd und deprimiert.

Wie könnte sie das Problem nur lösen? Sie musste schreiben, um Geld zu verdienen. Es gab keinen Plan B in ihrem Leben, keine Alternative. Schreiben war ihr Leben.

Als sie zu Hause ankam, war ihr weder eine Lösung eingefallen noch hatte sich ihre Stimmung gebessert. Ziellos irrte sie in der Wohnung umher. Unter normalen Umständen hätte sie als Allererstes ihren Laptop eingeschaltet, wäre zwischendurch in die Küche gegangen, um sich einen Kaffee zu machen, und hätte dann bis spät in die Nacht gearbeitet. Arbeit war immer die beste Ablenkung. Nur leider eben nicht davon, dass die Arbeit selbst unmöglich geworden war.

Ihr Kopf war vollkommen leer, sie war müde, weil sie letzte Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte, und auf ganzer Linie überfordert mit dieser Situation. Hilfs- und antriebslos trottete sie in ihr Schlafzimmer, zog die Vorhänge zu und verkroch sich für den Rest des Tages im Bett.

Obwohl sie sich lange Zeit grübelnd herumwälzte, schlief sie schließlich doch ein. Als sie wieder aufwachte, herrschte bereits tiefste Nacht. Kurz überlegte sie, ob sie sich vielleicht etwas Abwechslung gönnen und in ihre Stammdisco gehen sollte. Dort würde sie bestimmt genügend Zerstreuung finden. Doch der Gedanke daran, die Kraft zum Aufstehen und Stylen aufzubringen, war ihr schon zu viel. Sie nahm ihr Kopfkissen unter den Arm, holte sich eine Flasche Wasser und eine Tüte Chips aus der Küche und machte es sich vor dem Fernseher bequem.

Drei Tage lang ließ sie sich auf diese Art gehen. Sie verließ das Haus nicht, wandelte mit ihrem Kissen unter dem Arm zwischen Sofa und Bett hin und her und suhlte sich in Selbstmitleid.

Widerwillig musste sie sich schließlich eingestehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Nach einer weiteren Diskussion mit sich selbst machte sie sich auf den Weg ins Farbenfroh, ein Bistro für Schwule und Lesben, das ihre Freundin Kim führte. Vielleicht würde ein ausgiebiges Frühstück sie auf weniger dunkle Gedanken bringen.

Um diese Uhrzeit, noch dazu an einem Wochentag, herrschte im Farbenfroh nicht sehr viel Betrieb, so dass Kim sofort registrierte, wenn die Tür sich öffnete. »Du hast dich ja ewig nicht mehr blicken lassen«, rief sie Ellen von der Theke aus zu und kam ihr entgegengelaufen. Nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßung machte Ellen es sich an einem kleinen Ecktisch bequem und bestellte ihr Frühstück.

Ein paar Minuten später kam Kim höchstpersönlich mit Kaffee und Croissants an ihren Tisch, stellte das Tablett ab und setzte sich zu ihr. »Was treibt dich denn so früh aus dem Haus? Kleine Schaffenspause?«, fragte sie.

Ellen nahm einen großen Schluck Kaffee, in der Hoffnung, sie könnte dadurch den bitteren Geschmack in ihrem Mund hinunterspülen. Doch er blieb. Ohne ihre Freundin anzusehen, murmelte sie: »Ich war vor ein paar Tagen beim Orthopäden.«