ESSSUCHT – WAS IST DAS?

Warum essen bereits massiv übergewichtige Frauen auch weiterhin viel zu viel, bis Kleidergrößen unaufhaltsam in die Höhe klettern und ihre Füße schmerzhaft aus zu eng und klein gewordenen Schuhen herausquellen? Bis Kurzatmigkeit, Schweißausbrüche, Rückenschäden, Krampfadern, Gelenkschmerzen, Kreislaufstörungen und Herzbeschwerden sich einstellen? Warum tun sie sich dies an?

Sie fressen ohne jedes Sättigungsgefühl, bis unerträgliche Schamgefühle und depressive Verstimmungen Platz greifen und der eigene Körper längst zu einem ungeliebten Objekt, ja sogar zum gefürchteten Gegner degradiert wurde. Bis langjährige Arbeitsstellen aus gesundheitlichen Gründen verlassen werden müssen und Beziehungen wie ganze Familien terrorisiert werden durch die endlosen und vergeblichen Versuche einer Esskontrolle. Warum nur?

Welcher innere Dämon treibt diese Frauen an? Warum sind sie derart autoaggressiv? Warum versagen bei ihnen früher oder später sämtliche guten Vorsätze, motivierend gemeinte Ratschläge, medizinisch verordnete Kuren und Diäten, gezielte Ess- und Bewegungsprogramme? Wo überhaupt bleibt bei ihnen ein respekt- und liebevolles Ich-Gefühl?

Zudem: Warum gibt es nach wie vor wesentlich weniger Männer mit derartigen Essstörungen? Nur weil das gängige Modediktat und das Rollenbild der Männer noch nicht so absolut und häufig absurd auf Schlank-um-jeden-Preis zielt?

Eine wenig plausible, unbefriedigende Erklärung ...

Wohl ist ein dicker Mann in unserer Leistungsgesellschaft nach wie vor weniger dem gesellschaftlichen Druck und der Kritik ausgesetzt als eine übergewichtige Frau. Bei Männern gelten teilweise noch immer »alte« Rollenbilder, die ihnen nach wie vor Wohlstands- und Bierbäuche zubilligen. Solche Klischees können aber schwerlich der Hauptgrund sein, warum unaufhaltsame Fettleibigkeit hauptsächlich Frauen betrifft.

Eine nachvollziehbare, psychische Prädisposition zu einer späteren Essproblematik kann durchaus ihre Wurzeln im Säuglingsalter haben. Nämlich dann, wenn ein weinendes oder zorniges Kleinkind mit Essen oder Trinken getröstet, besänftigt oder belohnt wird, statt dass seine Bezugspersonen sich um seine tatsächlichen Gefühle und Bedürfnisse kümmern.

So kann eine spätere Fehlschaltung »programmiert« werden. Das heißt Essen und/oder Trinken statt Erkennen und Verarbeiten eines ungestillten Anliegens oder eines schmerzhaften Konfliktes; Essen als Trost und Ersatzhandlung, um sich doch noch »etwas Gutes« zu tun.

Aber: Es gibt viele Frauen (und Männer), die mit dieser Art Esskonditionierung aufwuchsen und später trotzdem keinerlei Probleme mit der Nahrungsaufnahme entwickelten.

Seit Jahren bieten Fachstellen und Selbsthilfegruppen wie auch die psychologische Sachliteratur die verschiedensten Erklärungsmodelle an für eine unkontrollierbare Gier nach zu viel Essen.

Hier einige der bekanntesten Beispiele:

Der gesellschaftliche Protest: Übergewicht als demonstratives Nein-Sagen gegen das in unserer westlichen Gesellschaft vorherrschende Konsum- und Modediktat, dass ein Mensch angeblich nur dann als wirklich attraktiv gilt, wenn er dem Zeitgeist angepasst schlank und fit ist.

Die Abgrenzung zur Mutter: Übergewicht als Protesthaltung gegenüber einer übermächtigen Mutter. Ein manifestiertes Nein zu etwaigen mütterlichen Plänen, ein unbewusster Versuch einer (zumindest körperlichen) Abgrenzung.

Die Frust-Schicht: Übergewicht als Hinweis auf sexuelle Frustration und mangelnde Zuwendung. Übermäßige Nahrungsaufnahme als Ersatz für vermisste körperliche und seelische Streicheleinheiten.

Das Vermeidungs- oder Verlagerungsverhalten: Übergewicht als Hinweis, dass unangenehme Empfindungen wie Stress, Langeweile, Wut, Trauer und Ärger mittels Essen unterdrückt beziehungsweise die negativen Gefühle zumindest »thematisch« verlagert werden.

Die Verführung zum Konsum: Übergewicht als ein Zeichen mangelhaft vermittelter Information und somit fehlender persönlicher Abgrenzung gegenüber einem Überangebot an offensiv und attraktiv angebotenen Nahrungsmitteln.

Meiner langjährigen therapeutischen Erfahrung nach stimmen diese Erklärungsmodelle bei Esssüchtigen nur mehr oder weniger partiell, da sie allzu leicht falsch interpretierbar sind. Auch treffen sie im Ansatz sowohl für fettleibige Frauen als auch für Männer zu.

Keines davon aber beleuchtet hinreichend, warum es vorwiegend Frauen sind, die im Laufe der Jahre sich nicht nur eine massive Körperpanzerung angefuttert haben, sondern auch weiterhin drauf und dran sind, sich allen medizinischen Indikationen zum Trotz praktisch zu Tode zu fressen. Essgestörte Männer sind da nach wie vor in einer deutlichen Minderheit (siehe »Noch immer ein Randthema: Esssucht beim Mann«, S. 191 ff.).

1984 begann ich mich erstmals mit dem Thema Essstörungen zu beschäftigen und spezialisierte mich dann therapeutisch auf Adipositas bei Frauen.

Für mich waren und sind diese angeblich so gemütlichen, stets kraftvoll auftretenden, dabei hochsensiblen »Nanas« eine Randgruppe der besonderen Art, auch dadurch gekennzeichnet, dass sie, sollten sie sich im sozialen Kontext exponieren, wegen ihrer Körperlichkeit schnell auf Verständnislosigkeit, absolute Intoleranz und Geringschätzung stoßen.

Bei der Analyse von rund 700 Biografien aus meiner nunmehr über 25-jährigen therapeutischen Arbeit mit Frauen, welche ohne medizinisch begründbare Ursachen (keine hormonellen Störungen, Schilddrüsenunterfunktion etc.) fettleibig, also adipös wurden, wie auch in der Auswertung von Daten aus rund 2000 anonymisierten Fragebogen (»Standortbestimmung«) stellte ich analoge Lebensmuster und signifikante Übereinstimmungen fest, die ich – wenn auch mit einer geringeren Datenmenge – bereits 1988 in der ersten Auflage dieses Buches (»Die Böse Mutter«) publizierte.

Die folgenden diagnostischen Aussagen haben somit nichts an Aktualität und Relevanz verloren, sondern sich im Gegenteil im Laufe der Jahre noch erhärtet und weiter differenziert:

Es geht hier immer um Frauen, die offensichtlich ihren »inneren Raum«, ihr eigentliches Ich samt seinen ganz persönlichen Bedürfnissen und Anliegen kaum oder gar nie wirklich ausloten und spüren durften. Frauen, die im übertragenen Sinne ein beschnittenes, in seiner Weiblichkeit kastriertes Leben führen.

Zusätzlich erschwerend ist die Tatsache, dass Dicksein in der heutigen, nicht nur mode- sondern zunehmend gesundheitsbewussten Gesellschaft ganz allgemein eine neue Art von physischem und psychischem Leistungszwang beinhaltet.

So kann auch hier Nicht-Genügen zu einer subtilen Form der Ausgrenzung führen – zu einer Zweiklassengesellschaft, die nachweisbaren Erfolg über Kleidergröße, Fitness, Body-Maß-Index, Nahrungsmanagement und Kalorienabbau definiert. Der psychosoziale Druck auf die Randgruppe der Adipösen, und speziell auf die der Frauen, nimmt somit ständig zu.

Krankenkassen bangen um ihr Geld, Unternehmen um die zuverlässige Leistungsfähigkeit übergewichtiger MitarbeiterInnen – die vermeintlich Ach-so-aufgestellten-und-robusten-Dicken werden immer mehr als (finanzielle) Risikofaktoren wahrgenommen, als gesundheitliche Zeitbomben.

Dementsprechend wird inzwischen gezieltes Abnehmen in Kombination mit körperlicher Ertüchtigung quasi als Volkssport betrieben, erweist sich in seiner Vielfalt wiederholt als Kassenschlager, macht Schlagzeilen und gehört sogar in politische Programme −, aber jene Adipositas, welche ausschließlich psychische Wurzeln hat, ist der Öffentlichkeit und dem Gesundheitswesen fremder (und unbequemer) denn je.

Dies, obwohl in den 90er-Jahren der diagnostische Begriff Binge-Eating-Disorder entstand, welcher jene Essstörung kennzeichnet, die bei den Betroffenen periodische Heißhungeranfälle auslöst und mit dem Verlust einer bewussten Esskontrolle einhergeht. Der treffend charakterisierende Name dieser Krankheit leitet sich aus dem englischen »Binge-Eating« her: ein »Fressgelage abhalten«.

Die diagnostischen Kriterien zur Erkennung dieser Binge-Eating-Disorder für Frauen wie für Männer wurden von der Psychiatrischen Vereinigung in den USA wie folgt definiert:

Wiederholte Untersuchungen in den USA ergaben zudem, dass der männliche Anteil bei Adipositas-Erkrankungen nur etwa ein Drittel beträgt. Der Löwenanteil betrifft Mädchen und Frauen. Warum? Mir schien diese Frage schon früher von zentraler Bedeutung und ihr habe ich meine therapeutische Arbeit mit adipösen Frauen gewidmet.

Durch die autoaggressive, scheinbar freiwillig vorgenommene Verunstaltung ihres Körpers mittels übermäßiger Nahrungsaufnahme führt eine Frau (oder ein Mädchen) ein immer stärker eingeschränktes Dasein. Ein Dasein zweiter Klasse – in unserer mode- und gesundheitsbewussten Gesellschaft im Grunde genommen das Leben einer Kastratin. Und dies nicht aufgrund einer ritualisierten und schrecklichen, mehr oder weniger totalen Klitorisbeschneidung, sondern wesentlich »zivilisierter« beziehungsweise mit gänzlich anderen Wurzeln und Motiven ...

Kastration ist uns längst bekannt, vorwiegend aus der Geschichte des Mannes. Ein kastrierter Mann, ein Eunuch, war von jeglicher sexueller Rivalität ausgeschlossen, er war »entmannt«, »entmachtet« und somit, gesellschaftlich gesehen, ein durch seine eingeschränkte Körperlichkeit stigmatisierter Außenseiter.

Nie mehr durfte/konnte er seine »Manneskraft« beweisen, sich damit auszeichnen oder andere Männer herausfordern. Durch die Verstümmelung seines Körpers, das Wissen um dessen Unzulänglichkeit, musste auch der Charakter des Kastraten angepasstere und gefügigere Züge annehmen. Typisch männliches, aggressives Rivalitätsgebaren war ohnehin sinnlos und wurde tunlichst vermieden. Es wäre lediglich lächerlich gewesen.

Die von der Wahrnehmung ihrer Körperlichkeit her »ganzen« Männer sahen in dem Kastraten keinerlei Bedrohung und benützten ihn gerne als Vertrauten und Lustknaben, schenkten ihn der eigenen Frau als Spielgefährten und Begleiter oder setzten ihn als Wächter weiblicher Tugend ein (z.B. in Harems).

Hingegen war es durchaus möglich, dass der Kastrat, je nach seinen Fähigkeiten (Musik, Theater, Kunst etc.), ein hohes Ansehen in bestimmten Kreisen genießen konnte, wie auch den Schutz eines jeweiligen Gönners. Der gewaltsame Eingriff, der sämtliche geschlechtsspezifischen Eigenschaften und Äußerungen für immer ausschloss, konnte durchaus eine goldene Seite haben.

Für unsere Kultur und unsere Begriffe beinhaltete (und beinhaltet) Kastration eindeutig den unmissverständlichen und zutiefst grausamen Ausdruck von Entpersönlichung, Entmachtung und Geringschätzung jeglicher Individualität.

Wie sieht ein Vergleich mit der aus psychischen Gründen fettleibigen Frau aus?

Ihr mit ständigem Binge-Eating geplagter Körper wird zunehmend aufgeschwemmt und damit reizloser. So wirkt auch sie im geschlechtlichen Wettbewerb harmlos. Als fettleibige Frau stellt sie für andere Frauen keine ernstzunehmende Konkurrenz dar – schon gar nicht im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit eines Mannes oder mehrerer Männer.

Ihre Umwelt traut ihr kaum geschlechtliche Triebe und Wünsche zu, geschweige denn eine aktiv gelebte Sexualität. Auch sie ist körperlich stigmatisiert, hätte aber ihrerseits durchaus die (Verdrängungs-)Möglichkeit, gerade wegen ihrer Körperfülle und/oder mittels einer darstellerischen Begabung ihre Sucht im Showbusiness effektvoll zu überspielen oder, mit Rückzug auf sich selbst, ihr Leiden in einem aufopfernden Helferberuf zu kompensieren. So kann durch Esssucht bedingte weibliche Kastration ihre ebenfalls »goldenen« Seiten haben.

In den Interaktionen mit anderen Menschen und im Arbeitsumfeld schützt sie sich – da sie um ihre Verletzlichkeit weiß – gerne mittels Überanpassung, gepaart mit betont fröhlicher Zuvorkommenheit und teilweise ausufernder Hilfsbereitschaft. Dadurch bietet sie sich förmlich an, in ihren persönlichen Ansprüchen unterschätzt und so emotional ausgebeutet zu werden.

Kaum jemand interpretiert die Körperlichkeit einer durch Binge-Eating verunstalteten Frau richtig beziehungsweise macht sich die Mühe, diese überhaupt anzusprechen und zu hinterfragen. Diesbezüglich gut gemeinte Versuche scheitern sowieso meistens an einer ausgesprochen defensiven bis aggressiven Reaktion der betroffenen Frau. Oft dauert es Jahre, bis sie sich damit abfinden kann, dass ihr Essverhalten krankhaft, also außerhalb der Norm ist. So bleibt deren innere Isolation, die häufig depressive Stimmungslage, der mangelnde Selbstwert, das latente Misstrauen, der drängende Wunsch nach Zugehörigkeit und Zuwendung, der sexuelle Notzustand unbemerkt – die Sucht wuchert weiter.

Die gesellschaftlichen Umstände sind da wenig hilfreich: Fettleibigkeit mag zwar unschön sein, ist aber sozial kompatibel, das heißt sie »eckt« nirgendwo an und kann daher in der Schwere ihrer psychischen Tragweite nach wie vor missverstanden beziehungsweise übergangen werden. In der allgemeinen Wahrnehmung ist dick einfach dick. Und solange niemand dadurch deutlich genug zu Schaden kommt...

So genießen esssüchtige Menschen, gemeinsam mit den »üblichen Dicken«, wohl eine gewisse, aber eher geringschätzig gefärbte Nachsicht, durchzogen mit einem kleinen Mitleidbonus. Die gängigen Kommentare sind unsensibel und in ihrer herabsetzenden Art im höchsten Maß kränkend:

Psychisch bedingte Adipositas existiert noch nicht in der öffentlichen Wahrnehmung, Esssucht bleibt unerkannt, das Thema in seiner gesamten Unerfreulichkeit tabu – ganz im Gegensatz zu Anorexie und Bulimie, welche als Erkrankungen sozial kompatibler sind, wohl auch aus dem Grund, dass sie »ästhetischer« daherkommen.

Und so wird der eigentlich demonstrative Ruf einer esssüchtigen Frau nach echter Hilfe trotz (oder wegen?) aller zur Schau gestellten Körperfülle übersehen und überhört. Die betroffene Frau wird alleine gelassen in ihrer Krankheit, bleibt so nach wie vor der Gier ihres immer unförmiger werdenden Körpers ausgeliefert – die Negativ-Spirale der Sucht dreht sich in all ihren Konsequenzen gnadenlos weiter.

ESSSUCHT, EIN VERDECKTES LEBENSPROGRAMM OHNE LOBBY

Da Esssucht in der öffentlichen Wahrnehmung nicht existiert, dürfen esssüchtige Frauen sich selbst nicht als hilfebedürftig erkennen, sondern ordnen sich selbst, unreflektiert und fatalerweise sich zugehörig fühlend, in die Heerscharen der »Dicken« ein, von denen es in unserer hochzivilisierten Gesellschaft nur so wimmelt.

Und das Geschäft mit den Dicken blüht wie nie zuvor! Sei es nun in den Wellness- und Fitness-Zentren, in der Kleiderbranche, in den Schönheitssalons, in den kalorienarme Menüs anpreisenden Restaurants, indem in Zeitschriften und anderen Medien kostspielige Fastenkuren, die neuesten Diäten und Wundermittelchen, Tipps für die besten Fettabsaugadressen angepriesen werden, oder gar in den Räumlichkeiten irgendwelcher Scharlatane.

Übergewicht, die »paar Kilos zu viel« und deren gesundheitsschädigende Folgen ist in aller Munde, beherrscht Gespräche, ist sexy, füllt Kongresshallen, macht Schlagzeilen. Aber Esssucht in seinem peinlichen Ausdruck, in seiner Unförmigkeit rückt nicht ins Rampenlicht.

Mit dem Begriff »Esssucht« lässt sich nun mal kein Geschäft machen und schon gar keine ansprechenden und aufmunternden Titelblätter in Frauenmagazinen. Esssucht kann nicht schöngeredet werden, sondern ist und bleibt eine Krankheit, ein Leiden. Wen also wundert’s, dass Esssucht noch immer keine Lobby hat?

Ohne die tatkräftige Unterstützung einer Lobby, ohne eine sensibilisierte und damit empathische Öffentlichkeit können massiv übergewichtige Frauen ihre Sucht in der Regel recht lange verkennen, sehr zu ihrem eigenen Nachteil und unter Umständen ebenfalls zum Schaden ihrer näheren Bezugspersonen.

Nur allzu gerne folgen sie dem Mainstream und klammern sich an den Glauben, dass irgendwo schon noch die »richtige Diät« für sie bereitliegt – sie haben sie bloß noch nicht entdeckt. Und natürlich werden sie wiederum enttäuscht und frustriert werden durch das nächste, sicherlich gut gemeinte, aber für ihr eigentliches Leiden wiederum unstimmige Angebot.

Immer wieder wird die Hoffnung auf Körperkontrolle und bewusstes Kalorienmanagement geschürt und immer wieder bricht Enttäuschung und Frust über sie herein. In Ermangelung einer spezifischen, leicht zugänglichen Sucht-Aufklärung bleibt für sie nur der stereotype »Trost«, dass es

a) halt wieder mal das falsche Mittel beziehungsweise die falsche Diät war oder

b) dass es eben doch an einem noch zu schwachen Willen oder

c) am unpassenden Zeitpunkt liegen muss.

Durch dieses wiederholte »Versagen« wegen Nicht-Erkennens beziehungsweise Verleugnens ihrer Krankheit, der Esssucht, rutschen solcherart in ihrer Persönlichkeit und Körperlichkeit kastrierte Frauen tiefer und tiefer in das Dickicht eigener Defizite, Abhängigkeiten, Unzulänglichkeits- und Wertlosigkeitsgefühle. Ihre ohnehin getrübte Selbstwahrnehmung wird, je länger sie dauert, umso verzerrter.

Die esssüchtige Frau versteht die unbändige Gier ihres Körpers nicht, geschweige denn sich selbst. Wie auch? Sie verfügt ja über keinerlei Anhaltspunkte, was sie derart schädigend, ja geradezu dämonisch antreibt, sich selbst weiterhin derart respektlos zu verunstalten und gesundheitlich zu schädigen. Umso weniger, als ihre unentwegten Bemühungen um Körper- und Esskontrolle in deren Vergeblichkeit zwar missverstanden, aber gesellschaftlich durchaus »honoriert« werden.

Wegen ihrer Fettleibigkeit erhält sie, wenn auch nicht spezifisch-konkrete Hilfeleistung, so doch Tipps von allen Seiten, es regnet Komplimente und Schmeicheleien über tatsächlich oder nur vermeintlich abgenommene Kilos. Viele Trostworte fallen, wenn den etwaigen Minus-Kilos die obligaten neuen Kilos (bedingt durch den Jojo-Effekt) folgen. Eine von Oberflächlichkeit und Überheblichkeit geprägte Form der Aufmerksamkeit, die den Kern ihres Leidens völlig verfehlt und so die Sucht missachtet und schürt.

Auch befindet sie sich mit unzähligen »Dicken« in guter Gesellschaft. Der alles dominierende, buchstäblich gewichtige und einbindende Gesprächsstoff geht nie aus, er ist längst zum ausfüllenden, alles beherrschenden Lebensthema geworden.

Wie sähe denn das eigentliche, tatsächlich selbstbestimmte Leben einer solchen Frau ohne ihr nicht zu kontrollierendes, massives Übergewicht aus? Wenn nicht ihre körperliche Verunstaltung den Tagesablauf, ihre Zukunftspläne, ihre Beziehungen – ihr Leben überhaupt – prägen würde? Wenn sie endlich ihre Persönlichkeit, ihre Weiblichkeit aufspüren und ausleben dürfte, dies ohne Stress, ohne Ängste, ohne Erwartungsdruck noch Direktiven beziehungsweise Manipulationen von außen?

Jede dieser durch Esssucht kastrierten Frauen hat auf diese Fragen einen ganzen Antwortkatalog bereit, der genau schildert, was sie zusätzlich alles tun möchte und würde – vorausgesetzt, sie wäre endlich schlank!

Bleibt die vorsichtige Frage, warum sie ihre so genau definierten Ziele trotz aller noch so breit gefächerten »normalen« Hilfsangebote nicht nachhaltig umsetzen kann? Wenn doch ihre angestrebte Lebensqualität nur noch von diesem verflixten Schlanksein abhängt? Warum überfallen sie dann, allen Einsichten und guten Vorsätzen zum Trotz, immer wieder diese unsäglich erniedrigenden Gierattacken, die sie regelmäßig vor sich selbst und der Umwelt schönredet und damit verleugnet?

Es ist undenkbar, dass ein Mensch, eine Frau ein solcherart eingeschränktes Leben bewusst beschritten beziehungsweise je angestrebt hätte. Ein Leben, welches geradezu dazu verdammt ist, von Selbstvertrauen, Eigenständigkeit, Attraktivität und erfüllter Sexualität lediglich zu träumen. Welches unerkannte, stille Drama spielte sich da ab, das derartig selbstzerstörerische Episoden wie Binge-Eating hervorbringt?

Oder, um im Bild des männlichen Kastraten zu bleiben, wer oder was überhaupt könnte ein Interesse an dieser »modernen« Form der Kastration haben? Wohl kaum die Betroffene selbst ... Der Lustgewinn bei Esssucht ist nun mal äußerst gering, vor allem im Nachhinein, wenn die Scham- und Schuldgefühle alles andere überdecken.

Wer möchte verhindern, dass eine Frau Selbstsicherheit und anziehende Weiblichkeit ausstrahlt, über ein breites Beziehungsspektrum und ein ausgefülltes Sexualleben verfügt? Wer wäre denn derart missgünstig? Wohl nur jemand, der sich durch diese gelebten positiven Eigenschaften, durch diese Lebensqualitäten angegriffen fühlen könnte ... Also ein Mensch, der unbedingt vermeiden möchte, in seiner Persönlichkeit, in seinem eigenen Lebenskonzept infrage gestellt zu werden.

Dann kann es aber nur jemand sein, der früh genug auf eine derart dominant-beherrschende Weise in ein anderes Leben eingreifen konnte, auf eine Weise, dass das Fundament eines abhängigen, also eines (Ess-)Suchtcharakters entstehen konnte. Es kann sich hier um einen Menschen handeln, der ganz selbstverständlich in der Lage war, eine mächtige und dadurch prägende Funktion auszuüben in Bezug auf Persönlichkeit, Körperlichkeit und Autonomie-Entwicklung eines Kindes – und der diese Verantwortung missachtete ...

Nun, für eine Tochter gibt es nur eine Person, welche die Stellung und damit Möglichkeit zu dieser Negativ-Prägung besaß und besitzt: die eigene Mutter!

ESSSUCHT UND
DEREN TATSÄCHLICHE WURZEL

Die Mutter als missgünstige, als verunstaltende Täterin ... Ein schlimmer Gedanke! Aber nur sie (oder ihr weiblicher Ersatz) hatte die Möglichkeit, das Selbstverständnis der Tochter maßgeblich zu beeinflussen, bei ihr mittels einer übermäßigen Dominanz und Kontrolle die körperliche und persönliche Selbstbestimmung zu behindern und damit die Grundlage zu einem Suchtcharakter zu legen.

Es ist üblicherweise nach wie vor in erster Linie die Mutter, welche für die Bedürfnisse und Anliegen des noch hilflosen und völlig abhängigen Säuglings zuständig ist. Dabei strahlt sie emotional positive oder negative Signale aus, welche ganz unmittelbar vom Säugling aufgefangen werden – die allererste, zutiefst prägende Interaktion im Leben eines Menschen. Die nachhaltige Botschaft, ob und wie willkommen er ist in diesem ihm noch unbekannten Erdendasein.

Über die zuverlässige Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nach Aufmerksamkeit, Nähe, Zuwendung und Nahrung entwickelt sich ein fundamentales Vertrauen und Selbstverständnis – und damit die Basis in der Persönlichkeitsstruktur eines jeden Menschen.

Bei einer Tochter ist die Mutter zudem nicht nur die erste, sondern auch die wichtigste weibliche Identifikationsfigur. Von ihr wird das kleine Mädchen in seinen frühesten Jahren lernen, wie es mit seinem Körper und dessen Bedürfnissen umzugehen hat. Es kopiert das Körperbild der Mutter, wie eine Frau ausschaut beziehungsweise ausschauen sollte, wie sie spricht, sich bewegt, reagiert – lauter prägende Einflüsse und Eindrücke, gegen die es sich später teilweise abgrenzen wird (und auch muss), um eine eigene Identität zu entfalten.

Auch sieht jedes kleine Mädchen, wie die Mutter sich gegenüber ihrem Lebenspartner, Männern überhaupt, positioniert und verhält. So erlebt es mit, wenn auch noch unbewusst, wie die Mutter mit ihrer Weiblichkeit umgeht. Ob ihre Geschlechtlichkeit, ihre körperliche Befindlichkeit überhaupt, ein gut integrierter Bestandteil ihres Lebens ist, oder ob sie eher Mühe damit hat.

Kein Weg führt daran vorbei: Es ist nun mal die Mutter (beziehungsweise ihr weiblicher Ersatz), welche der kleinen Tochter den Zugang zu der Welt der Frauen eröffnet – ihr somit lebenslang prägende Verhaltensmuster vorgibt. Es ist also auch die Mutter, die ihrer Tochter die innere Freiheit geben und lassen muss, auf all diesen Pfaden eine ganz eigene Persönlichkeit zu finden und diese langsam, in zunehmender Autonomie, zu entwickeln.

Eine in ihrer Persönlichkeit positiv verankerte und selbstbewusste Frau wird damit wenig Schwierigkeiten haben. Sie wird nach und nach ihre Tochter in die Eigenständigkeit entlassen können. Alleine schon durch ihre Ausstrahlung wird sie die Botschaft vermitteln können: Es ist schön, Frau zu sein! Pack dein Leben an, meine Tochter, und gestalte es auch du zu deiner Zufriedenheit.

Wobei eine mit sich und ihrem Leben unzufriedene, sexuell frustrierte Frau einen Teil ihrer Bitterkeit allmählich und teilweise auf ihre Tochter übertragen wird, ob nun von ihr beabsichtigt oder nicht. Hier lautet die unterschwellige Botschaft: »Es ist mühsam und enttäuschend, Frau zu sein! Ich hätte wesentlich Besseres verdient. Aber leider waren die Umstände nicht günstig. Mein Leben ist schwierig genug, aber ich beiße die Zähne zusammen. Immerhin habe ich ja jetzt dich und erwarte für meine Aufopferung Verständnis und eine entsprechende Dankbarkeit von dir ...«

Noch verschlimmert wird eine solche emotionale Anspruchshaltung, wenn eine unreife, wenig selbstsichere Frau sich bereits durch die Geburt ihrer Tochter eingeengt fühlt, diese also dafür verantwortlich macht, dass ihr Leben nun eingeschränkt und mit Verantwortung belastet ist. Denn dann schwingt auch noch eine Schuldzuweisung mit. Die Schuld, überhaupt geboren zu sein.

Man stelle sich nun ein Kleinkind vor, das weder Abstraktionsvermögen noch Abgrenzungsmöglichkeiten besitzt – es nimmt die geringste Unstimmigkeit in seiner Umgebung ganz unmittelbar wahr. Selbst wenn die familiale Fassade zufrieden und harmonisch wirken mag – ein unstimmiger Hinter- beziehungsweise Untergrund bei seiner nächsten Bezugsperson ist für das Kleinkind beunruhigend und für die weitere Entwicklung seiner Persönlichkeit verunsichernd prägend. Dieser Zustand ist am ehesten mit dem Bild eines schönen Hauses vergleichbar, dessen Fundamente aber morsch sind. Erste Risse und ein möglicher Einsturz sind vorprogrammiert.

Was geschieht nun, wenn eine Mutter morsche Fundamente in ihrem Ego, in ihrem Selbstbewusstsein, in ihrem Lebenskonzept hat und diese schmerzhaft an die Oberfläche drängen? Aus der Tiefe ihres Ichs hervorgeholt durch die Geburt, durch die Gegenwart ihres Kindes? Hat sie den Mut und die Einsicht, sich der Herausforderung zu stellen, ihre latente Unsicherheit, den teilweise mangelnden Selbstwert und die damit verbundene Selbstbezogenheit aufzuarbeiten?

Wenn ja, dann können narzisstische Defizite, sprich Minderwertigkeitsgefühle, rechtzeitig aufgefangen, verarbeitet und konstruktiv umgesetzt werden. Und dann wäre das Risiko einer Übertragung unterschwelliger Ich-Verunsicherungen wie Eifersucht, Rivalität und Missgunst auf das Kind aus der Welt geschafft.

Sollte aber eine narzisstisch defizitäre Mutter sich weigern, sich kritisch zu hinterfragen, ihre Selbstwahrnehmung zu überprüfen, dann ist speziell für eine Tochter Unheil angesagt. Als angehende Frau wird sie unwissentlich zur Projektionsfläche der verdrängten Gefühle ihrer Mutter, analog einer lebendigen Leinwand.

Eine derartige Mutter (miss)braucht ihre noch unreife, anhängliche und willige Tochter, um sich ihren eigenen Minderwertigkeitsgefühlen zum Trotz immer wieder die Bestätigung zu holen, dass sie eigentlich gut funktioniert, kaum je Fehler macht, dass in ihrem Leben eigentlich alles in bester Ordnung und keinesfalls verbesserungswürdig sei. Dadurch stempelt sie ihre Tochter ungewollt zur Mitwisserin und damit Komplizin ihrer komplizierten Lebenslügen ...

Bedingung für diese unheilige Komplizenschaft ist allerdings, dass die Tochter unter der mütterlichen Kontrolle und Herrschaft bleibt und ihre Statistenrolle nicht hinterfragt. Nur so besteht die Gewähr, dass keine kritische Sicht und Distanz aufkommen kann beziehungsweise dass die Tochter sich von der Mutter abnabeln könnte.

Diese Sicherstellung der Lebenslügen der Mutter benötigt eine manipulierte Sichtweise der Tochter, eine angelegte partielle »Blindheit«, welche nur über die frühe Einschränkung ihrer Wahrnehmung zu erreichen ist. Kurz: Die Tochter darf in ihrer Persönlichkeit so wenig wie möglich selbstbestimmt werden. Sie wird zur Statistenrolle degradiert im Lebenskonzept ihrer Mutter.

Frei umgesetzt in die Sprache der Transaktionsanalyse würde dies bedeuten: »Ich bin nicht o. k. – also darfst auch du nie o. k. sein! Denn sonst stellst du mich infrage und ich werde gegen meinen Willen mit meinen verdrängten Defiziten und Problemen konfrontiert.« Hier liegt das tragende, wenn auch unbewusste Motiv für die (ebenfalls unbewusste) Kastration der Tochter durch eine narzisstisch gestörte Mutter.

In all meinen therapeutischen Untersuchungen zeigte es sich, dass nur den wenigsten kastrierten Frauen ansatzweise bewusst war, dass auch ihre Mütter ein mehr oder weniger beschnittenes Leben als Frau führen, also nicht nur »Täterinnen«, sondern ihrerseits ebenfalls Opfer abwertender Prägungen und Botschaften sind.

Stets aber fehlte die nötige Distanz und die Fähigkeit zu einer rechtzeitigen kritischen Würdigung der »echten« Persönlichkeit und Befindlichkeit der Mutter – und damit die Erkenntnis, wie wichtig, da heilsam, eine rechtzeitige Abnabelung gewesen wäre. Und wie dieselbe von der Mutter boykottiert, verhindert wurde.

Dazu bedarf es nicht mal einer deutlich ersichtlich negativen Handlung. Es ist eine Sache der Atmosphäre, einer wie auch immer unterschwellig vermittelten Wahrnehmung und Befindlichkeit. Jeder Mensch wird nun mal in frühester Kindheit psychosozial geprägt und bleibt in seinem Wesen von seinen ersten Bezugspersonen nachhaltig beeinflusst.

Mutterschaft ist da unantastbar wie eine heilige Kuh und setzt so schon mal einen großen Stolperstein im Erkennen wesentlicher und persönlichkeitsschädigender Zusammenhänge. Dass eine Mutter auf ihre Kinder destruktiv einwirken könnte, scheint uns noch immer ein profaner, ja fast sündiger Gedanke.

Meistens setzt da entsetztes Kopfschütteln und empörte Abwehr ein. Natürlich gibt es immer wieder Verbrecherinnen unter den Frauen – aber eine »normale« Mutter, die ihre Tochter in deren Persönlichkeitsentwicklung behindert, abwertet, sie psychisch abhängig macht, sie zur Sucht, zum Sich-zu-Tode-Mästen treibt?! Das kann, nein, darf wohl nicht wahr sein.

Und doch, auch »normale« Mütter können, wenn auch unbewusst, sehr wohl schaden. Die Millionen durch Übergewicht verunstalteten, in ihrer Körperautonomie und ihrem Selbstverständnis buchstäblich beschädigten Töchter beweisen es leider zur Genüge.

Natürlich gibt es eine nachsichtige Betrachtungsweise für die »bösen« Auswirkungen einer Frau und Mutter, welche selbst immer wieder von Minderwertigkeitsgefühlen befallen wird, entsprechend verunsichert ist, folglich von ihrem Leben und ihrer partnerschaftlichen Beziehung konsequent enttäuscht wird, aber sich keinesfalls konstruktiv-kritisch hinterfragen mag – und diese Möglichkeit auch niemandem zugestehen will.

Irgendwie musste sie doch diese ihr garantiert immer wieder schmerzhafte Selbstsicht verleugnen. Aus Selbstschutzgründen spaltete und lagerte sie die defizitären Seiten ihrer Persönlichkeit ab, analog den viel zitierten Skeletten im Kellergewölbe. Aber, einem Geschwür nicht unähnlich, wuchert es in ihr weiter und möchte sich bemerkbar machen. Unterdrückte psychische Anteile haben nun mal die Tendenz, an die Oberfläche kommen zu wollen, um endlich die nötige Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten.

Trotzdem möchte diese Frau weiterhin verdrängen, meistens gepaart mit immer stärker werdenden Symptomen wie Kopfschmerzen, Migräneanfälle, Sehstörungen, Allergien, Unterleibsbeschwerden etc. Sie missachtet jedoch diese körperlichen Signale, diese Hinweise, und beraubt sich so auch weiterhin jeglicher Chance einer positiven Veränderung. Auf wohlmeinende Kritik und Anregungen reagiert sie überheblich und defensiv. Lieber igelt sie sich weiterhin in einer sorgfältig gehüteten Scheinwelt ab – in ihren sorgfältig aufgebauten Lebenslügen.