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Roland E. Koch

Dinge, die ich von ihm weiß

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Roland E. Koch

Dinge, die ich
von ihm weiß

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek

ISBN 978-3-937717-69-2

eISBN 978-3-943941-17-3

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2011

I

Er ist mir bis zum Schluss rätselhaft geblieben, ich habe ihn nicht verstanden und wusste nie, liebt er mich wirklich? Bin ich eine verrückte alte Frau geworden, dass ich auf einmal solche Sachen denke? Was ich damals falsch gemacht habe, wie ich mich hätte durchsetzen können. Ihn hätte ich vieles fragen müssen. Natürlich hätte er über diese Dinge nie gesprochen, so was konnte ich ihm nicht aus der Nase ziehen. Ich dachte damals, wir verstehen uns auch so, schweigend. Ich war sicher, ich wüsste, was er bei mir suchte.

Zum Schluss habe ich ihm noch geraten, den Arzt kommen zu lassen wegen seiner Bauchschmerzen, aber auch das ließ er sich von mir nicht sagen. Vielleicht hat er ihn sogar extra nicht kommen lassen, nur weil ich ihn gedrängt habe. Oder er war zu erschöpft. Es ist komisch, dass auch Erwachsene manches aus Trotz tun.

Die Operation kam dann zu spät. Er hätte noch zehn Jahre leben können oder zwanzig, aber wir würden bestimmt keine Ruhe gefunden haben, auch mit achtzig oder fünfundachtzig hätte er nicht aufgegeben zu kämpfen, er musste immer kämpfen, und freiwillig hat er nie etwas getan. Er musste sich mit jemandem anlegen, sonst war er nicht zufrieden. Manchmal werde ich wütend auf ihn, wenn ich daran denke. Ich sehe sein zorngefülltes Gesicht vor mir, und ich würde ihn am liebsten noch einmal kneifen dafür, dass er immer widersprechen musste. Oft gab er keine Antwort, sondern sah mich grimmig an, so als werde er mich gleich schlagen oder anschreien, das habe ich gehasst an ihm.

Es war ein Schock für Münster, für das ganze Land, und für mich, als er plötzlich starb, es entstand eine Stimmung, als würden wir noch einmal verlieren, oder als hätte Hitler ihn aus dem Grab mit seiner Rache eingeholt. Ich dachte damals, ich erzähle alles, aber das habe ich mich nicht getraut. Ich wollte ja auswandern. Ich war erst 48, und mein Lebenswille war stark. Verraten muss man im Leben immer jemanden, entweder sich selbst oder einen anderen, man wird dazu gezwungen, es geht nicht anders, man kann nicht sauber und unschuldig bleiben.

An Clau denke ich jetzt seltener, es ist ja alles schon zwanzig Jahre her, aber ich träume von ihm, und ich glaube, er wird mich eines Tages zu sich holen. Ich werde nachts wach, weil ich seine Stimme gehört habe, er ruft mich von da oben, und ich muss mich gürten und zu ihm kommen. Manchmal redet er auch von der Mappe, die er mir gegeben hat, in der wichtige Unterlagen waren, aber ich habe sie nicht mehr. Dann sieht er mich grimmig an.

Wir müssen uns gürten, Maria, hat er immer gesagt, wenn er etwas Wichtiges vorhatte, wenn er wieder in den Kampf zog.

Er war wie ein Soldat, ja vielleicht ist er in einem vorigen Leben Soldat gewesen, er fand nie Ruhe, immer fürchtete er, jemand könnte ihm auflauern, ihn ausspähen, auf seine schwache Stunde warten. Sogar vor mir hatte er manchmal Angst, ich könnte ihm etwas tun. Er war innerlich immer bereit zum Kampf. Von heute aus sieht das alles leicht aus mit seinen Predigten und der Lebensgefahr, in die er sich begab, aber so war es nicht. Ich möchte hier die Wahrheit sagen, solange ich noch lebe, damit sie vielleicht später mal ans Tageslicht kommt, denn damals durfte ich nicht darüber sprechen. Endlich soll man ihn nicht nur auf der Kanzel sehen in seinen Gewändern, mit seinem Stab und der Schleppe. Da hatten die Leute Respekt vor ihm oder Angst, und er versuchte auch mal, freundlich zu gucken.

Er meinte immer, dass ich zu geschwätzig sei und alles rauskäme, weil ich meinen Mund nicht halten könne, aber zu schweigen und zu lügen und noch mal zu lügen, das macht krank. Er ist ja berühmt für seinen Mut, aber zu Hause war er überhaupt nicht mutig, das kann man schon sagen. Jedenfalls mit mir war er das nicht. Wenn er in einer anderen Zeit gelebt hätte, wäre er wahrscheinlich nicht aufgestanden. Wir hätten im Stillen gelebt, ohne den ständigen Zorn, die ständige Angst, aber das konnten wir uns nicht aussuchen.

Ich war enttäuscht, dass er mir nichts vererbt hat, natürlich haben wir ja nicht damit gerechnet, dass er so plötzlich stirbt, aber mit 68 muss man doch schon mal darüber nachdenken. Das wollte er nicht, er wollte als Kardinal noch mehr kämpfen, er hat sich selber nicht als alten Mann gesehen. Er dachte wohl, er hat noch zehn Jahre Zeit. Nichts hat er mir hinterlassen, das muss man sich mal vorstellen, dabei war ich dreizehn Jahre bei ihm. Nur, damit nichts rauskommt! War das denn das Wichtigste? Vielleicht hat er auch gemeint, die Mappe solle eine Art Erbe sein, aber es liegt mir nicht, aus so was Geld zu schlagen.

Seit ich aus der Kirche ausgetreten bin vor acht Jahren, hadere ich nicht mehr so mit ihm; er war ja auch kein großer Gläubiger, deswegen hat er sich allem unterworfen, was von ihm verlangt wurde, er hat sich mit den Regeln nie angelegt. Dabei haben die Oberen ihn doch nur schlecht behandelt, die haben ihn für blöd gehalten. Keiner wollte mitziehen, sie haben ihn alleingelassen. Nur er hielt sich an die Absprachen. Das hatte er von seinem Vater, Versprechen halten, pünktlich sein, genau, zuverlässig, gradlinig, nannten sie das.

Er ist jetzt zwanzig Jahre tot, und irgendwie denke ich heute anders über ihn. Wenn er sechzig Jahre früher oder später geboren worden wäre, wäre er vielleicht nie berühmt geworden, aber gekämpft hätte er dann bestimmt auch. Wie schwer ist es, einen Menschen gerecht zu beschreiben, mit all dem Unheimlichen und Unergründlichen. Es kommt mir so vor, als ob es diesen einen Menschen gar nicht gegeben hat, sondern nur verschiedene Bilder, die ich von ihm male.

Das erste Mal habe ich ihn als junges Mädchen gesehen, als meine Schwester gefirmt wurde, bei uns in Vellern. Er hat das immer bestritten, dass er damals dabei war als junger Priester, eigentlich lebte er ja schon lange in Berlin. Aber wahrscheinlich war er zu Besuch zu Hause und ist irgendwie eingeteilt worden, auszuhelfen bei der Firmung. Ich werde diesen Anblick nie vergessen.

Er fiel sofort auf, weil er so groß war, fast zwei Meter, das war etwas Besonderes, obwohl er aus dieser Größe nichts machte, keinen Vorteil daraus zog. Er ging nicht so selbstbewusst damit um, wie jemand anderes es getan hätte. Er schwankte sogar manchmal beim Gehen wie ein Baum im Wind. Er gefiel mir damals schon, er hatte dieses kräftige Kinn mit der Kerbe in der Mitte, er sah kühn aus und trotzig, aber gutmütig, hilfsbereit, nicht brutal. Seine Augenbrauen machten alles wieder gut, komisch, buschig, als zwinkerten sie, da es den Augen nicht erlaubt war. Den Grimm habe ich damals noch nicht gesehen.

Ich bin die älteste von acht Geschwistern, wir haben den Hof seit vielen Generationen, und uns ging es gut. Mein Vater war stolz auf den Hof, die Familie, wir hatten Knechte und sogar ein Dienstmädchen. Trotzdem mussten wir natürlich alle arbeiten, Hausaufgaben durfte ich nie machen, und mein Vater sprach sowieso nur mit den Jungen, ich kann mich nicht erinnern, dass er einmal von sich aus mit mir geredet hätte.

Ich wäre so gern Lehrerin geworden, dann hätte ich auf die höhere Schule gehen müssen, wie hätte ich da jeden Tag hinkommen sollen? Und dort wohnen, das wollte mein Vater nicht. Irgendwie wollte er gar nicht, dass ein Mädchen Abitur machte, das passte für ihn nicht zusammen. Also wurde es die Hauswirtschaftsschule. Ich hatte keine Lust zum Kochen und Nähen, aber dann kam der Krieg, und zwei Brüder wurden Soldaten. Ich musste auf dem Hof arbeiten und konnte noch nicht einmal die Schule zu Ende machen. An eine Stelle war auch nicht zu denken.

Als ich Clau das erste Mal sah, war ich fünfzehn, und ich träumte davon, Lehrerin zu werden, Bücher zu lesen, ins Theater zu gehen. Irgendwie hing das zusammen. Clau wirkte offen für alles, was ihm begegnete. Er hatte so eine Art, sich schelmisch übers Kinn zu streichen, als sei das alles nicht ernst gemeint, der ganze Aufzug, die Gewänder, der Weihrauch, die Messdiener, als komme es doch auf etwas anderes an, das hat mich beeindruckt. Ich empfand eine plötzliche, heftige Sehnsucht nach etwas Neuem, das ich nicht begreifen konnte, das weit weg war, und doch spürte ich, wie es an mir zog.

Es wurde über ihn getuschelt, dass er besonders streng sei, angeblich soll er einem Mädchen, das mit nackten Armen in die Kirche kam, die Kommunion verweigert haben, oder ein anderes, das mit bloßen Beinen Fahrrad fuhr, angebrüllt haben, aber sicher waren das Gerüchte. Man sah ihm an, dass er so sittenstreng gar nicht sein konnte, oder leicht in Versuchung geführt wurde? Vielleicht musste er deswegen so hart reagieren, weil ihn diese nackten Arme und Beine verführten? Gebrüllt hat er allerdings später oft genug.

Nach der Firmung kam der Bischof auf mich zu und sprach mich an, er fragte, ob ich auch zur Beichte ging, so was Weltfremdes. Ich hätte lieber mit Clau gesprochen, aber der verschwand irgendwo zum Essen. Natürlich musste ich jede Woche zur Beichte, aber ich log, ich hätte meine Geschwister geärgert oder meiner Freundin nicht verziehen, so was eben. Ich hatte mit dem Josef schon längst in der Scheune gelegen, oben unter dem Dach, ich wusste alles. Wir hatten ja sonst nichts, ins Kino oder tanzen gehen durften wir nicht, immer nur in die Kirche.

Mir ist, als hätte ich damals nach der Firmung ein Geräusch gehört, einen Pfiff, dann die Fetzen eines Gesprächs, eher eines Streits, so, als seien zwei Männer kurz handgreiflich geworden und hätten anschließend versucht, den Streit zu vertuschen. Ich stand zu weit weg, aber ich meine, ich hätte den Satz gehört: Das wirst du noch bereuen!

Ob Clau das gesagt hat oder jemand anderes, kann ich nicht entscheiden. Ich sehe ihn einfach noch da gehen, unter dem blauen Himmel, ich spüre, wie es damals war, fühle die Kraft, die ich in meiner Seele hatte, die sich ganz weit entfalten wollte und erheben, die nach allem griff, was entfernt und schön war.

Ich muss oft an seinen Geruch denken, es war so ein tiefer, verlässlicher Geruch, nach Blättern, nach Rinde, es sei denn, er hatte Angst oder war nervös, dann roch er ganz anders, und ich mochte das nicht. Er war nicht immer stur und trotzig, oft wirkte er wie ein kleiner Junge, der Angst hat vor der Schule, vor der Klasse und seine Hausaufgaben vor sich herschiebt.

Nach dem Krieg war ich zwanzig, und Josef längst woanders, mein zweitjüngerer Bruder war nicht wiedergekommen; Albert, der andere, sprach mit niemandem mehr und weinte manchmal nachts, sonst arbeitete er, aß, schlief, aber heiraten wollte er nicht. Ich hätte einen finden können, aber es war nicht viel Auswahl, und ich hatte keine Lust, jemandem hinterherzulaufen. Manchmal fehlte mir jemand, der mich umarmte und an sich drückte, aber ich wollte stark sein.

Ich konnte die Hauswirtschaftsschule nachholen, meine Schwester heiratete, dann der nächste Bruder; ich hatte verschiedene Stellen, aber ich war es nicht gewohnt, mich herumkommandieren zu lassen. Wir hatten schließlich selbst Dienstmädchen gehabt. Ich zog wieder auf den Hof zurück. Albert, der stumme Bruder, übernahm ihn, und ich wurde beinahe die Bäuerin, wir arbeiteten wie Mann und Frau, und es ging ganz gut. Bis diese Verrückte auftauchte, die auch nicht redete und ihn schließlich rumkriegte. Da wollte ich nicht mehr bleiben.

Das war 1933, und ich ging nach Münster, da kam ich zu Clau. Das war meine erste Stelle in der Stadt, mein Onkel hatte mich empfohlen, sonst hätte ich die nie bekommen. Mein Onkel kannte irgendjemanden beim Generalvikariat, jedenfalls tat er das für mich. Ich kam zu Clau, ich hatte mich ein bisschen auf älter gemacht, mit dunklen Sachen, denn ich war ja eigentlich zu jung. Ich bemerkte wieder sofort, dass er anders war. Ein Adliger und gelehrter Mann, ein Bischof, und trotzdem sah er ein wenig so aus wie mein Bruder, nicht wie diese raffinierten heuchlerischen Leute. Er rieb sich gleich das Kinn, als er mich sah, so als wolle er sagen, dass wir bestimmt viel Spaß zusammen haben würden. Ich spürte wieder die Sehnsucht nach etwas weit Wegliegendem, es war, als würde eine Sehne oder ein tiefliegendes Band aus meinem Körper gezogen.

Ein Jahr ging alles gut, Clau war mit meiner Arbeit und meinem Essen zufrieden, ich sah ihn nicht oft, aber er fragte mich manchmal nach dem Abendbrot etwas, gab mir Bücher, stellte Fragen dazu und zeigte mir, wie man kleine Zusammenfassungen schreibt. Überhaupt, er verbesserte meine Schrift, meine Rechtschreibung, und neben meiner Arbeit war ich immer beschäftigt, zu lesen, zu lernen, ich las ihm aus der Zeitung vor, wir sprachen darüber, er nahm sich Zeit.

Er hatte ja einen Sekretär und viele Leute, die für ihn arbeiteten, aber er wollte, dass ich noch etwas lernte, er hatte vielleicht meine Träume gespürt, und so brachte er mir Latein bei, Mathematik, und ich wurde eine richtig gute Schülerin. Ich lernte Italienisch, etwas Griechisch, es war wie ein Wunder, es war ein Wunder. Ich hätte bestimmt das Abitur geschafft. Er selbst war nicht gut in der Schule gewesen und meinte oft, dass ich viel begabter wäre.

Es gab natürlich auch Leute, die darüber redeten, was er für eine junge Haushälterin habe, aber Clau stand so weit über ihnen, dass er nichts bemerkte, und er hatte einen überaus strengen Ruf, so dass sich keiner traute, ihm was zu unterstellen.

Warum er das tat? Besonders hübsch oder so war ich wohl nicht, daran kann es nicht gelegen haben. Eher derb sah ich aus, oder ich fand mich derb, ich hatte nie Interesse an schönen Kleidern, an Frisuren, an Schuhen oder Schmuck. Ich wäre besser ein Junge geworden, dann hätte mein Vater wenigstens ab und zu mit mir gesprochen, mir gesagt, was ich tun sollte. Aber Clau, der war anders, er war vielleicht kein großer Theologe, und er hatte sein Abitur nur mit Mühe geschafft, aber er sah sofort, was einen Menschen ausmacht, die Seele.

Was er dann bei mir gesehen hat, weiß ich nicht, er kümmerte sich einfach um mich. Ich war den ganzen Tag in der Schürze, baden tat ich einmal in der Woche, und dann zog ich eine frische Bluse an, das war alles. Im Sommer ging ich manchmal schwimmen, darum beneidete er mich natürlich und wäre gern mitgekommen, aber das konnte er sich nicht erlauben, als Bischof plötzlich in der Badehose am Aasee auftauchen oder im Schwimmbad. Das Palais war noch alt und ohne Komfort, ich konnte froh sein, dass ich ein Küchenmädchen hatte, sonst hätte ich das alles nicht geschafft.

Das erste Jahr bei Clau war vielleicht das schönste, auch wenn das heute komisch klingt. Ich merkte, dass er sich aufregte, wenn es um Politik ging, Hitler war ja schon an der Macht, und Clau sprach davon, was sich alles ändern werde jetzt im Deutschen Reich. Alle würden Arbeit haben, den Bauern würde es besser gehen, wir würden uns rächen für die Demütigungen. Die Kirche würde wieder mehr Einfluss bekommen.

Er hat ja gar nicht Theologe werden wollen, aber irgendwie war das eine Familientradition, dass einer aufs Priesterseminar gehen musste, und sein Vater hatte ihn gezwungen. Er wäre am liebsten Sportler geworden, Skifahrer oder Leichtathlet, er war gut im Ballsport, oder Jäger, aber so was kam natürlich nicht in Frage. Auch Medizin hätte er gern studiert, der Vater war streng, und keiner traute sich, gegen ihn aufzumucken. Dreizehn Kinder, die arme Frau!

Er war auch der Falsche für den Zölibat, das sah man sofort. Er war nicht so ein blasser, vergeistigter, linkischer Typ, der das alles ausschwitzen konnte, er hätte selbst viele Kinder haben können und eine Frau. Aber sein Onkel war auch Bischof, und er musste da wohl mitziehen.

Den Onkel mochte er sehr, der hat sich immer um ihn gekümmert, wenn er Sorgen hatte. Er wäre auch bestimmt ein guter Bauer geworden, alles Mögliche, nur Reden halten, das konnte er nicht gut. Er wurde dann starr und ungeschickt, schwankte auf seinen langen Beinen, er spürte, dass es den Leuten beinahe peinlich war, wenn er etwas Unangenehmes sagte, und für meinen Geschmack hielt er sich zu sehr zurück.

Er aß am liebsten Bratkartoffeln mit Speck, die musste ich ihm immer machen, wenn wir allein waren, er trank gern starken schwarzen Kaffee und rauchte heimlich Zigarren, dann nahm er auch ein paar Korn nach dem Essen, aber man merkte ihm nie was an. So ein großer Mann braucht schon eine Menge Kalorien und kann was vertragen. Oder Möpkenbrot, das war sein eigentliches Leibgericht, aber das konnte ich nur machen, wenn jemand schlachtete, dazu braucht man das warme Schweineblut. Wenn es keins gab, redete er tagelang davon, ich sollte mal wieder Möpkenbrot machen, aber so oft schaffte ich das nicht. Man braucht auch die richtigen Gewürze, und das aus der Metzgerei taugte nichts.

Wenn ich abends müde war, rief er mich in sein Studierzimmer, hörte mir Vokabeln ab, ließ mich etwas vorlesen oder fragte mich nach dem, was ich gelesen hatte. Wenn er unterwegs war, hatte ich ja immer Zeit, zu lesen, ich schickte Hildegard, das Küchenmädchen weg, und dann machte ich es mir richtig gemütlich mit meinem Buch oder den Vokabeln.

Einmal musste ich meine Eltern einladen, er wollte sie kennenlernen, und sie sollten bei uns essen, ich durfte einen Kalbsbraten machen. Die waren stolz und schüchtern, sie kamen mir plötzlich alt oder beschränkt vor. Aber Clau ließ das nicht gelten, er machte keine Konversation, das hasste er, er kam sofort zur Sache und brachte sie zum Reden. Wenn vier oder fünf Leute zusammen waren, konnte er reden und zuhören, das war ein richtig schöner Nachmittag, und nachher war ich stolz auf ihn, wie er das geschafft hatte. Er fing sofort mit meinem Vater ein Gespräch über den Hof an, über das Getreide, und mit meiner Mutter redete er über die Hühner, über die Kinder, sie wurden richtig lebendig. Sie sahen, dass ich es gut hatte.

Manchmal erzählte er auch von seinem Ärger, das Generalvikariat ärgerte ihn, die Verwaltungsleute, die Finanzplanung, alles, was er unterschreiben musste. Ich wunderte mich, dass er mit mir darüber sprach, aber wenn er abends seine Soutane ausgezogen hatte und den Hausanzug trug, war er ein ganz normaler Mann, der aus dem Büro kam und von seiner Arbeit redete.

Es war sofort etwas zwischen uns, vom ersten Moment an. Er hat das nie eingestanden, aber ich spürte es. Dieses Gefühl versuchte ich wegzuschieben, ich wollte mich nicht darauf einlassen, es machte mich unruhig. Ich hatte ein schönes großes Zimmer gleich unten neben der Küche, zum ersten Mal so viel Platz für mich, und Clau störte mich nicht, wenn er nur für sich etwas brauchte. Er machte selbst Feuer, kochte sich Kaffee oder briet ein Ei, wenn er nicht schlafen konnte. Er hatte oft Schlafstörungen, er machte sich dann Sorgen und lag viel zu lange wach, er war am nächsten Tag ungenießbar, und schließlich nahm er ein Mittel. Auch mit seiner Verdauung gab es Probleme, manchmal konnte er tagelang nicht, ich wusste, er hockte da einsam auf dem Klo und kam nicht weiter, ich gab ihm Backpflaumen, rohes Sauerkraut, Leinsamen, nüchtern ein Glas kaltes Wasser, aber das half alles nichts, er hielt einfach etwas fest und ließ nicht los.

Oft kamen dann Leute zum Mittagessen, seine Kollegen, der Generalvikar, die Äbte von Gerleve und anderen Klöstern, vom Priesterseminar, manchmal auch ausländische Priester, die zu Besuch waren. Dann hatte ich viel zu tun, aber es machte Spaß, ich stand immer um halb sechs auf, arbeitete in der heißen Küche, schmiss die Pfannen und Töpfe herum und konnte mich richtig austoben.

Ja, auch ich hatte manchmal eine Sehnsucht, aber daran durfte ich nicht mehr denken, ich war 35, galt als alte Jungfer, hatte den Ruf, Haare auf den Zähnen zu haben, nur weil ich mir nicht alles gefallen ließ, auf dem Markt, in den Läden, von den Lieferanten. Dabei spürte ich, wie jemand an meinem inneren Band zog, und ich sagte mir immer wieder, dass ich lieber jede Hoffnung aufgeben sollte, dass ich mir nur schaden würde, dass ich mich abhängig machte, mir etwas vorstellte, das es nicht geben durfte. Das es Gott sei Dank nur in meiner Phantasie gab und auch dort bleiben würde. Aber es war schön, wenn Clau mit mir sprach, und ich spürte, dass ich ähnliche Gedanken hatte wie er, dass ich mindestens so schlau wie er war, mich nur nicht gleich so gut ausdrücken konnte.

Meistens gab es dann Kalbsbraten, wenn wir Gäste hatten, und war der nicht zart und weich wie Butter, musste ich das ausbaden. Clau konnte sehr wütend werden, ja, das war eine Eigenschaft, die er selbst nicht mochte, seine Wutanfälle. Manchmal brüllte er so laut durchs Haus, dass ich Angst bekam, nur weil er etwas verloren, sich geklemmt oder geschnitten hatte, Kleinigkeiten, aber er geriet immer so unter Druck, wo sollte er auch den Dampf ablassen? Er stand ja noch im Saft, wie man bei uns zu Hause sagte, er war voller Kraft, gesund, er aß und trank gern, bloß hatte er kein Ventil.

Er bereute es oft, dass er gewählt worden war und angenommen hatte, erstens hasste er die ganzen Verwaltungsentscheidungen, und dann hatte ja die schlimme Zeit begonnen. Er sah es noch nicht, er glaubte an die große Zukunft, die jetzt kommen würde, aber sein Bauch spürte schon, dass er genau zum falschen Zeitpunkt Bischof geworden war, dass er nichts als Ärger haben würde. In seinem Bauch fraß sich das alles fest.

Die Braunen waren von Anfang an dabei gewesen, bei seiner Bischofsweihe und allem. Es sah so aus, als käme jetzt ein Bischof, der die neue Zeit anführen würde. Er wollte es zuerst allen recht machen. Im Grunde hatte er nie damit gerechnet, Bischof zu werden, alle hatten ihm ja gesagt, dass er nicht klug genug sei, anständig schon, aufrecht, mit dem Herzen dabei, aber Bischof? Wenn der Donders nicht verzichtet hätte, wegen Krankheit, wäre er es auch nicht geworden. So hat es Clau mir erzählt.

Wenn ich an ihn denke, fällt mir immer zuerst seine Stimme ein. Die passte eigentlich gar nicht zu so einem riesenhaften Mann. Jedenfalls war sie nicht tief und voll, sondern sanft und hoch, und in Wirklichkeit war er auch sanft. Wenn etwas vorgefallen war, im Borromäum, die Seminaristen rückten manchmal nachts aus und stellten irgendwelchen Unsinn an, oder in der Diözese, wenn ein Pfarrer Mist gebaut hatte, zitierte er die Leute zu sich ins Palais, und versuchte, streng auszusehen. Er übte das manchmal. Meistens hielt er diese Rolle nicht lange durch und musste selber schmunzeln oder eine kleine Buße vorschlagen. Er hatte seine Augenbrauen nicht im Griff.

Aber er war kein lustiger Mensch, er lachte nicht oft. Nein, er war ein typischer Westfale, schwermütig, nachdenklich, als habe er hinter den Dingen eine traurige Wahrheit gesehen. Auch hinter den guten Dingen. Zu mir war er immer ganz ernst, als habe er vor, mir eine wichtige Aufgabe zu übertragen, ein Geheimnis anzuvertrauen. Und er war dickköpfig. Manchmal gab ich ihm einen Rat, nicht so viel zu trinken, etwas Wärmeres anzuziehen oder etwas Dünneres, die Schuhe auszuziehen zum Putzen, das Sauerkraut roh zu essen, und ich konnte sicher sein, dass er das Gegenteil tat. Dann stritten wir uns, denn ich hatte keine Scheu, ihm zu sagen, was ich dachte, von seinen Gewohnheiten, und wenn er nachts mit schmutzigen Schuhen nach oben ging. Da half nichts, da konnten wir beide nicht lachen, da fiel keinem ein Witz ein oder ein leichtes Wort. Und keiner wollte nachgeben.

Damals ging er ja noch auf die Jagd, das machte er so gern, und ich fand das schrecklich. Er kam dann besoffen und verdreckt nach Hause, zerschlug noch etwas in der Küche oder ließ das Licht brennen, und irgendwo lag ein Sack mit einem halben Reh oder ein paar Hasen. Ich durfte die Beute dann ausnehmen und braten. Wenn ich ihn darauf ansprach, wurde er wütend, das Jagen wollte er sich nicht nehmen lassen, das hatte er auch von seinem Vater, aber er wusste selbst, dass das bald vorbei sein würde. Seit dem ersten Hirtenbrief gegen die Braunen musste er sowieso aufpassen, was er tat, die würden ihn gnadenlos verfolgen, meinte er, wenn irgendetwas zweifelhaft oder anrüchig war.

Er wäre ein guter Förster geworden oder Gutsverwalter vielleicht, er war am liebsten draußen und bei den Bauern, er kannte die Arbeit, und sie redeten mit ihm. Er sprach ja Platt, mit mir auch, und im Platt duzten wir uns und konnten uns alles sagen. Nur wenn Besuch da war, mussten wir Hochdeutsch sprechen und uns siezen. Er fragte mich oft nach meinen Brüdern und Schwestern, das war mein wunder Punkt, die waren alle verheiratet, hatten Kinder und sahen auf mich herab, als Haushälterin. Nur Leni, die Frau von meinem Bruder Albert, der so spät erst geheiratet hatte, die war durchgedreht und in eine Anstalt gekommen, das hätte ich ihm vorher sagen können. Albert war jetzt allein mit den Knechten, aber er hatte angeblich eine junge Magd, die bei ihm wohnte.

Ich wollte nicht mehr hinfahren und ihn sehen, meine Eltern waren auf dem Altenteil, und ich fühlte mich befreit. Ich lernte ja jeden Tag, und wenn Clau mal wieder nicht aufstehen wollte, weil er nachts so lange wachgelegen hatte, nahm ich mir morgens ein Stündchen zum Lesen. Bald kam dann jemand rüber vom Domprobst Donders, wann denn der Bischof endlich käme und ob er schon aufgestanden sei, oder brachte irgendwelche Akten. Ich schirmte ihn dann ab, damit er wenigstens ein bisschen Zeit hatte und noch mal in Ruhe aufs Klo gehen konnte.

Und dann, eines Tages, fand ich ihn so. Das war schon nach dem Hirtenbrief. Einmal war ich mitgefahren nach Billerbeck, weil ich da eine Freundin hatte. Da war eine Firmung, und ich sah, wie er den jungen Mädchen auf die Wangen schlug, bei manchen schien ihm das zu gefallen, und es dauerte ziemlich lange. Er predigte unter freiem Himmel am Ludgerbrunnen, aber die Predigt war nicht stark. Die Leute haben sowieso nicht viel verstanden, und er hat sich gewunden, dass man wirklich nicht wusste, was er wollte. Es war so heiß, das weiß ich noch, dass alle versuchten, im Schatten zu stehen und vor lauter Durst ungeduldig wurden. Wenn ich die Predigt hätte schreiben müssen, wäre das klarer und deutlicher gewesen.

Die Leute liebten ihn nicht wegen der Predigten, das sah man, die nahmen sie nur in Kauf, es war etwas in seiner Ausstrahlung, dieses Trotzige, das wollten sie sehen. Mir ging das ganze Geläute und Getue schon damals auf die Nerven, die vielen Messdiener mit den ungeputzten Schuhen und die Schleimer, die alle um Clau rumliefen. Die Leute mochten, dass er wie sie war, gerne Schinken aß und Korn trank, auch mal zupacken konnte und menschlich war, die ließen ihn nicht mehr los.

Na jedenfalls, nach dem Hirtenbrief, da gab es eine Kundgebung der Braunen gegen ihn, das hat ihm auch Sorgen gemacht. Dann kam die Kundgebung auf dem Domplatz, für ihn, und er war richtig stolz, wie ein Kind, zwanzigtausend waren da. Dann kriegte er von oben eins auf den Deckel, und er musste versprechen, nicht mehr vorzupreschen. Da war er schon ziemlich wütend.

Ja, also eines Morgens danach, noch im Sommer, kam er wieder mal nicht runter, und Pater Bart war schon zweimal dagewesen, das war der Spiritual aus dem Borromäum. Der wusste, dass Clau noch im Bett lag, aber irgendwas Wichtiges war passiert. Pater Bart, der wurde nur so genannt, war in Ordnung, der konnte niemandem etwas zuleide tun, der war auf unserer Seite. Ich schmierte ihm ein Brötchen, dann schickte ich ihn wieder weg.

Trotzdem ging ich diesmal nachsehen, ich weiß nicht, warum, es war ein schöner, warmer Morgen, und ich dachte auch, dass er allmählich mal aufstehen sollte. Oder saß er noch auf dem Klo? Oder war es ein anderer Tag? Ist das wichtig? Ich sehe mich hundertmal in das Schlafzimmer gehen, Clau hatte sich doch ein extra langes Bett machen lassen, weil er in das alte nicht hineinpasste. Er hatte mir auch gesagt, dass ich ihn immer stören könne, wenn ich etwas fragen wolle, wenn ich etwas nicht verstehe oder wissen müsse.

Manchmal fragte ich ihn abends auch nur, was er am nächsten Tag essen wollte. Oder ich brachte ihm noch einen Korn, wenn er nicht schlafen konnte. Ja, das war schon so etwas wie ein Ritual geworden, dieser letzte Schnaps, ich musste für mich auch einen mitbringen und mit ihm anstoßen. Dann unterhielten wir uns immer noch ein bisschen, ich stand in der Tür oder im Fenster, er lag schon im Bett, war dann oft entspannter als sonst, schimpfte bloß im Spaß auf jemanden aus dem GV, so sagte er immer als Abkürzung, obwohl das ja doppeldeutig war, oder über die Braunen.

Es war ganz normal, dass wir da eine halbe Stunde standen, niemand sah uns und konnte uns stören, das Telefon ging damals höchstens in ganz dringenden Fällen, und er erklärte mir manchmal auch, was man machen müsse, wenn man an seinem Glauben zweifelte. Dass er oft zweifelte, das wusste ich, und er sprach davon, dass die Schöpfung, die Menschen, die Tiere, die Natur, größer sei als Gott, und Gott das auch wisse und sich zurückgezogen habe, dass wir mit seinem Eingreifen nicht mehr rechnen könnten. Sonst hätte ich es bei ihm auch nicht ausgehalten, wenn er so ganz hundertprozentig gewesen wäre.

Was wollte ich jetzt erzählen? Ach ja, ich hatte die hartgetrockneten Flecken in seiner Bettwäsche gesehen, das kannte ich von meinem Brüdern, das war doch normal, und ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ein Mann anders konnte, wenn die Kirche es noch so oft verbot. Was die jungen Männer im Seminar taten, war doch bekannt, und irgendwohin mussten sie ja mit ihrer Kraft. Also, mich konnte nichts stören, solange ich lesen durfte und lernen, auch ich selber lag abends mal wach und half mir selbst, und es hätte mir gereicht, wenn das nicht passiert wäre. Oder habe ich insgeheim auf einen solchen Moment gewartet? Ich sagte mir, dass es genügte, wenn er so offen mit mir sprach, wenn wir lange diskutierten und heiße Köpfe bekamen. Wir wurden beide laut, und manchmal erschrak ich über mich.

Es ist seltsam, ich habe so oft an diesen Anblick gedacht, und doch weiß ich nicht mehr genau, wann es war, nicht einmal mehr genau, ob es vielleicht doch abends passiert ist. Manchmal hatte Clau auch die Tür abgeschlossen, dann wusste ich, dass ich ihn nicht stören durfte, aber was er dann machte, dachte ich mir eben. Vielleicht musste er geheime Akten lesen, vielleicht telefonieren, vielleicht betete er? Wahrscheinlich nicht.

Diesmal hatte er jedenfalls nicht abgeschlossen, und auch darüber habe ich mich nachher gewundert. Ich kam also rein wie immer, wahrscheinlich sogar ziemlich eilig, und hatte nicht angeklopft, weil ich irgendwas wollte und ungeduldig war, das hat er mir ja so oft vorgeworfen, dass ich zu ungeduldig bin, aber es ist doch auch eine gute Eigenschaft, wenn man nicht so lahmarschig ist (wie Eure Exzellenz manchmal, hätte ich dann am liebsten gesagt, und einmal habe ich es auch getan, natürlich ohne die Anrede). Er konnte nämlich auch wahnsinnig langsam sein, wie ein störrischer Esel, als ob das Ausharren und Bocken etwas lösen würde.

Ich hörte ein seltsames Geräusch, wie ein Lachen oder Glucksen von einem Kind, und dann lag er da, ohne Hose, ich sah, wie sich seine Hand bewegte, es war ja nicht schlimm, dachte ich, ich blieb sofort stehen und hätte fast gelacht, aber dann sah ich seinen Blick, gequält, getroffen, verletzt, und ging sofort. Ich lief erst mal raus, auf den Markt, ich weiß noch, dass ich Pilze kaufte, also muss es schon fast Herbst gewesen sein, und ich war schon ein Jahr da.

Jetzt ist alles vorbei, dachte ich, er würde mir nicht verzeihen, er würde mich sofort rausschmeißen, ich konnte wieder bei irgendwelchen Großbauern arbeiten und würde nicht mal ein gutes Zeugnis bekommen. Vorbei war es mit dem Lesen, mit der Bibliothek, mit den Sprachen. Nachher begann ich sofort, meinen Koffer zu packen, damit ich schnell raus konnte, wenn er tobte. Ich hatte einfach Angst. Das war ich gewesen, die in sein Zimmer gegangen war, ich hatte wieder das Ziehen gespürt, etwas sagte mir, es ist doch nicht schlimm, geh doch einfach mal nachsehen, ich redete mir ein, dass das zu meiner Arbeit gehöre, ja ich tat vor mir selbst immer noch, als wäre das völlig normal.

Als ich zurückkehrte, war er schon weg, er kam auch abends nicht nach Hause, ich aß die Pilze selbst, weil ich sie ja nicht warmhalten konnte. Spät in der Nacht hörte ich ihn nach Hause kommen, betrunken, er torkelte die Treppe hoch mit den schweren Schuhen, und ich war kurz davor, sie ihm auszuziehen. Dann hörte ich ihn oben rumbrüllen, er warf Stühle um und knallte die Türen. Am nächsten Morgen sprach er nicht mit mir, er sah mich nicht einmal an, aber ich spürte, dass er nichts gegen mich tun würde, dass ich bleiben konnte, und das reichte mir. Von mir aus sollte er schweigen, bis er es nicht mehr aushielt. Es war doch nichts Schlimmes passiert, schließlich war er kein Kind mehr, und ich würde auch darüber schweigen.

Mir hat er sofort leid getan, wie er da lag, so seltsam verdreht, mit seiner Kraft, seinem verstörten Blick, einsam wie er war und überhaupt nicht der Typ, allein zurechtzukommen. Er stammte aus einer Großfamilie, er kam vom Land, und jetzt war er völlig einsam. Na ja, er hatte mich, aber wie sollte er mit mir darüber sprechen? Das wäre nicht gegangen, und allmählich verstand ich auch, ohne dass Gott mir das einflüstern musste, dass es jetzt meine Aufgabe war, mich um ihn zu kümmern.

Mir ging es ja viel besser als ihm, er war gerade auch noch von oben gerüffelt worden, aus Berlin, das wusste ich, und er hatte wieder geschluckt und nachgegeben. Nachgeben, das konnte er nicht, das war gegen seine Natur, so ein toller Christ konnte überhaupt niemand sein, sich dermaßen zu verleugnen, und er wusste sehr gut, dass er im Christsein nicht der Beste war.

Eine Woche ging es so, dass er kein Wort sprach, wir hatten Besuch, und er übersah mich, ich kochte, was ich wollte, er sagte nichts, ich las still für mich und ließ ihn in Ruhe. Abends stand ich nicht mehr in der Tür, er musste sich selbst seinen Schnaps holen. Morgens weckte ich ihn auch nicht mehr, dann sollte er eben zu spät kommen. Er war sowieso meistens unterwegs und kam nachts nach Hause. Ich schrieb ein Plakat »Bitte nachts Schuhe ausziehen!«, aber er beachtete es nicht. Ich fragte mich, wo er abends so lange blieb. Früher war er gern ins Pinkus gegangen, ein paar Bier trinken, aber da konnte er doch jetzt nicht einfach herumsitzen. Meistens musste ihm die Hildegard von da einen Krug Bier holen. Er vertrug ja eine Menge, man merkte ihm nicht so leicht was an.

Ich hasste ihn in dieser Zeit. Warum quälte er sich so! Er hätte doch alles zu Hause haben können! Am liebsten hätte ich ihm das gesagt, aber wir sprachen ja nicht miteinander. Er ging mir auf die Nerven mit seinen schweren Schritten, seiner sorgenvollen Stirn, den großen Portionen, die er restlos aufaß, ohne zu sagen, ob es ihm schmeckte. Mit seinen Büchern, die er nachts las. Ich ging manchmal vors Haus, um zu sehen, ob in seinem Zimmer noch Licht brannte. Ich überlegte, selbst zu kündigen und zu meinem Bruder zurückzugehen, der hätte mich nicht wegschicken können. Oder ich wollte Clau einen Brief schreiben.

Dann kam mein Geburtstag, und ich wusste, Clau konnte ihn nicht übergehen, er musste etwas tun; letztes Jahr hatte er mir die Novellen von Storm geschenkt, in einem schönen Lederband, und ich hatte sie auch alle gelesen, besonders »Immensee« hatte mir so gefallen, dass ich es zweimal las. Das war ja kein gut katholisches Geschenk gewesen, und ich hatte mich gefreut, dass er nicht irgendein langweiliges Andachtsbüchlein für mich ausgesucht hatte. Darüber habe ich lange nachgedacht, was das bedeutete, die Geschichte von Reinhard und Elisabeth, die sich nicht bekommen.

Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil er nicht nach Hause kam. Wahrscheinlich war er auf einer Dienstreise, ich wusste jetzt ja nichts, sah auch keine Akten mehr. Es wurde früh dunkel, und ich hatte mich angezogen ins Bett gelegt, damit ich aufstehen konnte, wenn etwas passierte. Aber er kam nicht. Den ganzen Tag nicht. Ich bekam Post von meinen Eltern und meinen Geschwistern, von meiner Freundin, und ich saß zu Hause. Ich machte mir selbst Bratkartoffeln mit Speck, aber die schmeckten nicht. Vielleicht war er nach Rom gefahren? Oder er hatte gebeichtet und alles erzählt und musste jetzt zurücktreten? Ich war damals naiv. Oder die Braunen hatten ihn vorgeladen, verhörten ihn, hatten ihn vergiftet. Ich glaubte, dass ich mir für den Rest meines Lebens jede Sehnsucht abgewöhnt hatte.

Spät in der Nacht hörte ich ihn poltern. Er zog diesmal sogar die Schuhe aus und schlich nach oben. Er schien nicht getrunken zu haben, denn es blieb ruhig. Ich stand auf, ich wollte mich ein bisschen bemerkbar machen. In der Küche an meinem Platz lag ein kleines Päckchen, nur in Packpapier, ganz ohne Schmuck. Ich riss es sofort auf, irgendwie glaubte ich nicht daran. Es war ein kleiner goldener Ring darin, der alt war, bestimmt ein Erbstück; als ich ihn berührte, fühlte ich mich verwandelt wie in einem Märchen. Ich zog ihn an, er war nur ein bisschen weit, er passte, mit so etwas hatte ich nicht gerechnet.