image

Sabine Bergk

Gilsbrod

image

Sabine Bergk

Gilsbrod

Novelle

image

Bibliografische Information der Deutschen

ISBN 978-3-937717-84-5

eISBN 978-3-943941-05-0

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2012

un’ altra notte ancora senza vederlo

Frau Gilsbrod hat gesagt non sara und ich habe ihr zugeflüstert non so und Frau Gilsbrod hat mich angestarrt von der Bühne aus mit ihrem wütenden Gilsbrodblick und ich habe sie angestarrt und sie hat mich wieder angestarrt und hat ihre Zähne gefletscht, diese großen Gilsbrodzähne, ich habe gehört, dass Sängerinnen große Zähne brauchen, um die hohen Töne lange aushalten zu können, und Frau Gilsbrod hat riesige Zähne, echte Gilsbrodzähne, und die haben mich angestarrt und ich habe zurückgestarrt mit meinen kleinen Zähnen, dort hinten in der Ecke aus dem Dunkel, ich habe sehr kleine Zähne und hab auch zu gern Süßes gegessen und wenn Frau Gilsbrod mich anstarrt mit ihren großen Gilsbrodzähnen, dort auf der hell erleuchteten Bühne, und ich ganz hinten in meiner dunklen Souffleursecke, die Zeiten sind vorbei, dass ich in einer schönen goldenen Muschel sitz und die ganze Bühne überblicken kann, jede Sekunde in Kontakt mit den Sängern, meine Mutter, als sie noch Souffleuse war, saß immer in dieser goldenen Muschel, wie hab ich sie dort bewundert in ihrer goldbarocken Muschel, und wenn ich in den Vorstellungen saß und ihre leise Stimme ab und zu zischen hörte aus der goldbarocken Muschel, wollte ich nichts anderes als Souffleuse werden in meinem Leben und auch in so einer schönen goldenen Muschel sitzen und dort das Rauschen hören, ganz nah an der Musik, dieses große Rauschen, das uns am Atmen hält, ein und aus, ein und aus, und ich hab schon als Kind ganz laut gesagt, dass ich Souffleuse werden will und die anderen haben gelacht und die Lehrerin hat mich gefragt, ja warum denn das, da habe ich ihr von der goldenen Muschel erzählt und von dem großen Rauschen, das dort klingt, erst ist es ganz leis, dann wird es immer stärker, in der goldbarocken Muschel, und ich höre dort die Stimme meiner Mutter flüstern, Tag für Tag, und es ist wie abends, wenn man schlafen geht und hat doch Angst, ob man erwacht am nächsten Tag, und die Stimme meiner Mutter singt sehr leis, nein es ist nichts, mein Kind, es ist der Schlaf, der sich nachts über deine Augen legt, es ist nicht schlimm, es ist wie eine dunkle Wolke, die ist warm und legt sich auf deine Augen, es ist wie eine Meereswelle und wenn du still bist, kannst du sie hören, horch, kannst du das Meer hören, es ist wie ein dunkler Sog, der viel Sand aufschwemmt, Muscheln, Strandgut, alte Tierkörper, und wenn du erwachst, hat sich alles von allein an den Strand angeschwemmt und liegt dort ganz frei und die Kinder spielen damit bis in den Abend und wenn die Flut wieder kommt in der Nacht, nimmt sie’s mit in der Nacht und schwemmt’s einmal durch und flicht Algen und schwarzen Tang hinein, horch mein Kind und sei still, und wenn ich tags in der Muschel sitz und das Rauschen hör, werd ich herausfinden, was der Schlaf ist, diese große dunkle Welle, und ich höre die Stimme meiner Mutter und bin in dieser großen dunklen Welle, die mich verschlingt wie Musik, und die Lehrerin hat mich angeschaut und in die Pause geschickt und die anderen Kinder haben gelacht und wollten mit mir nicht mehr spielen, denn sie haben ja alle Angst vor dem Schlaf, hab ich gesagt, ihr habt ja alle Angst vor dem Schlaf, aber ich nicht, ich nicht, hab ich gerufen, ich hab keine Angst vor dem Schlaf, und ich bin über den Schulhof gesprungen und die anderen Kinder haben mit Dreck nach mir geworfen und ich habe gelacht und sie haben mir ins Gesicht geschlagen und mir Essig gegeben und ich habe gesagt, ich hab keine Angst vor dem Schlaf und ich will Souffleuse werden und jeden Abend in dieser goldenen Muschel sitzen und da werd ich das große Rauschen hören, jeden Abend, und die anderen Kinder haben mich an die lange Rutschstange gebunden und mit faulen Brötchen nach mir geworfen und ich hab ihnen gesagt, wisst ihr, es geht doch nur um das letzte Lied, es ist die letzte Stimme, die man hört, bevor der Schlaf einen hat, das ist der letzte Klang, bevor sich die große Welle über einen legt, und sie haben mit Brötchen und alten Bananen geworfen und mich an die lange Rutschstange gebunden und gelacht, bis die Lehrerin kam und mich ausgeschimpft hat, du kannst doch den Kindern nicht solche Sachen erzählen, hat die Lehrerin zu mir gesagt und dabei ihren großen Mund geöffnet, und sie hat diese großen Zähne wie die Gilsbrod, diese großen Gilsbrodzähne, und hat mich angeschrien und hat die weinenden Kinder in den Arm genommen und mich angestarrt, ganz genau wie die Gilsbrod, und ich hing noch festgebunden an der langen Rutschstange und sie hat mich dort hängen lassen die ganze Nacht, zur Strafe, hat sie gesagt, zur Strafe bleibst du jetzt die ganze Nacht hängen und dann siehst du mal wie das ist, wenn man so große Reden schwingt über den Schlaf, und die Lehrerin hat mich angestarrt und hat mich hängen lassen an der langen Rutschstange und ein Kind ist noch einmal zu mir gekommen und hat eine Banane nach mir geworfen und ist kichernd fort und ich bin die ganze Nacht an der langen Rutschstange gehangen und es wurde kalt und der große Sternenhimmel, der sich über mir aufzog, ich hab nach oben gestarrt und hab in den schweren Himmel geblickt, der so über mir hing wie der Schlaf, und hab gedacht, wenn sie das wüssten, wenn sie wüssten, und hab gelacht in den schwarzen Nachthimmel, so ganz allein an der langen Rutschstange, und da war wieder das Rauschen, erst hab ich’s ganz leis gehört und dann wurde es immer stärker, ich saß in der großen goldenen Muschel und da hab ich die Stimme meiner Mutter gehört, wie sie den Sängern auf der Bühne den Text zuflüstert und da war ein Summen, wie der Grundton des Meeres, und ich hab gelacht an der langen Rutschstange und den schweren Nachthimmel angesehn und sie haben mir Essig gegeben und mich mit einem Abflussrohr geschlagen, der Hilbert und die Ulli, der Hilbert mit seinem verwöhnten Gesicht, der mit den drei Brüdern, und die Ulli, die alles mitmacht, der Hilbert und die Ulli waren ja auch die ersten, die nach mir mit Bananen geworfen haben, und sie sind in der Nacht wiedergekommen, der Hilbert und die Ulli, und haben sich etwas Besonderes ausgedacht, wir haben uns etwas ganz Besonderes für dich ausgedacht, haben sie gesagt und haben ein Abflussrohr dabei gehabt, denn der Vater vom Hilbert ist Klempner, und der Hilbert hat gelacht und ist mir mit dem Abflussrohr im Gesicht herumgefahren, dort an der langen Rutschstange, und hat geschrien, na hörst du das große Rauschen, die Ulli hat gekichert und gekichert, bis sie sich fast in die Hosen gemacht hat und dann hat eine Eule geschrien und vor Schreck haben sie beide das Rohr fallen lassen und sind weggerannt, beim Schrei der Eule, und ich hing allein an der langen Rutschstange, den Dreck im Gesicht, und konnt ihn nicht abwischen und hab die Augen geschlossen, um den Dreck in meinem Gesicht nicht zu sehen, und bin in die große goldene Muschel gegangen und hab das Rauschen gehört und hab die schönen Sänger auf der Bühne angesehn und ihnen etwas zugeflüstert und sie haben mir dankbar zuge zwinkert, ganz im Geheimen, so, dass es das Publikum nicht sieht, die Sänger haben mich nämlich geliebt, dort in meiner goldenen Muschel, und haben mich bittend und flehend angesehen und ich hab ihnen den Text zugeflüstert, dort in der goldenen Muschel, und sie haben mich angelächelt, fast unmerklich, und ich hab hinter mir die Stimme meiner Mutter gehört, es war schön und warm in meiner goldenen Muschel und meine Mutter hat mir den Kopf gestrichen mit der lieben Hand und hat gesagt, das machst du schon, Kind, und ich hab sie angelächelt und gesagt, das ist schön, dass du bei mir bist, und dann ist die Gilsbrod auf die Bühne gekommen mit ihren großen Gilsbrodzähnen und hat ihren Mund aufgemacht und zu singen angefangen und diese großen Gilsbrodzähne haben mich angestarrt und ich war wie gelähmt an der langen Rutschstange und die Gilsbrod hat zu singen angefangen mit ihrer großen Gilsbrodstimme und dabei wild mit den Armen gerudert in der Luft und wurde ganz rot im Gesicht und hat mich angestarrt und ihre lauten Töne ins Publikum gesungen, als würde sie Ohrfeigen verteilen, und die Leute im Publikum haben sich zugenickt, typisch Gilsbrod, haben sie gesagt, die Gilsbrod kommt immer auf die Bühne gerannt und öffnet ihren großen Mund mit den Gilsbrodzähnen und dann schreit sie ihre Töne ins Publikum, typisch Gilsbrod, und die Leute haben sich mitleidig angestarrt, warum wir das immer noch ertragen müssen, doch die Gilsbrod ist eben dafür bekannt, dass sie auf die Bühne gerannt kommt und ihren großen Mund öffnet und alle anschreit und ganz rot wird im Kopf, einmal ist sie vor Schreck sogar ausgerutscht, weil sie zu schnell auf die Bühne gerannt ist, und wäre fast in den Orchestergraben gefallen, die Vorstellung musste unterbrochen werden, denn die Gilsbrod hat den Dirigenten angeschrien, der wurde ganz rot im Gesicht und hat ihr erneut ihren Einsatz gegeben, sie aber schrie weiter, das habt ihr absichtlich gemacht, und schlug der Requisiteurin ins Gesicht und lief zum Intendanten und schrie, dass jemand die Bühne rutschig gemacht hat mit einem Gleitmittel, und fast wäre sie in den Orchestergraben gefallen, typisch Gilsbrod, haben die Leute gesagt und sich zugenickt und die Requisiteurin rieb sich das Gesicht, es war ganz blau geschlagen von den großen Gilsbrodhänden, und in dem Moment ist der Intendant gekommen und hat die Requisiteurin gefeuert, im Rücken die weinende Gilsbrod, wie ein Jammerlappen stand sie da, die große weinende Gilsbrod und die Requisiteurin wollte noch sagen, es war doch gar nicht rutschig, aber da war sie schon gefeuert, denn der Intendant schützt die Gilsbrod, er hat sogar einmal gesagt, wenn man jemanden wie die Gilsbrod an seinem Haus haben kann, sollte man froh sein, und die Gilsbrod ist hinter dem Intendanten gestanden und hat geweint und hat immer wieder gesagt, dass es immer sie treffen würde und dass sie fast in den Graben gefallen wäre und dass es nicht sein kann, dass jemand ein Gleitmittel auf der Bühne verteilt, kurz vor ihrem Auftritt, wo sie doch wüssten, dass die Gilsbrod immer bis ganz nach vorn an die Rampe rennt und dass sie gezwungener Maßen auf dem Gleitmittel ausrutschen und vor Schreck den Dirigenten anbrüllen würde und was sollen die Leute denken, wenn die Gilsbrod einfach den Dirigenten anbrüllt, die müssten doch wissen, wie gut sich die Gilsbrod mit dem Dirigenten versteht und wie sehr der Dirigent es genießt, endlich in vollen Zügen fortissimo spielen zu können, ohne die ständige Angst, man könne die Sänger nicht mehr hören, denn wenn die Gilsbrod auf die Bühne kommt und das Publikum anbrüllt, ist sie immer sehr gut zu hören und der Dirigent freut sich, wenn die Gilsbrod auf die Bühne kommt und nickt ihr zu und das Publikum nickt dem Dirigenten zu, und dass ihr da jemand ein Gleitmittel auf der Bühne verteilt hat, damit sie vornüber fällt und gerade noch mit ihren dicken Armen in der Luft rudern und sich abfangen kann, das ist schon ein gehöriger Angriff auf ihre Person und es wird doch endlich Zeit, eine größere Bühne für die Gilsbrod zu bauen, denn die Gilsbrod fällt ja fast immer vornüber, weil sie so schnell auf die Bühne gerannt kommt, hat doch die Gilsbrod gleich am Anfang gesagt, dass eine neue Bühne gebaut werden muss, wenn man sie länger am Theater halten will und der Intendant hat gesagt, Frau Gilsbrod, sie haben ja recht, wenn man jemanden wie sie bei uns halten will, wird es höchste Zeit, eine neue Bühne zu bauen, aber die Politik interessiert sich nun mal nicht für Frau Gilsbrod sondern nur für die Kürzungen im Spartenbereich und daraufhin hat Frau Gilsbrod den Intendanten angeschrien, dass es nicht sein kann, dass er sich das von der Politik gefallen lässt, und dass er sich hüten soll, an ihrer Sparte zu kürzen, sonst würde sie das Theater verlassen stante pede und der Intendant ist ganz klein geworden mit Hut und hat gesagt, sehr wohl, Frau Gilsbrod, und hat sich in seine Intendantenkammer verkrochen und die Gilsbrod hat noch einmal bei ihm geklopft und hat gesagt, Gustav, jetzt trinkste wieder deinen Schnaps, trink nicht so viel Schnaps, du hast ja schon eine Säufernase und da hat die Gilsbrod ihm ihr großes weites Herz geöffnet, wie es nur Gilsbrodherzen können, die sich so ausladend vornüber beugen, und der Intendant hat gesagt, einmal werde ich dir ein größeres Theater bauen, Gilsbrod, und die Gilsbrod hat ihn gekrault und gesagt, ja, ja, Gustävchen, und der Intendant ist ganz still geworden und hat geschnurrt wie ein Kater und hat ihr gesagt, eigentlich kenne ich mich in der Oper ja gar nicht aus, ich komm doch vom Schauspiel, und die Gilsbrod hat ihm den Nacken gekrault und der Intendant hat gesagt, aber so lange du da bist, Gilsbrötchen, ist das mit der Oper gar nicht so schlimm, und dass ich mich nicht auskenn, das merkt ja keiner, und da hat der Intendant vor sich hingeschnurrt und noch einen Schnaps gekippt und die Gilsbrod hat ihm das Kleid herzüber geöffnet und da war er ganz still und hat geschnurrt, mein