ALBERT COHEN

Die Schöne
des Herrn

Roman

Aus dem Französischen von Helmut Kossodo
grundlegend überarbeitet von Michael von Killisch-Horn

 

Impressum

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Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien 1968

unter dem Titel »Belle du Seigneur«.

© Editions Gallimard, Paris 1968

Fur die deutsche Ausgabe

© 2012 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung des Fotos Karina, 2002 von Donata Wenders

© Courtesy Wenders Images

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93939-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10270-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Meiner Frau

ERSTER TEIL

I

Er stieg vom Pferd und ging vorbei an den Haselnusssträuchern und Heckenrosen, gefolgt von den beiden Pferden, die der Stallbursche an den Zügeln führte, ging in der raschelnden Stille, mit nacktem Oberkörper in der Mittagssonne, ging und lächelte, seltsam, königlich und siegesbewusst. Zweimal, gestern und vorgestern, war er feige gewesen und hatte es nicht gewagt. Heute, an diesem ersten Maitag, würde er es wagen, und sie würde ihn lieben.

In dem Wald, in dem die Sonne ihre Lichtflecken verstreute, dem reglosen, urzeitliche Schrecken bergenden Wald, ging er vorbei am Geflecht des Geästs, schön und nicht weniger edel als sein Vorfahr Aaron, Bruder des Moses, ging, plötzlich auflachend und wie der närrischste Menschensohn sich gebärdend, lachend vor strahlender Jugend und Verliebtheit, plötzlich eine Blume pflückend und hineinbeißend, plötzlich tanzend, ein hoher Herr in hohen Stiefeln, tanzend und lachend in der gleißenden Sonne, die durch die Zweige brach, anmutig tanzend, gefolgt von den beiden artigen Tieren, tanzend im Liebes- und Siegesrausch, während seine Untertanen und Geschöpfe des Waldes ihren sorglosen Beschäftigungen nachgingen, entzückende Eidechsen, die ihr Leben unter den geblätterten Sonnenschirmen der großen Pilze lebten, goldschimmernde Fliegen, die geometrische Figuren in die Luft zeichneten, Spinnen, die aus den rosa Heidebüschen auftauchten und Rüsselkäfer mit ihren vorsintflutlichen Rüsseln beobachteten, Ameisen, die einander betasteten, Losungen austauschten und dann wieder zu ihren einsamen Beschäftigungen zurückkehrten, Spechte, welche die Bäume abklopften, vereinsamte Kröten, die ihre Sehnsucht quakten, Grillen, die schüchtern zirpten, Käuze, die, unverhofft erwacht, schrien.

Er blieb stehen, und nachdem er dem Stallburschen liebevoll die Schulter geküsst hatte, nahm er ihm den Koffer für sein Vorhaben ab und befahl ihm, die Zügel an einen Ast zu binden und auf ihn zu warten, so lange auf ihn zu warten, wie es nötig sein würde, bis zum Abend oder noch länger, auf ihn zu warten bis zum Pfiff. »Und sobald du den Pfiff hörst, bringst du mir die Pferde, und dann, bei meiner Ehre, wirst du so viel Geld haben, wie du nur willst! Denn was ich jetzt wagen werde, hat kein Mann je gewagt, merke es dir, kein Mann, seit die Welt besteht! Ja, Bruder, alles Geld, das du willst!« So sprach er, und vor Freude geißelte er seinen Stiefel mit der Reitpeitsche, und dann ging er seinem Schicksal entgegen, näherte sich dem Haus, in dem diese Frau lebte.

***

Vor der protzigen Villa im Stil eines Schweizer Chalets, deren Außenwände so blankgeputzt waren, dass sie wie Mahagoni glänzten, betrachtete er die Schalen des Windmessers, die sich langsam auf dem Schieferdach drehten, und dann war sein Entschluss gefasst. Den Koffer in der Hand, stieß er vorsichtig die Gartenpforte auf und trat ein. In der Birke, die ihre flammende Krone zur Seite neigte, lärmten die Vögel, offenbar zum Lobe dieser schönen Welt. Um den knirschenden Kies zu vermeiden, wagte er einen Sprung in die mit Muschelwerk eingefassten Hortensienbeete. Vor der großen Veranda angelangt, warf er, im Efeu verborgen, einen Blick durch das Fenster. In dem Salon, dessen Wände mit rotem Samt ausgeschlagen und mit vergoldetem Holz getäfelt waren, saß sie am Klavier und spielte. »Spiel nur, meine Schöne, du weißt nicht, was dich erwartet«, murmelte er.

Er kletterte auf den Pflaumenbaum, zog sich zu dem Balkon im ersten Stock empor, setzte den Fuß auf die Kette der Balustrade, legte die Hand auf einen hölzernen Vorsprung, richtete sich auf, erreichte den Sims des Fensters im zweiten Stock, öffnete die halbgeschlossenen Fensterläden, dann die Vorhänge und gelangte mit einem Sprung in das Zimmer. Jetzt war er wieder bei ihr, wie gestern und vorgestern, aber heute würde er sich ihr zeigen, und er würde es wagen. Schnell, die Vorbereitungen.

Mit nacktem Oberkörper über den offenen Koffer gebeugt, entnahm er ihm einen alten abgetragenen Mantel und eine mottenzerfressene Pelzmütze und blickte überrascht auf die Krawatte der Ehrenlegion, die seine Finger zufällig berührt hatten. Da sie nun schon einmal da war, rot und schön noch dazu, konnte er sie auch gleich umlegen. Nachdem er sie um seinen Hals geschlungen hatte, stellte er sich vor dem großen Ankleidespiegel in Positur. Ja, fast zum Erbrechen schön. Strenges, von wirrem dunklem Haar gekröntes Antlitz. Schmale Hüften, flacher Bauch, breite Brust und unter der sonnengebräunten Haut die wie geschmeidige Schlangen ineinander verschlungenen Muskeln. All diese Schönheit kommt später einmal auf den Friedhof, hier ein wenig grün, dort ein wenig gelb, ganz allein in einer von der Feuchtigkeit zerfressenen Holzkiste. Schön überrascht würden sie sein, seine Anbeterinnen, wenn sie ihn still und steif in seiner Kiste sähen. Er lächelte ohne Grund und ging auf und ab, von Zeit zu Zeit seine automatische Pistole in der Hand wiegend.

Er hielt inne, um diesen kleinen, gedrungenen und stets dienstbereiten Gefährten zu betrachten. Er enthielt bereits die Kugel, die später, ja, später … Nein, nicht in die Schläfe, da riskierte man, am Leben zu bleiben und blind obendrein. Das Herz, ja, aber nicht zu tief schießen. Die richtige Stelle lag in dem Winkel zwischen Brustbein und drittem Interkostalraum. Mit dem Füllfederhalter, der auf einem runden einbeinigen Tischchen neben einem Fläschchen Eau de Cologne lag, markierte er den günstigsten Punkt und lächelte. Dort würde sich also das kleine, von schwarzen Pünktchen umrandete sternförmige Loch befinden, nur wenige Zentimeter von der Brustwarze entfernt, die schon so viele Frauen geküsst hatten. Sollte er dieser Plackerei bereits jetzt ein Ende bereiten? Der stets zu Hass und Verleumdung bereiten Bande, die sich Menschheit nennt, Lebewohl sagen? Frisch gebadet und rasiert gäbe er eine recht präsentable Leiche ab, und als Commandeur der Ehrenlegion noch dazu. Nein, zuerst musste das unerhörte Unternehmen gewagt werden. »Gesegnet seist du, wenn du die bist, die ich zu finden glaube«, murmelte er, während unten das Klavier immer noch die wundervollste Musik spielte; er küsste seine Hand, setzte seinen Gang fort, halbnackt und ein absurder Commandeur, und hielt sich dabei, unaufhörlich einatmend, das Fläschchen Eau de Cologne an die Nase. Vor dem Nachttisch blieb er stehen. Auf der Marmorplatte ein Buch von Bergson und Schokoladenpralinen. Nein danke, keine Lust. Auf dem Bett ein Schulheft. Er öffnete es, hielt es an seine Lippen und las.

 

»Ich habe beschlossen, eine begabte Romanschriftstellerin zu werden. Aber das hier sind meine Anfänge als Schriftstellerin, und ich muss mich üben. Deshalb wird es gut sein, alles in diesem Heft niederzuschreiben, was mir über meine Familie und über mich selbst durch den Kopf geht. Und wenn ich dann die wahren Geschichten erzählt und etwa hundert Seiten damit gefüllt habe, werde ich sie mir wieder vornehmen, um daraus den Anfang meines Romans zu machen, aber mit veränderten Namen.

So beginne ich mit einer gewissen Erregung. Ich glaube, dass ich mir die hohe Kunst des Schreibens aneignen kann, wenigstens hoffe ich es. Also jeden Tag mindestens zehn Seiten. Wenn ich mit einem Satz nicht fertig werde, oder wenn es mir zu dumm wird, fahre ich im Telegrammstil fort. Aber in meinem Roman werde ich natürlich nur richtige Sätze schreiben. Und jetzt los!

Doch bevor ich anfange, muss ich die Geschichte des Hundes Spot erzählen. Sie hat mit meiner Familie nichts zu tun, ist aber eine sehr schöne Geschichte, die von der moralischen Qualität dieses Hundes und der Engländer zeugt, die sich um ihn kümmerten. Vielleicht bringe ich sie auch in meinem Roman unter. Vor ein paar Tagen las ich im Daily Telegraph (ich kaufe ihn von Zeit zu Zeit, um nicht den Kontakt zu England zu verlieren), dass Spot, eine schwarzweiße Promenadenmischung, jeden Abend um sechs Uhr auf sein Herrchen an der Bushaltestelle in Sevenoaks zu warten pflegte. (Zu viele zu in dem Satz. Muss korrigiert werden.) Als aber eines Mittwochabends sein Herrchen nicht aus dem Bus stieg, rührte sich Spot nicht vom Fleck und wartete die ganze Nacht in der Kälte und im Nebel auf der Straße an der Haltestelle. Ein Radfahrer, der ihn kannte und am Abend zuvor kurz vor sechs gesehen hatte, sah den armen Schatz am nächsten Morgen um acht Uhr immer noch am selben Fleck sitzen und geduldig auf sein Herrchen warten. Der Radfahrer war so gerührt, dass er seine Sandwiches mit Spot teilte und die Sache dann dem Inspektor des Tierschutzvereins (R.S.P.C.A.) von Sevenoaks meldete. Die Ermittlungen ergaben, dass Spots Herrchen am Tag zuvor plötzlich an einem Herzanfall in London gestorben war. Mehr Einzelheiten waren der Zeitung nicht zu entnehmen.

Die Leiden dieses armen kleinen Tiers, das vierzehn Stunden lang auf sein Herrchen gewartet hatte, rührten mich so, dass ich an den R.S.P.C.A. (bei dem ich förderndes Mitglied bin) telegrafierte, ich sei gewillt, Spot zu adoptieren, und sie bat, ihn mir auf meine Kosten per Flugzeug zu schicken. Am selben Tag erhielt ich die Antwort: ›Spot bereits adoptiert.‹ Darauf telegrafierte ich: ›Wurde Spot von einer Vertrauensperson adoptiert? Erbitte Einzelheiten.‹ Die Antwort kam in einem Brief und war beispielhaft. Ich gebe sie wieder, um zu zeigen, wie wunderbar die Engländer sind. Ich übersetze: ›Sehr verehrte gnädige Frau, in Beantwortung Ihres Schreibens beehren wir uns, Ihnen mitzuteilen, dass Spot von Seiner Eminenz, dem Erzbischof von Cantorbéry, Primas von England, adoptiert worden ist, der uns alle moralischen Garantien zu bieten scheint. Spot hat seine erste Mahlzeit im erzbischöflichen Palast mit gutem Appetit eingenommen. Hochachtungsvoll.‹

Jetzt zu meiner Familie und zu mir. Ich bin eine geborene Ariane Cassandre Corisande d’Auble. Die Aubles gehören zu den besten Genfer Familien. Französischer Herkunft, folgten sie im Jahre 1560 Calvin. Unsere Familie hat Genf Wissenschaftler, Moralisten, ungeheuer vornehme und reservierte Bankiers und einen Haufen Pastoren geschenkt, die zu den Moderatoren der Vénérable Compagnie gehörten. Und dann hat es noch einen Ahnen gegeben, der Wissenschaft mit Pascal betrieben hat. Die Genfer Aristokratie ist besser als jede andere, mit Ausnahme der englischen. Großmutter war eine Armios-Idiot. Weil es nämlich die Armios-Idiot gibt, die zur guten Gesellschaft gehören, und die Armyau-Boyau, mit denen es nicht weit her ist. Natürlich gibt es diesen zweiten Namen Idiot oder Boyau nicht wirklich, man nennt ihn eigentlich nur, um nicht immer buchstabieren zu müssen. Schade, unser Name wird bald aussterben. Alle Aubles sind unter der Erde, außer Onkel Agrippa, der Junggeselle und folglich ohne Nachkommenschaft ist. Und falls ich einmal Kinder haben sollte, werden es nur Deumes sein.

Jetzt muss ich von Papa, Mama, meinem Bruder Jacques und meiner Schwester Éliane erzählen. Mama starb, als sie Éliane das Licht der Welt erblicken ließ. Diesen Satz muss ich in meinem Roman ändern, er klingt dumm. An Mama erinnere ich mich überhaupt nicht. Auf den Fotos sieht sie nicht sehr sympathisch aus, ein sehr strenges Gesicht. Papa war Pastor und Professor an der theologischen Fakultät. Als er starb, waren wir noch sehr jung, Éliane fünf, ich sechs und Jacques sieben. Das Zimmermädchen erklärte mir, dass Papa im Himmel sei, und das machte mir Angst. Papa war sehr gütig und sehr imponierend, und ich bewunderte ihn. Nach allem, was Onkel Agrippa mir erzählte, wirkte er aus Schüchternheit kalt, gewissenhaft und von jener moralischen Rechtschaffenheit, die den Ruhm des Genfer Protestantismus ausmacht. Wie viele Tote in unserer Familie! Éliane und Jacques bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Über Jacques und meine Éliane kann ich nicht sprechen. Wenn ich es täte, würde ich weinen und könnte nicht fortfahren.

In diesem Augenblick spielt man im Radio das ›Zitto, zitto‹ aus der Cenerentola des schrecklichen Rossini, dieses kleinen Esels, der sich nur für seine selbstgemachten Cannelloni interessierte. Vorher brachten sie Samson und Dalila von Saint-Saëns. Noch schlimmer. Apropos Radio, vor einigen Tagen hat man ein Stück von einem gewissen Sardou, namens Madame Sans-Gêne, übertragen. Entsetzlich! Wie kann man noch demokratisch bleiben, nachdem man das Gelächter und den Beifall des Publikums gehört hat? Die Freude dieser Idioten über gewisse Erwiderungen der Madame Sans-Gêne, Herzogin von Danzig! Wie vulgär sie beispielsweise auf einem Empfang bei Hofe redet! Man stelle sich vor, eine Herzogin, die früher Wäscherin war und noch stolz darauf ist! Und wie sie mit Napoleon spricht! Ich verachte diesen Herrn Sardou aus tiefster Seele. Mutter Deume hat es natürlich gefallen. Schrecklich auch das ordinäre Gebrüll der Zuschauer eines Fußballspiels im Radio. Diese Leute muss man doch einfach verachten.

Nach Papas Tod zogen wir drei zu seiner Schwester Valérie, die wir Tantlérie nannten. Im Roman ausführliche Beschreibung ihrer Villa in Champel mit all den miserablen Ahnenporträts, Bibelversen und alten Ansichten von Genf. In Champel wohnte auch der Bruder Tantléries, Agrippa d’Auble, den ich Onkel Gri nannte. Er ist sehr interessant, aber ich werde ihn ein anderes Mal beschreiben. Vorläufig will ich nur von Tantlérie erzählen. Sie ist eine Person, die ich bestimmt in meinem Roman verwenden werde. Sie bemühte sich ihr ganzes Leben lang, mir ihre Zuneigung, die sehr groß war, nach besten Kräften zu verbergen. Ich will versuchen, sie zu beschreiben, als wäre es wirklich der Anfang des Romans.

Valérie d’Auble war sich durchaus bewusst, zur Genfer Aristokratie zu gehören. Der erste Auble war zwar zu Calvins Zeiten Tuchhändler gewesen, aber das ist schon lange her, und jede Sünde findet ihre Vergebung. Meine Tante war groß und majestätisch mit einem schönen ebenmäßigen Gesicht, stets in Schwarz gekleidet und voller Verachtung für Mode und Firlefanz. So trug sie, wenn sie ausging, immer einen seltsamen flachen Hut, eine Art von großem Fladen, der hinten mit einem kurzen schwarzen Schleier verziert war. Ihr lila Sonnenschirm, von dem sie sich niemals trennte, den sie vor sich hielt und auf den sie sich wie auf einen Spazierstock stützte, war in Genf berühmt. Sie war sehr wohltätig und verteilte den größten Teil ihres Einkommens an karitative Einrichtungen, evangelische Missionswerke in Afrika und eine Gesellschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Schönheit von Genf zu erhalten. Sie hatte auch Tugendstipendien für fromme Mädchen gestiftet. ›Und was tust du für die jungen Männer, Tante?‹ Darauf hatte sie mir geantwortet: ›Um Taugenichtse kümmere ich mich nicht.‹

Tantlérie gehörte einer mittlerweile fast ausgestorbenen Gruppe besonders orthodoxer Protestanten an, die man die Allerheiligen nannte. Für sie bestand die Welt aus Erwählten und Verdammten, und die meisten Erwählten waren Genfer. Es gab zwar einige Erwählte in Schottland, aber nur sehr wenige. Allerdings genügte es in ihren Augen keineswegs, Genfer und Protestant zu sein, um gerettet zu werden. Wer in den Augen des Herrn Gnade finden wollte, musste fünf Bedingungen erfüllen! Erstens musste man an die buchstäbliche Eingebung der Bibel glauben und folglich auch daran, dass Eva der Rippe Adams entsprungen sei. Zweitens in der konservativen Partei eingeschrieben sein, die, wie ich glaube, nationaldemokratische Partei heißt. Drittens sich als Genfer und nicht als Schweizer betrachten. (›Die Republik Genf ist mit den Schweizer Kantonen verbündet, aber sonst haben wir mit diesen Leuten nichts gemein.‹) Für sie waren die Freiburger (›Wie schrecklich, lauter Papisten!‹), die Waadtländer, die Neuenburger, die Berner und alle anderen Eidgenossen in gleicher Weise Ausländer wie die Chinesen. Viertens musste man zu den ›guten Familien‹ gehören, also zu jenen, deren Ahnen wie die unseren vor 1790 im Kleinen Rat vertreten gewesen waren. Ausgenommen von dieser Regel waren die Pastoren, aber nur die ernst zu nehmenden Pastoren, ›nicht diese liberalen und glattrasierten jungen Bengel, die sich erdreisten zu behaupten, unser Heiland sei nur der größte aller Propheten gewesen!‹ Fünftens durfte man nicht ›mondän‹ sein. Dieses Wort hatte für meine Tante eine ganz besondere Bedeutung. Mondän war in ihren Augen zum Beispiel jeder Pastor, der fröhlich war und einen weichen Kragen und einen Sportanzug oder helle Schuhe trug, die sie besonders hasste. (›Tss, ich bitte dich, gelbe Halbstiefel!‹) Mondän war auch jeder Genfer, selbst aus guter Familie, der ins Theater ging. (›Theaterstücke sind Erfindungen. Ich höre mir doch keine Lügen an.‹)

Tantlérie war auf das Journal de Genève abonniert, weil das eine Familientradition war und sie außerdem einige Aktien davon zu besitzen ›glaubte‹. Sie las dieses ehrwürdige Blatt allerdings nie und ließ es unberührt im Adressband, nicht etwa weil sie die politische Richtung missbilligte, sondern wegen jener Teile, die sie unanständig nannte, wie unter anderem die Modeseite, den Feuilletonroman unter dem Strich der zweiten Seite, die Heiratsannoncen und die Nachrichten aus der katholischen Welt und über die Versammlungen der Heilsarmee. (›Tss, ich bitte dich, Religion mit Posaunen!‹) Unanständig waren auch die Reklamen für Unterwäsche und die Inserate von ›Lokalen‹, ein Wort, mit dem sie alle verdächtigen Gaststätten wie Varietés, Dancings, Kinos und selbst Cafés bezeichnete. Und ehe ich es vergesse, muss ich nebenbei noch erwähnen, wie entrüstet sie war, als sie hörte, dass Onkel Agrippa eines Tages, als er großen Durst gehabt hatte, zum ersten Mal in seinem Leben ein Café betreten und sich mutig einen Tee bestellt hatte. Was für ein Skandal! Ein Auble in einem Lokal! Irgendwo in meinem Roman muss ich auch noch erwähnen, dass Tantlérie in ihrem ganzen Leben nie eine einzige Lüge ausgesprochen hatte. In der Wahrheit leben, lautete ihre Devise.

Sehr sparsam trotz ihrer Großzügigkeit, hatte sie nie eine einzige ihrer Aktien verkaufen lassen, nicht etwa weil sie an den Gütern dieser Welt hing, sondern weil sie sich nur als die Treuhänderin ihres eigenen Vermögens betrachtete. (›Alles, was mein Vater mir hinterlassen hat, muss unangetastet an seine Enkel übergehen.‹) Ich habe weiter oben erwähnt, dass sie ›glaubte‹, Aktien des Journal de Genève zu besitzen. Sie war nämlich in finanziellen Dingen nicht sehr kompetent und betrachtete ihre Aktien und Obligationen als zwar notwendige, aber niedrige Dinge, von denen man so wenig wie möglich sprach und mit denen zu beschäftigen sich nicht ziemte. Darin verließ sie sich blind auf die Herren Saladin, de Chapeaurouge und Co., Bankiers der Aubles seit dem Verschwinden des Bankhauses Auble und sehr achtbare Leute, obwohl sie sie in Verdacht hatte, das Journal de Genève zu lesen. (›Aber ich bin tolerant und verstehe, dass es für die Herren von der Bank eine Notwendigkeit ist, denn sie müssen sich ja auf dem laufenden halten.‹)

Natürlich verkehrten wir nur mit Leuten unseres Standes, die alle ungeheuer fromm waren. Innerhalb des Stammes der guten Genfer Protestanten bildeten meine Tante und ihresgleichen einen kleinen Clan von Ultras. Mit Katholiken zu verkehren kam für uns nicht in Frage. Ich erinnere mich noch, wie Onkel Gri Éliane und mich, als ich elf Jahre alt war, zum ersten Mal nach Annemasse, einer kleinen französischen Stadt in der Nähe von Genf, mitnahm. In Tantléries Zweispänner, der von unserem Kutscher Moïse – trotz seines Vornamens war auch er ein strenggläubiger Calvinist – gelenkt wurde, konnten wir beiden kleinen Mädchen es kaum erwarten, endlich einmal dieses seltsame Volk, diese geheimnisvollen Eingeborenen zu Gesicht zu bekommen. Während der Fahrt sangen wir immer wieder: ›Wir werden Katholiken sehen, wir werden Katholiken sehen!‹

Doch zurück zu Tantlérie. Mit ihrem flachen Hut, dem stets der kurze schwarze Schleier hinterherwehte, fuhr sie jeden Morgen um zehn mit Moïse, im Zylinder und mit Stulpenstiefeln, im Zweispänner aus. Sie besuchte ihre liebe Stadt, um zu sehen, ob alles am rechten Platz war. Stieß sie sich an irgendeiner Unzulänglichkeit, wie eine brüchige Rampe, ein aus den Fugen geratenes Eisengitter, ein versiegter öffentlicher Brunnen, so begab sie sich sogleich zu ›einem jener Herren‹, das heißt, sie beklagte sich bei einem Mitglied der Genfer Regierung. Das Ansehen ihres Namens und ihrer Persönlichkeit, gestärkt noch durch ihre Wohltätigkeit und ihre Beziehungen, war so groß, dass die hohen Herren stets eiligst bemüht waren, sie zufriedenzustellen. Hier noch ein Beispiel für den Genfer Patriotismus Tantléries: Sie hatte die Beziehungen zu einer englischen Prinzessin abgebrochen, die zwar ebenso fromm war wie sie, es jedoch in einem Brief gewagt hatte, sich über Genf lustig zu machen.

Gegen elf war sie zurück in ihrer schönen Villa in Champel, ihrem einzigen Luxus neben ihrem Zweispänner. Wie ich bereits erwähnte, war sie sehr wohltätig und gab für sich selbst sehr wenig aus. Ich sehe noch ihre imposanten schwarzen Schleppenkleider, die jedoch alle alt, abgetragen und sorgfältig gestopft waren. Um zwölf Uhr mittags ertönte der erste Gongschlag. Um halb eins der zweite, und dann musste man sich sofort ins Speisezimmer begeben. Es wurde keine Verspätung geduldet. Onkel Agrippa, Jacques, Éliane und ich standen um den Tisch und erwarteten jene Frau, die wir unter uns manchmal die Chefin nannten. Natürlich setzten wir uns erst, nachdem sie Platz genommen hatte.

Nach dem Tischgebet wurde ausschließlich über anständige Themen gesprochen, wie Blumen (›man muss immer das Ende des Stiels der Sonnenblumen eindrücken, damit sie sich halten‹) oder die Farben eines Sonnenuntergangs (›ich habe es so genossen, ich war so dankbar für all diese Pracht‹) oder über Temperaturschwankungen (›heute früh beim Aufstehen habe ich gefröstelt‹) oder die letzte Predigt eines Lieblingspastors (›sehr gut durchdacht und hübsch ausgedrückt‹). Man sprach auch viel über die Fortschritte der evangelischen Mission in Sambesi, und deshalb kenne ich mich noch heute bestens in Negerstämmen aus. Ich weiß zum Beispiel, dass der König von Lesotho Lewanika heißt und die Einwohner Lesothos Basutos sind und Sesuto sprechen. Dagegen war es verpönt, über das zu sprechen, was meine Tante materielle Dinge nannte. Ich erinnere mich, eines Tages in meiner Unbesonnenheit gesagt zu haben, dass ich die Suppe etwas zu sehr gesalzen fände, worauf sie die Stirn runzelte und mich mit einem eisigen ›Tss, Ariane, ich bitte dich‹ zurechtwies. Die gleiche Reaktion, als ich mich nicht enthalten konnte, die Mousse au chocolat, die uns eben serviert worden war, zu loben. Ich hätte mich am liebsten unter dem Tisch verkrochen, als sie mich mit ihren kalten Augen anblickte.

Kalt und doch zutiefst gütig. Sie vermochte es nur nicht zu zeigen, zum Ausdruck zu bringen. Es war keine Gefühllosigkeit, sondern edle Zurückhaltung, vielleicht auch Angst vor allem Fleischlichen. Fast nie ein zärtliches Wort, und die seltenen Male, die sie mich küsste, berührten ihre Lippen nur ganz leicht meine Stirn. War ich dagegen krank, so stand sie mehrere Male mitten in der Nacht auf und kam in ihrem majestätischen Morgenrock zu mir, um sich zu überzeugen, ob ich nicht wach lag oder die Decke abgeschüttelt hatte. Liebste Tantlérie, die so zu nennen ich mich nie getraut habe.

Irgendwo in meinem Roman muss ich von meinen Gotteslästerungen sprechen, als ich klein war. Ich war sehr fromm, und doch konnte ich mich unter der Dusche nicht enthalten, plötzlich zu sagen: ›Du Drecksgott!‹ Doch gleich danach rief ich: ›Nein nein, ich habe das nicht gesagt! Gott ist gütig, Gott ist sehr nett!‹ Und dann fing es wieder an, und ich lästerte erneut! Ich wurde ganz krank davon und schlug mich, um mich zu bestrafen.

Eine andere Erinnerung. Tantlérie hatte mir erzählt, die Sünde gegen den Heiligen Geist sei die schlimmste von allen. Doch abends, wenn ich im Bett lag, konnte ich manchmal der Versuchung nicht widerstehen, vor mich hinzuflüstern: ›Es ist mir egal, ich sündige gegen den Heiligen Geist!‹ Ohne natürlich zu wissen, was es bedeutete. Aber gleich danach war ich furchtbar erschrocken, versteckte mich unter der Bettdecke und erklärte dem Heiligen Geist, dass ich es nur aus Spaß gesagt hätte.

Meine arme Tantlérie hatte keine Ahnung, welche Ängste sie mir und Éliane bereitete. So glaubte sie zum Beispiel, im Interesse unseres Seelenheils zu handeln, wenn sie uns oft vom Tod erzählte, um uns damit auf das ewige Leben vorzubereiten, das allein zählte. Wir waren wohl gerade mal zehn und elf, als sie uns bereits Geschichten von sterbenden und erleuchteten Musterkindern vorlas, die himmlische Stimmen hörten und sich auf den Tod freuten. Das wurde für meine Schwester und mich zu einer krankhaften Besessenheit. Ich erinnere mich noch an unseren Schrecken, als wir in einem biblischen Kalender den Text für den nächsten Sonntag lasen: ›Du wirst sterben, und du wirst im Herrn geborgen sein.‹ Eine entfernte Cousine Armiot hatte Éliane und mich für eben jenen Sonntag zu sich eingeladen, und ich hatte ihr gesagt, wir seien nicht sicher, kommen zu können, da wir vielleicht in Gott geborgen sein würden. Seitdem habe ich zwar nicht wirklich den Glauben verloren, kann aber Choräle nicht ausstehen, besonders den, der mit den Worten ›Im Lande des ewigen Ruhms‹ beginnt. Mir wird ganz elend zumute, wenn ich die in der Kirche versammelten Leute höre, die ihn mit falscher Freude und krankhafter Inbrunst singen und sich einreden, sie würden mit Begeisterung sterben, aber bei der kleinsten Unpässlichkeit den Arzt rufen.

Hier noch ein paar weitere kleine Erinnerungen, kunterbunt durcheinander und in wenigen Worten, nur damit ich sie nicht vergesse. Ich werde sie im Roman entwickeln. Tantlérie mit ihrer Stickerei nach dem morgendlichen und abendlichen Gottesdienst. Der Gottesdienst endete oft mit dem Choral ›Wie der Hirsch röhrt‹, und ich musste an mich halten, um nicht loszulachen. Doch Tantlérie betete oft allein, dreimal am Tag, immer um dieselbe Zeit in ihrem Boudoir, und man durfte sie nicht stören. Einmal beobachtete ich sie durchs Schlüsselloch. Sie lag auf den Knien mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Plötzlich lächelte sie seltsam und schön, was mich sehr beeindruckte. Irgendwo muss ich auch erwähnen, dass sie nie einen Arzt rufen wollte, nicht einmal Onkel Gri. Sie glaubte an die Heilung durch das Gebet. Im Zusammenhang mit ihrer bereits angedeuteten Angst vor allem Fleischlichen muss ich noch ihre Handtücher im Badezimmer erwähnen. Sie hatte je eines für die verschiedenen Körperteile. Das für die Mitte durfte niemals für das Gesicht benutzt werden. Unbewusste Angst vor der Sünde, Trennung des Heiligen vom Profanen. Nein, die Geschichte mit den Handtüchern werde ich in meinem Roman nicht erzählen. Ich will nicht, dass man sich über sie lustig macht. Ich vergaß zu erwähnen, dass sie nie einen Roman gelesen hatte. Immer aus dem gleichen Grund, aus Abneigung gegen die Lüge.

Jetzt nur noch im Telegrammstil: Nach dem Tod von Jacques und Éliane nur noch Tantlérie und ich in der Villa, denn Onkel Gri als Missionsarzt nach Afrika gegangen. Meine Glaubenskrise. Ich glaubte nicht mehr oder glaubte vielmehr, nicht mehr zu glauben. In unseren Kreisen nannte man das ›Verdorren der Seele‹. Mein Entschluss, Literatur zu studieren. An der Universität lernte ich Warwara Iwanowna kennen, eine junge, vornehme und intelligente russische Emigrantin. Wir wurden bald Freundinnen. Ich fand sie sehr schön. Ich liebte es, ihre Hände, ihre rosigen Handflächen, ihre schweren Zöpfe zu küssen. Ich dachte ständig an sie. Im Grunde war es Liebe.

Tantlérie schätzte diese Freundschaft nicht. ›Eine Russin, tss, ich bitte dich!‹ (Das ›bitte‹ sehr gedehnt, wie entweichender Dampf.) Sie erlaubte mir nicht, ihr Warwara vorzustellen, aber sie verbot mir auch nicht, sie zu sehen, was schon viel war. Doch eines Tages holte die Polizei bei uns Erkundigungen über eine gewisse Sianowa ein, die nur eine provisorische Aufenthaltserlaubnis hatte. Ich war nicht zu Hause. Tantlérie erfuhr zwei schreckliche Dinge durch den Polizisten. Erstens, dass meine Freundin einer Gruppe von Menschewiki, russischen Revolutionären, angehört hatte. Zweitens, dass sie vormals die Mätresse des aus der Schweiz ausgewiesenen Führers dieser Gruppe gewesen war. Als ich am späten Nachmittag heimkam, befahl sie mir, sofort alle Beziehungen zu dieser anrüchigen, von der Polizei überwachten und obendrein noch revolutionären Person abzubrechen. Ich war empört. Meine Warinka verlassen? Niemals! Schließlich war ich volljährig. Am gleichen Abend packte ich mit Hilfe Mariettes, des alten Dienstmädchens, meine Koffer. Tantlérie schloss sich in ihrem Zimmer ein, weigerte sich, mich zu sehen, und ich verließ ihr Haus. Kann ich aus all dem einen Roman machen? Sehen wir weiter.

Ich richtete mich mit meiner Freundin in der Stadt in einer ziemlich schäbigen möblierten Wohnung ein. Ich besaß sehr wenig Geld, denn Papa hatte fast sein ganzes Vermögen bei einer jener finanziellen Komplikationen verloren, die man Börsenkrach nennt. Wir beide waren glücklich. Wir gingen zusammen auf die Universität, ich studierte Literatur, sie Sozialwissenschaften. Studentenleben. Die kleinen Bistros. Ich begann mich ein wenig zu pudern, was ich bei Tantlérie nie getan hatte. Doch Lippenstift habe ich nie benutzt und werde es auch nie tun. Ich finde das schmutzig und vulgär. Ich begann Russisch zu lernen, um es mit ihr sprechen zu können und ihr dadurch näher zu sein. Wir schliefen im selben Bett. Ja, es war Liebe, aber reine Liebe, na ja, fast rein. Eines Sonntags hörte ich von Mariette, die mich oft besuchen kam, dass meine Tante nach Schottland ziehen würde. Das schnürte mir das Herz zu, denn ich fühlte wohl, dass sie sich letztlich wegen meines Lebenswandels ins Exil begab.

Einige Monate später, es war während der Osterferien, gestand mir Warwara, dass sie an Tuberkulose erkrankt sei und nicht mehr auf die Universität gehen könne. Sie hatte mir ihren Zustand verheimlicht, um mich nicht zu beunruhigen, aber auch, um unsere finanzielle Lage durch Aufenthalte in den Bergen nicht zu erschweren. Ihr Arzt, den ich sofort aufsuchte, sagte mir übrigens, es sei bereits zu spät, um sie in ein Sanatorium zu schicken, sie hätte höchstens noch ein Jahr zu leben.

Während dieses letzten Jahres ihres Lebens habe ich mich nicht sehr anständig verhalten. Gewiss, ich hatte mein Studium aufgegeben, um mich ihr ganz zu widmen. Ich pflegte sie, kochte das Essen, besorgte die Wäsche und das Bügeln. Aber abends hatte ich manchmal Lust auszugehen, eine Einladung von Universitätskameraden anzunehmen, keine Mädchen und Burschen aus meinem Milieu, sondern für gewöhnlich Ausländer. So ging ich manchmal zu einem Abendessen, auf einen Studentenball oder ins Theater. Ich wusste, dass sie schwerkrank war, und doch konnte ich der Versuchung, mich zu amüsieren, nicht widerstehen. Warinka, liebste Warinka, verzeih mir, ich war ja so jung. Wenn ich nach Hause kam, schämte ich mich, und das umso mehr, als sie mir nie Vorwürfe machte. Als ich jedoch einmal um zwei Uhr morgens von einem Ball heimkam und ihr irgendetwas erzählte, um mich zu rechtfertigen, erwiderte sie gelassen: ›Ja, aber ich werde sterben.‹ Nie werde ich ihren Blick vergessen.

Am Tag nach ihrem Tod betrachtete ich ihre Hände. Man brauchte sie nur anzusehen und fühlte, dass sie schwer wie Marmor waren. Sie waren matt, von trübem Weiß, und die Finger waren geschwollen. Da verstand ich, dass es aus war, dass alles aus war.

Nach dem Friedhof meine Angst in der kleinen Wohnung, wo sie nachts auf mich gewartet hatte. Da beschloss ich, ins Hotel Bellevue zu ziehen. Adrien Deume, der von seiner Regierung in den Völkerbund entsandt worden war und dessen Eltern noch nicht zu ihm gezogen waren, wohnte im selben Hotel. Eines Abends stellte ich fest, dass ich fast kein Geld mehr hatte. Unmöglich, die Wochenrechnung zu bezahlen. Ganz allein auf der Welt und niemand, an den ich mich wenden konnte. Mein Onkel mitten in Afrika und meine Tante irgendwo in Schottland. Doch selbst wenn ich ihre Adresse gekannt hätte, hätte ich mich nicht getraut, ihr zu schreiben. Die Leute aus meinem Milieu, Cousins, entfernte Verwandte und Bekannte, hatten mich seit meinem Auszug und meinem Leben mit der ›russischen Revolutionärin‹ geschnitten.

Ich weiß nicht genau, was passiert ist, nachdem ich all die Veronaltabletten genommen hatte. Ich muss die Tür meines Zimmers geöffnet haben, denn Adrien fand mich im Flur liegen, als er nach Hause kam. Er hob mich auf und trug mich in mein Zimmer. Da sah er die leeren Pillenschachteln. Arzt, Magenspülung, Spritzen mit ich weiß nicht was. Angeblich schwebte ich ein paar Tage lang zwischen Leben und Tod.

Erholung. Adriens Besuche. Ich erzählte ihm von Warwara und Éliane. Er tröstete mich, las mir vor, brachte mir Bücher, Schallplatten. Der einzige Mensch auf der Welt, der sich um mich kümmerte. Ich war benommen. Die Vergiftung hatte mein Gehirn angegriffen. Eines Abends fragte er mich, ob ich ihn heiraten wolle, und ich sagte ja. Ich brauchte einen gütigen Menschen, der sich für mich interessierte und der mich bewunderte, da ich wohl wusste, dass meine Klasse mich verstoßen hatte. Außerdem war ich völlig mittellos und für den Existenzkampf nicht gerüstet, da ich nichts gelernt hatte und nicht einmal fähig war, eine Sekretärin zu sein. Wir heirateten vor der Ankunft seiner Eltern. Seine Geduld, als ich ihm gestand, ich hätte Angst vor den Dingen, die sich zwischen einem Mann und einer Frau abspielen.

Kurz nach meiner Hochzeit Tod Tantléries in Schottland. Termin bei ihrem Notar. In ihrem Testament, das sie nach dem Skandal meiner Eskapade aufgesetzt hatte, hinterließ sie mir alles außer der Villa in Champel, die Onkel Agrippa erbte. Eintreffen der Eltern Adriens. Meine Depressionen. Wochenlang blieb ich in meinem Zimmer, lag im Bett und las, und Adrien brachte mir mein Essen. Dann wollte ich Genf verlassen. Er nahm mehrere Monate unbezahlten Urlaub. Unsere Reisen. Sein guter Wille. Meine Launen. Eines Abends schickte ich ihn weg, weil er nicht Warwara war. Dann rief ich ihn zurück. Er kam und war so sanft, so gütig. Da sagte ich ihm, ich sei ihm eine sehr schlechte Frau gewesen, aber damit sei nun Schluss, ich würde von nun an lieb zu ihm sein und er solle seine Arbeit wiederaufnehmen. Wir kehrten nach Genf zurück, und ich bemühte mich aufrichtig, mein Versprechen zu halten.

Nach unserer Rückkehr lud ich Freundinnen von früher ein. Sie kamen mit ihren Männern. Seither Schluss, nichts mehr von ihnen gehört. Sie sahen Mutter Deume und ihren kleinen Mann, und das genügte ihnen. Meine Cousins und Cousinen, die Armiots und die Saladins unter anderen, luden mich zwar noch ein, aber allein und ohne meinen Mann zu erwähnen. Ich ging natürlich nicht hin.

Ich muss den kleinen Papa Deume, den ich sehr gern habe, und die Mutter Deume, die falsche Christin mit ihren frommen Grimassen, zu Romanpersonen machen. Mutter Deume ist ein wahres Miststück, und vor einigen Tagen fragte sie mich, wie es um meine Seele bestellt sei, und dann sagte sie, sie stehe mir zur Verfügung, wenn ich einmal ein ernstes Gespräch mit ihr zu führen wünsche. In ihrer Sprache bedeutet ein ernsthaftes Gespräch ein religiöses Gespräch. Einmal hatte sie die Stirn, mich zu fragen, ob ich an Gott glaube. Ich antwortete ihr, nicht immer. Daraufhin erklärte sie mir, um mich zu bekehren, dass Napoleon an Gott geglaubt habe und ich folglich auch an ihn glauben müsse. All das sind Versuche, mich zu beherrschen. Ich hasse sie. Sie ist keine Christin, sie ist das genaue Gegenteil. Sie ist eine Kuh und ein Kamel. Onkel Agrippa, ja, der ist ein wahrer Christ. Ein vollendet guter Mensch, ein Heiliger. Die wahren Protestanten sind doch das Beste, was es gibt. Es lebe Genf! Auch Tantlérie war gut. Ihr Glaube war ein bisschen alttestamentarisch, aber edel und aufrichtig. Und außerdem hat die Deume eine entsetzliche Art zu sprechen. Statt verschwenden sagt sie verschweigen, statt hübsch sagt sie höbsch, statt Milieu sagt sie Mijöh, statt Bissen sagt sie Häppchen, statt bitte sagt sie bütte. Und all die ›nun ja‹, die sie überall anbringt.

Ich muss in meinem Roman auch von ihrem Talent sprechen, mit einem Lächeln perfide Bemerkungen zu machen, nachdem sie sich vorher ausgiebig geräuspert hat. Wenn sie sich räuspert, dann weiß ich, dass eine honigsüße Bosheit im Anzug ist. Gestern früh zum Beispiel gehe ich gerade die Treppe hinunter, als ich plötzlich das entsetzliche Klappern ihrer Stiefel höre. Sie ist auf dem Treppenabsatz im ersten Stock! Zu spät, ihr auszuweichen! Sie nimmt mich am Arm, sagt, sie habe mir etwas Interessantes zu erzählen, führt mich in ihr Zimmer und bittet mich, Platz zu nehmen. Ein Räuspern, dann das grauenvolle strahlende Lächeln eines Gotteskindes, und dann fängt sie an: ›Meine Liebe, ich muss Ihnen etwas so Goldiges erzählen, ich bin sicher, dass es Ihnen Freude machen wird. Stellen Sie sich vor, gerade eben, bevor Adrien ins Büro ging, kam er zu mir, setzte sich auf meinen Schoß, nahm mich in seine Arme und sagte: Liebste Mammi, du bist mir das Teuerste auf der Welt. Ist das nicht höbsch, meine Liebe!‹ Ich warf ihr nur einen Blick zu und ging aus dem Zimmer. Hätte ich ihr gesagt, dass sie mich anwidere, weiß ich genau, was gefolgt wäre. Sie hätte sich mit der Hand ans Herz gefasst wie eine den Löwen vorgeworfene Märtyrerin und hätte mir gesagt, sie würde mir verzeihen und sogar für mich beten. Was für ein Glück immerhin für diese boshafte Ziege, dass sie eisern an das ewige Leben glaubt und sich einbildet, sie würde dann ewig um Gottvater herumschwirren. Sie behauptet sogar, sie freue sich auf den Tod, was sie in ihrem Jargon ›den Marschbefehl erhalten‹ nennt.

Noch ein paar Details in Hinblick auf meinen Roman. Die Deume ist eine geborene Antoinette Leerberghe aus Mons in Belgien. Nach dem Tod ihres Vaters, ich glaube, er war Notar, einige Schicksalsschläge. Mit vierzig Jahren, wenig Fleisch und wenigen sonstigen Reizen, aber vielen Knochen und Warzen, gelang es ihr, sich von dem braven und schwachen Hippolyte Deume ehelichen zu lassen, einem bescheidenen Kleinbürger, der aus dem Waadtland stammte und ehemaliger Buchhalter einer Privatbank in Genf gewesen war. Ursprünglich Belgierin, erhielt sie die Schweizer Staatsbürgerschaft durch ihre Heirat mit dem netten kleinen bärtigen Hippolyte. Adrien ist Antoinettes Neffe. Ihre Schwester, die Mutter Adriens, hatte einen belgischen Zahnarzt namens Janson geheiratet. Adrien war noch ganz klein, als seine Eltern starben, und seine Tante übernahm mutig die Mutterrolle. Von einer Frau Rampal, deren Gesellschaftsdame sie war und die einen großen Teil des Jahres in Vevey verbrachte, erbte sie eine Villa in jener kleinen Stadt. Aus diesem Haus machte sie ein Erholungsheim für fromme Menschen und Vegetarier. Um sich abzulenken, kam der damals fünfundfünfzigjährige Hippolyte Deume, Besitzer eines kleinen Mietshauses in Genf, nach dem Tod seiner Frau zu einem Erholungsaufenthalt dorthin. Antoinette kümmerte sich ausgiebig um ihn und pflegte ihn, als er krank wurde. Nach seiner Genesung brachte er ihr einen Blumenstrauß. Die vierzigjährige Jungfer war einer Ohnmacht nahe, sank dem verblüfften kleinen Mann in die Arme und flüsterte, sie gäbe ihm ihr Jawort, weil sie spüre, dass es Gottes Wille sei. Dank der Protektion eines entfernten Cousins der Deumes, eines Van Offel, der im belgischen Außenministerium eine wichtige Rolle spielte, wurde Adrien, der in Brüssel Literatur studierte, in das Sekretariat des Völkerbundes in Genf berufen. Ich vergaß zu erwähnen, dass die Deumes einige Jahre vorher das liebe Waisenkind adoptiert hatten, das nun Adrien Deume hieß.

***

»Nein, mein Didi, mach dir keine Sorgen, wenn du dich verspätest, du kannst ja im Palais des Nations zu Mittag essen oder in das Restaurant La Perle du Lac gehen, wo du immer so gerne isst, denn unser Zeitplan hat sich sehr geändert. Ich wollte dich gerade anrufen, um dir die große Neuigkeit mitzuteilen. Stell dir vor, mein Schatz, eben gerade hat die liebe Madame Ventradour Papi und mich zum Lontsch bei sich zu Hause eingeladen! Es ist das erste Mal, dass wir zu ihr zum Essen gehen, was unsere Beziehungen nun wohl noch mehr festigen, ich meine, intimer gestalten wird. Wie ich dir bereits sagte, ändert das sehr unsere Pläne, erstens, weil ich jetzt gleich die liebe Ruth Granier anrufen muss, um unseren für heute Nachmittag angesetzten Meditationstee auf morgen zu verschieben, und zweitens, weil ich für heute Mittag gegrillte Rotbarben geplant hatte, und ich weiß nicht einmal, ob sie sich bis morgen Mittag im Kühlschrank halten werden, denn es wäre doch schade, sie am Abend zu essen, besonders nach dem großen Lontsch, der uns erwartet, aber sei’s drum, wir werden sie heute Abend essen, und die Quiche Lorraine von heute Abend essen wir eben morgen Mittag, denn eine Quiche hält sich länger als Rotbarben. Übrigens, was die Einladung betrifft, muss ich dir erzählen, wie sie zustande gekommen ist, aber schnell, ich habe gerade noch Zeit, doch was soll’s, dann nehmen wir eben ein Taxi an der Haltestelle, ich muss es dir erzählen, es wird dich bestimmt freuen. Vorhin also, vor kaum zehn Minuten, hatte ich die Idee oder vielmehr die Weisung, die liebe Madame Ventradour anzurufen, um ihr ein herrlich erbauliches Buch über Helen Keller zu empfehlen, du weißt doch, diese bewunderungswürdige, immer fröhliche taubstumme und blinde Frau, denn du kannst dir ja denken, dass ich den Kontakt mit ihr aufrechterhalten möchte, und so sprachen wir von diesem und jenem, immer sehr gepflegt, und dabei erzählte sie mir von ihren häuslichen Schwierigkeiten, denn du weißt ja, sie hat eine Menge Personal, eine Köchin, ein Küchenmädchen, ein erstklassig geschultes Zimmermädchen, einen Gärtner und einen Chauffeur. Morgen empfängt sie einen Generalkonsul mit seiner Gemahlin, die einige Tage bei ihr verbringen werden, und natürlich will sie, dass alles tipptopp ist. Heute sollten die Fenster geputzt werden, dreißig Fenster, von denen zwanzig nach vorne gehen, aber auf einmal wird die Frau, die normalerweise für die groben Arbeiten kommt, krank, was soll man von solchem Volk auch anderes erwarten, ständig haben sie eine Ausrede, und natürlich immer im letzten Augenblick, ohne einem Zeit zu lassen, sich anderswo umzusehen. Die liebe Madame Ventradour war natürlich völlig aus dem Häuschen und wusste sich nicht zu helfen. Und gutherzig wie ich bin, kam ich auf die Idee, ihr zu sagen, ich würde ihr meine Martha für den ganzen Nachmittag für ihre Fenster leihen, von denen zehn in diesem neuen japanischen Kunststil bemalt sind, du erinnerst dich doch noch, als wir im Januar zum Tee da waren. Sie hat dankbar angenommen, hat mir tausendmal gedankt und war ganz gerührt. Ich bin froh, auf diese Idee gekommen zu sein, denn eine Wohltat geht niemals verloren. Ich sagte ihr also, ich würde ihr Martha sofort bringen, denn das arme Mädchen kann ja nicht allein den Weg zu dem herrlichen Landhaus der Ventradours finden. Und spontan, wie sie nun einmal ist, rief sie gleich, hören Sie, kommen Sie doch mit Ihrem Mann zum Mittagessen, ganz ungezwungen, wir essen, was gerade da ist. Was gerade da ist, wer’s glaubt, bei ihr ist ja immer alles perfekt, und wie die liebe Ruth Granier sagt, gibt es bei ihr nur Auserlesenes. Und nach allen Regeln der Kunst serviert! So sind wir also richtig eingeladen! Wie bitte? Um ein Uhr, du weißt doch, dass solche Leute ihren Lontsch immer um ein Uhr einnehmen. Ich muss sagen, ich bin sehr froh, dass Martha heute Nachmittag beschäftigt ist, denn sie hätte nicht viel zu tun gehabt, mit der Waschmaschine ist ja jetzt immer schon alles am Vormittag erledigt, so kann sie mal was lernen, wenn sie das geschulte Personal eines großen Hauses erlebt. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, sie könne sich geehrt fühlen, die Fenster einer Schlossherrin zu putzen. Natürlich wird sie auf dem Weg zum Taxistand ein paar Schritte hinter uns gehen müssen, schon wegen der Nachbarn. Ich werde es ihr sehr nett beibringen. Außerdem würde sie sich nur genieren, wenn sie neben uns gehen müsste, sie weiß ja, dass sich das nicht gehört. Also, mit dieser guten Nachricht muss ich dich jetzt verlassen, mein Schatz, ich muss mich noch umziehen, die liebe Ruth Granier anrufen und auch Papis Anzug kontrollieren und ihm ein paar Ermahnungen mit auf den Weg geben, besonders wegen der Suppe, die er immer so laut schlürft. Übrigens hat sich Madame Ventradour sehr nett nach dir erkundigt, und was ich ihr über deine offiziellen Verpflichtungen erzählt habe, hat sie sehr interessiert, ich kann ihr doch Grüße von dir ausrichten, nicht wahr? Wie bitte? Ihr deine Empfehlungen übermitteln? Du hast recht, das klingt feiner, sie ist ja so vornehm. Wie bitte? Gut, wie du willst. Ich werde sie rufen, sie sitzt natürlich wieder am Klavier, warte einen Augenblick. (Schweigen, dann wieder dieselbe Stimme.) Sie lässt dir ausrichten, sie könne nicht an den Apparat kommen, weil sie ihre Sonate nicht unterbrechen will. Ja, mein Schatz, genau das hat sie gesagt. Hör zu, mein Didi, mach dir nicht die Mühe nach Hause zu kommen, iss ruhig in La Perle du Lac, wo man sich wenigstens um dich kümmern wird. Und jetzt muss ich auflegen, wir müssen uns beeilen. Also auf Wiedersehen, mein Schatz, bis heute Abend, deine Mammi ist immer für dich da, du weißt ja, dass du auf sie zählen kannst.«

Er ging ins Zimmer zurück, legte sich auf das Bett und atmete den Duft des Eau de Cologne, während aus dem Salon Schumanns Kinderszenen heraufklangen. »Spiel, meine Schöne, spiel nur, du weißt nicht, was dich erwartet«, murmelte er und sprang auf. Schnell, die Verkleidung.

»Voi che sapete che cosa è amor.«