Gott oder Dämon?

Zur Einführung

»Man muß immer auf Sade, das heißt auf den natürlichen Menschen zurückgreifen, um das Böse zu erklären.«

Charles Baudelaire

Gut entwickelte Schädelwölbung [Wohlwollen], keine auffallenden Ausbuchtungen in der Schläfengegend [Sitz der Grausamkeit], keine ungewöhnlichen Höcker hinter und über den Ohren [Sitz der Streitsucht], Kleinhirn von mäßigem Umfang, kein besonders großer Abstand von einem Warzenfortsatz zum anderen [Sitz der übermäßigen Sinnlichkeit].“ So liest sich das phrenologische Gutachten über Donatien Alphonse François de Sade. Angefertigt hat es der Assistenzarzt Ramon. Der das Sterben des ehemaligen Marquis in der Irrenanstalt Charenton begleitete. Ramon war ein Anhänger der damals populären Phrenologie, einer Lehre, nach der aus der Schädelform bestimmte geistig-seelische Eigenschaften bestimmt werden können. Bei Umbettungen auf dem Friedhof hatte er Sades Schädel an sich genommen. „Schon wenn ich in dem würdig, fast patriarchalisch herumwandelnden de Sade niemals den Verfasser von »JUSTINE« und »JULIETTE« vermutet hätte, so würde ich ihn nach der Untersuchung seines Schädels erst recht von der Anschuldigung freisprechen, solche Werke hervorgebracht zu haben. Sein Schädel gleicht in jeder Hinsicht dem eines Kirchenvaters.“

Ganze Heerscharen kluger Leute haben sich ihren Kopf über Donatien Sade zerbrochen. Sie haben seine Beziehungen analysiert und seine Schriften studiert, sind aber nicht zu übereinstimmenden Wertungen gekommen. Genau darin liegt die Faszination dieses Mannes. Top oder Flop, Gut oder Böse gibt es bei ihm nicht, ebensowenig wie eine gültige Helden- oder Schurkenrolle. Donatien bietet mit seinem Leben und Werk Raum für jedwede Reaktion: Verachtung und Bewunderung, Verdammung und Vergötterung.

Als der göttliche Marquis wird er von den einen verehrt, als Dämon Sade von den anderen verteufelt. „Der subversivste Mensch, der je erschienen ist“, urteilte Georges Bateille, „der unabhängigste Geist, der jemals gelebt hat“, ergänzte Guillaume Apollinaire. „Sade ist der Bluthusten der europäischen Kultur“, meinte Ernst Ulitzsch, während Jules Janin stöhnte: „Überall, wo dieser Mensch auftritt, verspürt man einen Schwefeldunst, als ob er durch den sodomitischen See geschwommen wäre.“ Der große Sade-Biograph Gilbert Lely schrieb: „Der Marquis de Sade ist vor allem ein Mensch, der mit einer genialen wissenschaftlichen Imagination begabt ist“. Jean-Jacques Pauvert hielt ihn für „eines der fünf oder sechs Universalgenies ganz großen Zuschnitts“ und für „den größten Schriftsteller Frankreichs“. Ganz anders Paul Claudel: „Es ist wenigstens gut, daß man Sade die Hälfte seines Lebens im Dunkeln hat zubringen lassen“.

Niemand, weder ein Leser noch ein Kritiker, wird jemals ein abschließendes allgemeingültiges Urteil über Donatien Sade abgeben können. Der Mann ist nicht einzuordnen, gibt mannigfache individuelle Interpretationsmöglichen und bietet viele intellektuelle Ankerpunkte. So verdammt auf der einen Seite Alice Schwarzer sein Werk als frauenverachtende Hardcore-Pornographie, während Feministin Angela Carter die starke Sade-Figur Juliette als Inbegriff der ersehnten Frauen-Power bejubelt. So erkoren die Surrealisten Donatien Sade zum Gott der absoluten Freiheit aus, während Faschisten an seinen Gedanken zur Reinigung der Gesellschaft durch Massenmorde Gefallen fanden. Einige Schriftsteller machten aus Donatien ein frauenzerstückelndes Monster, andere setzten ihm einen szientifisch-philosophischen Heiligenschein auf. Sie erklärten ihn zu ihm einen Gelehrten, der schon vor Freud die Triebstrukturen der menschlichen Sexualität erforschte und vor Krafft-Ebing deren Abgründe in einer Psychopathia sexualis ordnete. Das ist Unsinn, denn nicht sein Forschergeist hielt das Flutlicht in den Sex-Untergrund, sondern seine Lüsternheit. Er beschrieb das, was sein Glied spannte. Das war zwar mehr und ungeheuerlicher, als es sich der Durchschnittsmensch vorstellen konnte, aber längst nicht alles.

In Lebensschilderungen wird Donatien häufig zum Märtyrer und Helden, zum Brecher gesellschaftlicher Normen und zum Opfer staatlicher Willkür verklärt. Dem gegenüber muß klar gesagt werden, daß Donatien Sade üble Sexualstraftaten begangen hat, die nicht entschuldbar sind. Und es muß festgestellt werden, daß er keinesfalls ein sympathischer Zeitgenosse gewesen ist. Vielmehr war er bis zu seiner ersten langen Haft ein arroganter Aristokrat, für den das gemeine Volk ein Nichts war. Ihn interessierten allenfalls die Bauern seiner Besitzungen, weil die durch ihre Abgaben seinen Lebensunterhalt sicherten, und die Mädchen in den Schauspielhäusern, weil die seine sexuellen und intellektuellen Bedürfnisse befriedigten. Ansonsten war er ein Egozentriker, der sich für den Nabel der Welt hielt und alle anderen Menschen drumherum für willfährige Tanzmäuse und Dukatenesel. Seine treusorgende Ehefrau schüchterte er durch wilde Tobsuchtsanfälle ein, seinen ergebenen Verwalter bombardierte er mit ungeduldigen Geldforderungen. Donatien war ein ziemlich fieser Typ.

Dennoch: Irgendetwas muß ja an ihm dran sein, daß sein Leben vielfach nacherzählt und verfilmt wurde, daß seine Werke nie vergessen wurden und inzwischen als Klassiker eingestuft werden. Sein literarisches Genre blühte im ausgehenden 18. Jahrhundert, Kollegen wie Réstif de la Bretonne und Andréa de Nerciat publizierten gleich ihm Erotisches. Deren Bücher kennt heute kaum noch jemand, während Sades »JUSTINE«, »JULIETTE« UND »DIE 120 TAGE VON SODOM« sogar in die Pléiade, die prestigereichste französische Literaturedition eingereiht wurden. Allerdings war es lange Zeit schwierig, an Sade-Bücher heranzukommen. Sie waren in den Giftschränken der Bibliotheken eingeschlossen; erst 1955 konnte Verleger Jean-Jacques Pauvert nach langen Prozessen eine Gesamtausgabe herausbringen.

Sades Texte sind unglaublich originell und radikal. Phantasievoll werden jede Menge Sexperimente und Martermethoden ausgemalt, scharfsinnig werden Machtverhältnisse und Verhaltensmuster ausgeleuchtet, prophetisch werden neue Gesellschaftsmodelle entworfen. Manche Stellen kitzeln Lubrikation und Erektion hervor, andere sorgen für Abscheu und Entsetzen. Aber stets fesseln sie.

„Je deutlicher die Gemeinheit des Lasters vor den Augen der Welt bloßgelegt wird, desto größer ist der Widerwille, den eine tugendhafte Seele dabei empfindet“, verteidigte Sade scheinheilig seine Sex- und Gewaltschilderungen. „Derlei Dinge entrüsten uns, erfüllen uns mit Ekel, belehren uns, doch erhitzen tun sie uns niemals.“ Wirklich? Donatiens Sohn wollte einst die Erinnerung an den Vater auslöschen. Er ließ dessen Namen auf dem Stammbaum der Familie tilgen und bemühte sich um den Aufkauf und die Vernichtung aller Manuskripte.

Die Urururenkel haben weniger Probleme mit dem höllischen Marquis. Die Ahnentafeln verzeichnen ihn wieder, und Thibault de Sade [Jahrgang 1957] verdankt einer Arbeit über Sade und die Politik seinen Doktortitel. Daneben stellt er aus den Trauben seiner Weingüter ein edles Gesöff her: den Champagner Marquis de Sade. Thibault hat gute Gründe: „Sade liebte den Champagner. Im Champagner spiegeln sich seine Schwäche für Luxus, Qualität, Lust und Lebenskunst. Die libertine Philosophie ist vor allem die Philosophie der Tafel.“ A votre santé!

Das erste Mal

Die Philosophie im Boudoir

»Nicht, was er treibt, sondern, wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist«

Friedrich von Schiller


Jeder Gast der kleinen Pension drehte sich nach ihnen um, blickte auf die zwei jungen Damen, die am Kaminfeuer plauderten. Die meisten hielten sie vermutlich für Schwestern, doch es war die Lehrerin mit ihrer Schülerin.

Das jüngere Mädchen war knackige 15 Jahre, die ältere Frau attraktive 26 Jahre alt. Noch größer als der Altersunterschied war die sexuelle Erfahrung: Die kleine Mademoiselle Eugénie de Mistival hatte gar keine, die erwachsene Madame de Saint-Ange um so größere Übung. Ihr war keine Geschlechtspraxis fremd, ebenso kein Mann in ihrer Umgebung.

Seit ihrem ersten Mal im Alter von 15 Jahren hatte sie es mit 10.000 bis 12.000 Männern getrieben, verkehrte also mit durchschnittlich drei Lovern täglich.

Verständlich, daß sich diese Frau als Lehrmeisterin der Ausschweifungen anbot. Begreiflich auch, daß die junge Eugénie in ihrer erwachenden Leidenschaft ganz scharf auf derartige Lektionen war. Bei jenem Treffen in der Herberge vereinbarten beide einen Sex-Wochenendkurs im Hause von Madame de Saint-Ange.

Dessen Verlauf schildert Sade in seinem Werk »DIE PHILOSOPHIE IM BOUDOIR« mit dem vielsagenden Untertitel: »DIE LASTERHAFTEN LEHRMEISTER«. Sade verfaßte das Manuskript vermutlich während seines Aufenthaltes im Krankenhaus Picpus, wo er als Verurteilter des Schreckensregimes Robespierres auf seine Hinrichtung wartete. Nach dem Sturz des Tyrannen erschien das Buch Ende 1795. »DIALOGE, ZUR ERBAUUNG JUNGER DAMEN BESTIMMT«, hieß es auf dem Titelblatt. Und: »MÜTTER, MACHT EUREN TÖCHTERN DIE LEKTÜRE ZUR PFLICHT!«

Die neugierige, noch vollkommen unschuldige Eugénie beschreibt Sade als wahrhaft süßes, engelsgleiches Wesen. Sie ist groß und stark, dabei anmutig und wohlgeformt. Ihre Augen blitzen feurig, ihre Zähne strahlen hell, ihr Näschen stupst kokett, ihre Haare fallen dicht. Ihr Busen ist klein und fest, der Po üppig und rund.

Ihr Vater weiß von dem Ausflug in Saint-Anges Lasterhöhle, er begrüßt die Fortbildung seiner Tochter ausdrücklich. Schließlich ist er ein guter, auch intimer Freund von Madame de Saint-Ange und teilt mit ihr den Spaß an zügellosen Ausschweifungen. Ganz anders Eugénies Mutter, die beim Stichwort Sex die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und deshalb von Gatte und Tochter als Duckmäuserin und Betschwester verachtet wird.

Die Gastgeberin Saint-Ange ist seit zehn Jahren verheiratet, und zwar mit einem fast doppelt so alten Mann. Mit dem hat sie ein arg beschränktes Liebesleben, denn statt normaler Beischläfe finden mit ihm ausschließlich 69er-Oralnummern statt. Als Dessert verputzt er jedesmal genüßlich ihren Darminhalt. Sie strebt, nachdem er sie saubergeleckt hat, zu anderen, sie richtig penetrierenden Männern.

„Ich bin die wohl ausschweifendste und lasterhafteste aller Frauen“, charakterisierte sich Madame selbst und warnte: „Wenn man zum Sinnenrausch und Wolllusttaumel geboren ist, dann ist es völlig unnütz, daran zu denken, dieser Geilheit Zügel anzulegen.“

Sie ist unersättlich, prahlt damit, daß sie einmal innerhalb von 24 Stunden 90mal genommen wurde, sowohl von vorn als auch von hinten. Bei der Partnersuche ist sie nicht wählerisch. Sie gibt sich schon mal als Nutte im Bordell unbekannten Männern hin, verschmäht aber auch keine Frauen und öffnet sich selbst für Affen, Hunde und Esel. Mag sie nicht aus dem Haus gehen, heuert sie ihre Kammerdiener an oder besucht ihren jüngeren Bruder Mirvel. Mit Doktorspielen im Kinderzimmer fing ihre blutschänderische Beziehung an, deren Höhepunkt die Entjungferung durch das Bruderherz war.

„Gleich und gleich gesellt sich gern! Es gibt nichts Delikateres und zugleich Süßeres als die engste fleischliche Vereinigung der Familien“, erklärt Madame de Saint-Ange. „Also lasse dich ruhig von deinem Vater verführen und vögeln! Möge er sich an deiner Liebe, an deinem Körper und an deinen Reizen berauschen, ebenso wie du dich getrost in seinen Armen entspannen und die höchste und süßeste Wonne, Seligkeit und Wollust genießen mögest.“

Die lüsterne Dame legt dem jungfräulichen Mädchen den Reiz solcher Grenzüberschreitungen dar: „Es sind ja gerade die allertollsten, die allerschmutzigsten, verrottetsten und ausschweifendsten Extravaganzen und Perversitäten, die uns am meisten den Kopf und das Hirn verdrehen und uns am allersüßesten da unten zwischen den Schenkeln, an dem Sitze unserer höchsten sexuellen Lust, genießen und fertig werden lassen!“ Hinter der schrankenlosen Sexpraxis steht eine entsprechende libertine Philosophie. Diese erläutert sie zusammen mit dem Hausfreund Dolmancé der jungen Eugénie.

Der elegant auftretende und geistvoll plaudernde Dolmancé wird als der verderbteste und schlechteste Mensch beschrieben, als einer, dem keine Sauerei und keine Schurkerei fremd ist. Der 36jährige ist ein eingefleischter Sodomit, der kein anderes geschlechtliches Ziel als den After sieht. Am liebsten erobert er Männer, aber er stößt auch in die rückwärtige Pforte von Frauen hinein. Das wird er im Zuge der Unterrichtung Eugénies praktisch demonstrieren, begleitet von langen Exkursen in die Denkungsart von Libertins.

Als Assistenten treten noch der bereits erwähnte Bruder von Saint-Ange, der Chevalier de Mirvel, sowie der Gärtnerbursche Augustin auf. Beide sind mit prachtvollen Gliedern ausgestattet: Das des 20jährigen Mirvel mißt beeindruckende zehn Zoll in der Länge, das sind gut 26 cm. Augustins Gemächt bringt es im erigierten Zustand gar auf eine Länge von 34 cm und einen Durchmesser von 22 cm! Es erlahmt nimmer, schwillt nach einem Einsatz sofort wieder an und scheint nie zu versiegen. Die Spermamenge, die er ausspuckt, ist so gewaltig, daß das Boudoir nach seinem Orgasmus überschwemmt und die gegenüberliegende Wand klatschnaß ist.

„Ein jedes weibliche Wesen, meine liebe Eugénie“, sagt Madame de Saint-Ange am Beginn der Erziehung, „gleich, in welchem Stande es sich befindet, ob Jungfer, Ehefrau oder Witwe, soll keinen anderen Lebenszweck kennen, keine andere Beschäftigung, keine anderen Wünsche haben als sich vögeln zu lassen, und zwar fortwährend, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Denn nur zu diesem Zwecke allein ist das Weib von der Natur erschaffen worden!“

Übrigens geht Sade davon aus, daß auch Frauen beim Höhepunkt eine Flüssigkeit abspritzen, eine damals weitverbreitete Auffassung. Sade spricht den Frauen eine große Potenz zu, die sich in deutlich wahrnehmbaren Orgasmen entlädt. Heute wird vielfach von weiblichen Ejakulationen berichtet, aber die Quelle der klaren, glyzerinartigen Substanz wurde bislang nicht ausgemacht.

Die beiden erfahrenen Referenten erklären in aller Ausführlichkeit die körperlichen Komponenten der Sexualität. Sie dozieren über die Reizfunktion der weiblichen Brust [„Der Liebende hat sie während des Aktes meist vor Augen, er befühlt und betastet sie zärtlich, er streichelt und küßt und leckt sie, oder er saugt sich an den kleinen Wärzchen fest“] und des männlichen Gliedes [„Es ist der Hauptakteur bei allen Liebesspielen; es gibt keine Pforte des weiblichen Körpers, in die es sich nicht gar zu gern hineinschlängelt“], über Vagina und Klitoris [„In, an und auf ihr basiert der ganze und zugleich der höchste geschlechtliche Sinnenreiz des Weibes sowie gleichzeitig auch die extremste Sensibilität in der ganzen weiblichen Geschlechtssphäre“], über Orgasmus und Ejakulation [„Das ist das End- und Hochstadium des geschlechtlichen Genusses. Man sagt statt fertigwerden auch genießen sowie spritzen“].

Im Boudoir erklären Madame Saint-Ange und Monsieur Dolmancé dem wißbegierigen Mädchen, auf welche Art und Weise Männer und Frauen kommen können: durch Masturbation [„Sieh nur, wie der Schwanz sich jetzt immer mehr erregt, in dem Maße, wie ich ihn mit meinen Fingern hätschele!“], durch Streichelspiele [„Man darf mich da, ja da am Kitzler, nicht lange befingern, wenn man mich nicht alsbald vor Wollust ohnmächtig sehen will“], durch Zungenarbeit [„Die allerbeste Art ist die des Soixante-neuf oder der Ziffer 69, wobei sich die Frau verkehrt über den Körper ihres Geliebten legt und ihr Venushügel über ihr Vötzchen auf seinem Gesichte zu liegen kommt, während ihr Kopf in dem Bereich seines Schwanzes liegt. Sie steckt sich dann den sicher infolge seiner Erwartung bereits steifen Apparat in ihren Mund, während er seine Zunge in ihrem liebesdürstenden Vötzchen herumwirbeln läßt“], durch Mammalverkehr [„Sie steckt den Steifschwanz des Geliebten ganz einfach zwischen ihre beiden Brüste, und nach etlichen Stößen in dieses warme süße Nest wird er bald derartig entladen, daß er nicht nur die Liebesäpfelchen selbst, sondern meist auch das ganze Gesicht und die Haare seiner Dulcinea überschwemmt“] oder durch Analverkehr [„Er benetzt die Arschspalte und dessen kleines Loch ein wenig mit dem Munde, ebenso wie sein Werkzeug mit Speichel oder Pomade. Sobald er die Eichel eindringen fühlt, muß er mit aller Kraft weiterstoßen, um nicht das einmal eroberte Terrain wieder zu verlieren. Er muß ohne Rücksicht auf ihre möglichen Schmerzen, die sich sehr bald in einen wahren Hochgenuß verwandeln werden, sein Werkzeug bis an die Wurzel hineinschieben“]. Halt, da fehlt doch noch eine Praktik, nämlich der normale Koitus mit dem Glied in der Scheide! Üben Sades Helden diesen etwa nicht aus? Doch, aber nur in Ausnahmefällen. „Den Vaginalverkehr vermeide soviel als möglich“, ermahnt Frau Saint-Ange ihre Schülerin. „Und wenn er denn sein muß, bediene dich stets der allergrößten Sorgfalt und Umsicht bei dieser Art des Genusses. Anstelle des Vötzchens offeriere daher lieber deine Hand oder deinen Mund, die Brüste oder das kleine schwarze hintere Loch.“

Der Hauptgrund für die Ächtung des guten alten Beischlafs ist die Möglichkeit, davon schwanger zu werden. Und eben das ist Sade und seinen Protagonisten ein Greuel: „Sei stets die erbittertste Feindin des ekelhaften Kindergebärens und beseitige stets auf das allerschnellste den perfiden männlichen Likör, der lediglich dazu dient, unsere Brüste und Taillen zu verderben, wenn wir schwanger werden!“

Spätestens hier wird klar, warum im Titel die Philosophie vorkommt. Denn die sexuellen Reden und Taten der Gruppe sind nur die Basis und der Anlaß für lange Ausführungen über Gut und Böse, Familie und Gesellschaft. Dann merkt der Leser, daß im Boudoir von Sade keine luststrotzenden Körper agieren, sondern komplexe Ideen herumspuken. Er spürt, daß die sexuellen Akte ohne ekstatische Begeisterung geschildert werden, daß nichts von pochender Begierde und erhitztem Fleisch herüberkommt. Antörnende Pornographie liest sich anders …

Statt dessen halten die Akteure selbst im wüstesten Verkehr inne, verharren in der verwegendsten Position und dozieren minutenlang über Gott und die Welt, ehe sie fortfahren und sich letztendlich doch den Abschuß genehmigen. Das Diskutieren und Debattieren bereitet ihnen größere orgiastische Lust als das Aneinanderreiben von Genitalien. Ellenlange Lobgesänge stimmen Eugénies Erzieher beispielsweise auf den Analverkehr an. Vergeblich sucht man darin das Preisen der körperlichen Empfindungen, liest nichts von der strammen Reizung durch den engen Kontakt im hinteren Eingang.

Sade geht es vielmehr um den Tabubruch. Für ihn ist entscheidend, daß dem Arschfick keine Schwangerschaft folgt, daß er dem Konzept von Ehe und Familiengründung entgegensteht. „Es ist ein Hohn gegen die Bestimmungen der Natur, wenn man ein junges Mädchen in die absurden Fesseln einer Ehe mit einem einzelnen Mann zwingt, dem allein sie ihre Liebe schenken und ihre Treue beweisen soll“, heißt eine Boudoir-Botschaft. „Also fort, fort mit all diesen vorsintflutlichen Prinzipien von Elternliebe, Anstand und Sittsamkeit! Zertrümmere einfach alle diese Hindernisse und Ketten, die dich immer noch fesseln mögen! Und, liebe Eugénie, ein hübsches junge Mädchen sollte sich nur damit befassen, zu ficken und niemals zu zeugen!“ Eben deshalb gehöre das Sperma nicht in die Scheide, sondern in den After!

Immer wieder betonen das die Akteure im Boudoir. „Kann es denn auf der Welt etwas Schöneres als einen prächtigen Hintern geben?“ fragt Dolmancé. „Wo gäbe es für die brünstige Liebessehnsucht göttlichere Opferaltäre?“ Madame de Saint-Ange sagt: „Die Wollust, die wir Frauen bei der Einführung eines Schwanzes in unseren Hintern verspüren, ist unbestreitbar derjenigen vorzuziehen, die dieselbe in unserer Votze zu verschaffen vermag. Bei der Arschvögelei empfindet die Frau zweifellos sehr viel mehr Vergnügen und Genuß als bei allen anderen Arten des Verkehrs.“

Nur konsequent ist es deshalb, daß das Schulmädchen Eugénie als erstes anal entjungfert wird. Der entscheidende Angriff auf Eugénies Unschuld wird genauestens durchgeplant. Alle sollen beteiligt werden, alle sollen im gleichen Augenblick ihre Klimax erleben.

Eugénie und Saint-Ange stimulieren sich in 69er-Manier per Mund und Hand, Dolmancé erobert derweil den Hintern der Schülerin. „Mut, Mut, Eugénie, Mut!“ ruft er dem verkrampften Mädchen zu. „Ah, ah, o weh, o weh, Sie zerreißen mich ja vollständig“, jammert Eugénie, öffnet sich aber Dolmancés Speer. „Das ist durchaus nicht ohne Schmerzen abgegangen. Seht nur den Angstschweiß, der mir auf der Stirne steht! Ah! Mein Gott, noch niemals habe ich einen solch akuten, durchdringenden und durchbohrenden Schmerz empfunden, nicht einmal bei einem Loch im Zahn!“ Madame Saint-Ange erklärt: „Gleich ob die Attacke eines steifen Schwanzes von vorn oder von hinten geschieht, empfindet jedes weibliche Wesen, das noch nicht daran gewöhnt ist, anfänglich mehr oder weniger Schmerzen dabei. Es hat der Natur gefallen, uns in dieser Beziehung nur durch Schmerzen zu den süßen Wonnen der Wollust gelangen zu lassen.“ Übung macht die Meisterin, und der Appetit kommt beim Essen. So wiederholt sich der Analverkehr zwischen Eugénie und Dolmancé in jener Nacht noch dreimal …

Die spätere vaginale Defloration vollzieht der Chevalier de Mirvel mit seinem Zehn-Zoll-Werkzeug. „Oh, das schmerzt ja doch zu sehr, das ist ganz unerträglich“, wimmert dabei die Kleine und wehrt sich, wild mit den Beinen rudernd, gegen den Vorstoß. Doch sie kapituliert und seufzt wenig später: „Wie schnell doch die Schmerzen vergehen, wenn man die Votze und den Leib mit diesem süßen Liebeszepter und Wonnespender bis zum Platzen vollgepropft spürt!“

Eugénies Wohlgefühl hält nicht lange an, denn der Gärtner Augustin zieht mit seinen Dreizehnzöller nach. Diese Zerreißprobe läßt sie in Ohnmacht fallen. Erst nach dem Einflößen guten Weines und dem Verarzten des wunden Genitals ist sie wieder ansprechbar.

Anzuhören hat sich Eugénie noch allerhand. So die Broschüre „Franzosen! Noch eine Anstrengung, wenn Ihr Republikaner sein wollt!“. Mit ihr wird ein Stück der politisch-revolutionären Wirklichkeit von draußen ins intime Boudoir getragen. Das Vorlesen des rund fünfzigseitigen Pamphlets unterbricht das frivole Tun auf der Couch.

Der Autor der Schrift entwirft ein Gesellschaftsmodell mit fast grenzenlosen Freiheiten. Neben der Gewissens- und Pressefreiheit wird in dem Text ein Bürgerrecht auf die ungehemmte sexuelle Verwirklichung postuliert: „Wir müssen gewährleisten, daß der Bürger, den das geschlechtliche Bedürfnis zum Objekt der Begierde treibt, sie ihr mit allen ersehnten Leidenschaften hingibt, ohne an irgendetwas gebunden zu sein. Es gibt keine Leidenschaft im Menschen, die mehr der vollen Entfaltung der Freiheit bedarf als diese.“ Das Leben nach dem Lustprinzip sollte durch keinerlei Fesseln an einen bestimmten Partner behindert werden: „Natürlich ist die freie, schrankenlose Vereinigung, die beliebige Kopulation der beiden Geschlechter. Unnatürlich ist dagegen die Monogamie und die Ehe. Der gegenseitige gemeinschaftliche Besitz von Männern und Frauen sowie die freie Liebe oder die Polygamie ist das einzige gültige Naturgesetz.“ Alle Menschen sind freie Wesen, an denen niemand Besitzansprüche geltend machen kann. Alle gehören allen, jeder darf sich denjenigen greifen, nach dem es einem gelüstet. Widerstand dagegen gehört sich nicht, und so ist auch eine Vergewaltigung völlig in Ordnung. „Ja!“ sagt der Manifest-Autor zur Notzucht. „Hat die Natur uns nicht dieses Recht bewiesen, indem sie uns Männern die Kraft verlieh, die Frauen unseren Wünschen zu unterwerfen?“

Damit solche Gewalt gegen Frauen gar nicht notwendig wird, soll das weibliche Geschlecht gesetzlich zur Prostitution verpflichtet werden. In entsprechend ausgestatteten Palästen sollen sie sich für die Lüstlinge bereithalten, sollen für sie die Schenkel spreizen. In jenen Etablissements können alle Formen der Fleischeslust befriedigt werden, auch die als pervers bezeichneten. Die Sodomie [Analerotik] und Tribadie [lesbische Liebe], der Inzest [Blutschande] und die Päderastie [homosexuelle Knabenliebe] werden als denkbare Spielarten genannt. Der Staat soll nichts reglementieren und wenig bestrafen. Selbst ein Mord ist nicht verwerflich, denn er hilft gegen die Überbevölkerung und bietet die Chance zum Entstehen und Gedeihen neuen Lebens. Falls Strafen verhängt werden, so sollen sie milde ausfallen. Die Todesstrafe gehört abgeschafft.

Diese fiktive Republik, die sich von den Fesseln und Normen befreit, wird in immerwährender Bewegung, ihre Bürger in permanentem Aufruhr sein. Alles ist möglich, vieles wird ausprobiert werden: Diebstahl, Verleumdung, Mord, Unsittlichkeit. Der Stärkere setzt sich durch, Schwache bleiben auf der Strecke. Mitgefühl wird verachtet, das Herz zu einem bloßen Muskel mit rein körperlicher Funktion erklärt. Schicksale, die zu Herzen gehen, und Regungen, die von Herzen kommen, gibt es beim guten Republikaner nicht. Neue, harte und starke Männer braucht das Land!

Die Stunden im Boudoir enden mit einem grausamen, aber konsequenten Höhepunkt. Plötzlich steht nämlich Madame de Mistival in der Tür und verlangt ihre Tochter zurück. Sie findet ihre Eugénie in einer unmißverständlichen Pose, in einem eindeutigen Arrangement vor – die brave Mutter ist entsetzt.

Tochter Eugénie will sich den Spaß nicht verderben lassen und stiftet ihre Genossen zu einem brutalen Attentat gegen die sittenstrenge Mama Mistival an: „Ich möchte Madame am liebsten lebendig am Spieße braten und rösten. Ich würde ganz gerne das Feuer dazu schüren!“ Die bereits erhitzten Boudoir-Philosophen zögern nicht lange, entkleiden sie gewaltsam, peitschen sie aus und notzüchtigen sie. Nach Art des Hauses wird sie anal vergewaltigt, zunächst von Dolmancés fleischlichem Penis und dann von Eugénie mittels eines mächtigen Dildos. Anschließend wird sie mit Nadeln und Skalpellklingen traktiert, bis sie ohnmächtig wird.

Alles scheint auf die Ermordung von Madame Mistival hinauszulaufen, und die wäre schließlich die logische Umsetzung der Meinungen vom Unwert der Mutter. Doch man entschließt sich zu einer fast noch perfideren Tat: Ein an Syphilis im höchsten Stadium erkrankter Kutscher wird herbeizitiert und zum Verkehr mit Madame genötigt. Der Infektion folgt die Infibulation, das heißt, die Geschlechtsorgane von Frau Mistival werden zugenäht.

Eugénie freut sich darüber, daß die Mutter überlebt. Denn jetzt kann sie weiter die gerade angeschafften hellen Kleidchen tragen und muß sich nicht in Trauerschwarz wanden …

Wer sich erstmalig an die Lektüre eines Sade-Werkes herantraut, ist mit der »PHILOSOPHIE IM BOUDOIR« gut beraten. Das Buch ist einerseits locker und launig geschrieben und damit leichter zu verdauen als die dicken Schinken von den Tagen von Sodom und den Nächten von Justine und Juliette und enthält andererseits aber jene typische Sade’sche Melange aus sexuellem Tun und philosophischer Rede. Praktisch ist es, daß man auf jeder Seite in die Lektüre einsteigen kann. Die ständigen Wiederholungen sowohl der Akte als auch der Ansprache sorgen dafür, daß man auch beim häppchenweisen Lesen nichts Wichtiges verpaßt. Die Hymnen auf den Analverkehr werden in derselben Beharrlichkeit wie die Kritik an Religion und Familie wiedergekäut. Und mit der gleichen Zuverlässigkeit straffen sich dazwischen die Glieder und befeuchten sich die Schleimhäute.

Sensiblen Gemütern wird auch gefallen, daß Gewalt beim Sex nur in geringen Maßen, und zwar bei der stimulierenden Flagellation vorkommt. Bestialisch wird es nur am Ende, bei dem Martyrium von Madame de Mistival. Viele der gekürzten Ausgaben der »PHILOSOPHIE IM BOUDOIR« haben dieses Kapitel einfach weggelassen. Übrig blieb ein nettes, lehrreiches Buch über privaten Sex und öffentliche Sitte.

Schimpf und Schande

»Man muß den Menschen vor allem nach

seinen Lastern beurteilen.

Tugenden können vorgetäuscht sein.

Laster sind echt«.

Klaus Kinski

Donatien Alphonse François de Sade dürfte seine erste Erektion und seine erste Ejakulation in irgendeiner Kaserne erlebt haben. Zu Beginn seiner Pubertät kam er in die Kavallerieschule der königlichen Garden in Versailles, dann zog er in den Siebenjährigen Krieg.

Die militärische Männerwelt war sicherlich keine gute Umgebung, um liebevolle partnerschaftliche Kontakte zum anderen Geschlecht zu erproben. Noch irritierender dürfte für den jungen Marquis das Tun seiner blaublütigen Standesgenossen gewesen sein. Denn die gaben die allerschlechtesten Beispiele für zwischenmenschliche Beziehungen ab. Der damals herrschende Ludwig XV. war der sittenloseste und verderbteste König, und sein Beispiel färbte auf die obere Gesellschaftsschicht ab. „Wollust, das ist das Wort des 18. Jahrhunderts“, riefen die Brüder Edmond und Jules de Goncourt, aufmerksame Chronisten dieser Zeit, aus. „Das ist sein Geheimnis, sein Reiz, seine Seele. Es atmet Wollust und macht sie frei. Die Wollust ist die Luft, von der es sich nährt und welche es belebt. Sie ist seine Atmosphäre und sein Atem, sein Element, seine Inspiration, sein Leben und sein Genie.“

Deutsche Sittengeschichtler charakterisierten das Rokoko-Frankreich so: „Das ganze Leben zielt auf den Geschlechtsakt ab, Wissenschaft, Kunst, die Konversation, die Gastronomie. Alles durchdringt der erschlaffende Hauch der rein physischen Liebe und hinterläßt jenen schweren Duft, welcher alle geistige Energie lähmt.“ [I. Bloch] Oder: „Ein einziger Gedanke belebte die Welt: das Vergnügen, die Liebe. Die Genußsucht leuchtet aus allen Augen; die Liebesgötter spielen auf den ewig lächelnden Lippen; sie schauen uns leibhaftig an aus den Malereien der Wände, aus allen Werken des Pinsels und des Meißels. Die reizenden Boudoirs, die bequemen, breiten einladenden Möbel, das leichte Kostüm der Frauen, alles atmet, lebt, spricht und erinnert an Liebe.“ [J. Falke]

Die wüsten Sitten begannen mit König Ludwig XIV. [1638-1715]. Der heiratete mit 15 Jahren die sieben Jahre ältere Marie Thérèse, die ihm sechs Kinder gebar. Der als Sonnenkönig titulierte Ludwig XIV. lebte in Saus und Braus, baute das Riesenschloß Versailles und kaufte etliche kleine Paläste. Er institualisierte die Mätresse, eine offiziöse Beischläferin neben der angetrauten Frau Königin. Der Gespielin wurde ein höherer Rang und ein größerer Einfluß als der legitimen Gattin eingeräumt. Marie Thérèse bewohnte nur elf Zimmer im zweiten Stock des Schlosses Versailles, und ihre Schleppe trug ein einfacher Page.

Mätresse Montespan hingegen hatte 20 Zimmer in der ersten Etage und ließ sich die Schleppe von Hofmeistern nachtragen. Madame de Montespan reiste in einer von sechs Pferden gezogenen Kutsche, begleitet von einer ebenfalls sechsspännigen Karosse mit ihren Ehrendamen, einem Gepäckwagen und 12 berittenen Begleitern.

Um diese angenehmen Lebensumstände zu erhalten, tat sie alles, um ihre sexuelle Anziehungskraft auf den König zu behalten. So ließ sie Schwarze Messen zelebrieren. Dabei lag sie nackt auf dem Altar und ließ sich von Hohenpriestern besprechen, besingen und begrabschen. Gerüchten zufolge soll sie dabei auch Kinder geopfert haben, deren Herz und Eingeweide pulverisiert wurden. Diese Reste wurden den Mahlzeiten des Königs beigemengt, um ihn an die Mätresse zu binden. Schließlich wollte sie noch ihre Konkurrentinnen loswerden und bot für das dafür notwendige Pulver einer Giftmischerin 1.000.000 Livres. Nachdem dieser Plan ruchbar wurde, verbannte Ludwig XIV. die Montespan aus seinen Gemächern. Der absolutistische Herrscher hatte sechs offizielle Mätressen, aber Dutzende weiterer Liebhaberinnen. „Dem König war alles recht, wenn es nur einen Rock anhatte“, schrieb eine Herzogin. „Mit seiner Frau nach Versailles zu reisen, bedeutete daher für jeden Adeligen, seine Frau dem König zur Verfügung zu stellen.“

Ludwig XIV. urteilte mit zweierlei Maß: So hemmungslos er sich der Vielweiberei hingab, so rigoros verfolgte er den Ehebruch seiner Untertanen. 1674 befahl er, allen Prostituierten, die im Umkreis von sieben Kilometern mit Soldaten aufgegriffen wurden, Nasen und Ohren abzuschneiden.

Nach dem Tod des Sonnenkönigs wurde Urenkel Ludwig XV. [1710 - 1774] auf den Thron gesetzt. Der war damals erst fünf Jahre alt und wurde bis zu seiner Volljährigkeit von Herzog Philipp von Orléans als Regent vertreten. Dieser Herzog gefiel sich vor allem als Veranstalter wüster Gruppensex-Parties. „Vom Beginn seiner Regentschaft an wurde die Orgie zum allgemeinen Zustand der herrschenden Gesellschaft“, schrieb der Sittenkundler Eduard Fuchs. „Die Teilnahme daran brachte Ruhm und befriedigte den Ehrgeiz. Die Zügellosigkeit überstieg an Frechheit alles, was man bis jetzt darin erlebt hatte.“

Gutes Essen und schwerer Wein bildeten die Grundlagen für ein Rudelbumsen, an dem jeder, der sich zur oberen Klasse zählte, beteiligt sein wollte. Für solche Lustbarkeiten ließ der Herzog mitten in Paris das Palais Royal errichten. Für die erlauchten Orgienteilnehmer prägte er den Begriff Roués-Wüstlinge, die vom Genuß Geräderten. Mit zwei seiner Töchter unterhielt Philipp von Orléans inzestuöse Beziehungen, und für den heranwachsenden König veranstaltete er pädophile Spiele. Durch sogenannte Adamsfeste sollte Ludwig ab seinem zehnten Lebensjahr aufgeklärt werden. Wüstlinge aus den allerbesten Kreisen fanden sich dazu im Palais Royal und anderen Schlößchen ein und kopulierten nach Anweisungen des Herzogs oder nach Vorlage einschlägiger Wandbilder. Zuschauer waren der kleine König und gleichaltrige Mädchen. Die sollten anschließend die gezeigten Übungen nachturnen. Mit 15 wurde Ludwig XV. mit der 23jährigen Maria Leszinski vermählt. Siebenmal trieben es die beiden in der Hochzeitsnacht, zehn Kinder waren die Folgen ihres weiteren geschlechtlichen Tuns.

Die vielen Schwangerschaften und eine Fehlgeburt erschöpften Maria, und sie ließ vom 12. Ehejahr an den lüsternen König nicht mehr in ihr Schlafzimmer. Der suchte sich Mätressen, engagierte einen eigenen Intendanten für die Inszenierungen von Orgien.

Während das Land ausblutete und auch der Königshof faktisch bankrott war, warfen Ludwig und seine Freunde das – nicht vorhandene – Geld zum Fenster hinaus. Ein Viertel der Staatseinnahmen verschlang die Hofhaltung, und deren größte Posten waren Mätressen, Lusthäuser und Orgien.

„Der Staatsmann würde ein Narr sein, der nicht das Land für seine Vergnügungen bezahlen ließe“ läßt Sade einen Minister in Juliette sagen. „Was geht uns das Elend der Völker an, wenn nur unsere Leidenschaften befriedigt werden? Wenn ich glaubte, daß Gold aus den Adern der Menschen fließen würde, dann würde ich einen nach dem anderen zur Ader lassen.“