Josephine Siebe


Kleinstadtkinder


Buben- und Mädelgeschichten

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-194-7


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Eine Geschichte, die traurig anfängt und fröhlich endet



Gerade am letzten Tag der großen Ferien wurde Brigittchen krank. Es war kein Schulfieber, wie es wohl manchmal kleine Faulpelze bekommen, wenn sie wieder zur Schule gehen sollen, denn Brigittchen ging gern zur Schule. Die Kleine war auch am Tage vorher vergnügt gewesen wie ein kleiner Spatz, der einen früchtereichen Kirschbaum entdeckt hat. In der Nacht aber bekam sie plötzlich Halsschmerzen, und als Doktor Fabian am nächsten Tage kam, da machte er gleich ein recht ernstes Gesicht.

Bald wußte es die ganze Nachbarschaft, Brigittchen Schön ist krank. Und leise sagten die Leute zu einander: "Es steht schlimm mit der Kleinen, sie wird vielleicht sterben." Wie ein leises Weinen erklang dies Wort da und dort im Städtchen. Auch Anne-Marte, Jörgel und die beiden Bäckerbuben hörten es, und auf einmal war alle ihre Lust am Spiel dahin. Ihr Lachen verstummte, bedrückt gingen sie zur Schule, und nach der Schule liefen sie auf den Kirchplatz und sahen zu dem Schönschen Hause empor. Dort hinter den weiß verhängten Fenstern lag ihre holde, kleine Freundin krank, so schwer krank. Anne-Marte weinte und die Buben machten wütende Gesichter, als könnten sie damit die Krankheit vertreiben. Dann rannten sie zu den Pantoffelmachersleuten in dem alten Stadtturm, um dort von Brigittchen zu sprechen. Frau Paulinchen saß auf ihrer bunten Truhe und weinte sich schier die Augen aus, und Klaus Hippel murmelte immer traurig vor sich hin: "Unser Brigittchen ist krank, ach nee, unser liebes Brigittchen!"

Was war aber all die Sorge der anderen Leute gegen die heiße Angst, die der Vater um sein Kind im Herzen trug. Herr Schön wich nicht von dem Bett seines Lieblinges, und sein Denken war ein einziges stummes Gebet: "Lieber Gott, erhalte mein Kind!" Mit ihm aber wachte noch jemand Tag und Nacht bei der kleinen Kranken, Helene Fröhlich war es. Am ersten Tage war sie still in das Zimmer getreten, sie war mit einem lieben Lächeln und warmen, tröstenden Worten gekommen. Wie die Sonne im März die Frühlingshoffnung bringt, so brachte Helene Fröhlich die Hoffnung ins Krankenzimmer. Es muß ja besser werden, dachte der Vater, wenn er in die lieben Augen der freundlichen Pflegerin schaute. Und alle im Hause fanden, es sei ein rechter Trost, daß Fräulein Helene da sei, und Brigittchen fand sogar das Kranksein nicht schlimm, wenn Tante Helene am Bett saß, die Medizin reichte und ganz sachte und lind über die fieberheiße Stirne strich.

Und wie der Vater, so betete auch Helene Fröhlich im Herzen in jeder Stunde: "Lieber Gott, erhalte das Kind!" Das Gebet, das so aus tiefstem Herzensgrunde emporstieg, fand Erhörung, und es kam der Augenblick, da Doktor Fabian tief aufatmend sagte: "Gottlob, nun ist die Gefahr vorüber!"

Wie ein Jubelruf klang das Wort über den Kirchplatz hin, in die Gassen und Gäßchen hinein. "Brigittchen Schön wird gesund! Wissen Sie schon, dem Brigittchen geht es besser," sagten die Leute zu einander. In einer kleinen Stadt ist das halt anders, wie etwa in London, Berlin oder sonst einer großen Stadt, wo die Leute nicht wissen, wer im Hause Freude oder Leid trägt. In Neustadt kümmert sich eben einer um den andern, manchmal vielleicht ein bißchen viel, und Klatsch und Tratsch entsteht daraus, aber in Trauerstunden und Freudentagen möchte doch keiner die Teilnahme der anderen entbehren.

"Brigittchen Schön geht es besser," sagte darum auch die Bäckermeisterin Gutgesell zu jedem, der in den Laden kam, und die gute Frau hatte darüber eine solche Herzensfreude, daß sie gleich einem armen Weibe ein großes Stück Kuchen zum Brot zugab.

"Brigittchen wird gesund," riefen auch Wendelin und Severin und purzelten in der Seligkeit ihres Herzens in Frau Lehmanns Grünwarenkeller hinein.

"Du meine Güte, nee ist das eine Freude!" rief diese und vergaß mal wieder, daß sie sich eigentlich immer über die Buben ärgerte.

Am Bett der kleinen Kranken aber saßen der Vater und Helene Fröhlich still beieinander, Hand in Hand. Die Sorge um das Kind, das ihnen beiden so lieb war, hatte sie vereint, und Helene Fröhlich hatte versprochen, sie wollte Brigittchen eine treue Mutter werden. Als die Kleine nach langem, gesunden Schlaf die Veilchenaugen aufschlug, da beugte sich Tante Helene über sie und sagte liebevoll: "Nun will ich immer deine Mutter sein!"

"Mutter," flüsterte Brigittchen selig, "ach, nun habe ich auch eine Mutter, wie Jantge!"

Freude hilft gesund machen. Dem Brigittchen half sie sicher. "Das geht ja wie mit 'nem Schnellzug," sagte Doktor Fabian, "potzwetter, das hätte ich nicht gedacht, daß unser Sorgenkind so schnell gesund werden würde. Freilich, wenn einen Vater und Mutter so gut pflegen, da ist es keine Kunst!"

Es dauerte denn auch nicht lange, da fuhren Vater und Mutter mit Brigittchen im Sonnenschein spazieren. Hinter dem Wagen her liefen mit einem ungeheuren Freudenschrei alle Buben und Mädels vom Kirchplatz, aus der Marienstraße und aus den Gäßlein ringsum. Es war just so, als hielten die Prinzessinnen Einzug. Und Brigittchen saß im Wagen und lachte so vergnügt, daß sie ganz rosige Bäckchen bekam. Wie wunderschön war es doch auf der Welt!

Aus dem Fenster des alten Stadtturms sahen Klaus Hippel und Frau Paulinchen über das Blumenbrettlein hinweg und beide nickten und winkten, als Brigittchen unten vorbeifuhr. Der Pantoffelmacher aber sagte: "Es ist eine richtige, feine Geschichte, wie das Brigittchen zu einer Mutter gekommen ist. Ich sag's ja immerzu, in Neustadt passiert so viel, wie nirgends in der Welt. Nee, nee, und die dummen Leute sagen immer, so 'ne kleine Stadt sei langweilig!"

Der Sommer verging und der Herbst kam. An einem Oktobertag, der so warm und hell war, daß er ganz gut hätte sagen können: "Schaut mich nur an, ich bin eigentlich ein Augusttag!" sangen und tönten die Glocken von St. Marien: "Hochzeit, Hochzeit!" In allen Ecken und Winkeln des Städtchens hörten die Leute das Singen und Klingen, hörten es, daß Herr Schön und Helene Fröhlich Hochzeit feierten miteinander. "Glück und Heil!" jubelten die Glocken, und Glück und Heil, Freude und Segen, sangen auch die Glocken in manchen Herzen. Es gab in Neustadt viele Menschen, die sich ehrlich mitfreuten und die dem Brautpaar gute Tage wünschten.

Der ganze Kirchplatz und die Marienstraße dazu aber waren vom frühen Morgen an in großer Aufregung. Vom Hause der Braut aus bis zur Kirche waren Teppiche gelegt und Blumen gestreut, und über Teppiche und Blumen hinweg schritt Helene Fröhlich in die alte Kirche hinein. "Sie ist so schön wie eine Rose," sagten die Leute; die alte Dorothee aber dachte in ihrem Herzen: "Sie ist so schön, weil sie so gut ist."

Blitzeblank, in neuen Kleidern und Anzügen, die Augen so strahlend, als wären sie frisch geputzt, gingen die fünf Schatzgräber, Jantge und Karl vor dem Brautpaar her und streuten Blumen. Sie kamen sich alle mit einander ungeheuer wichtig vor. Wendelin und Severin trugen ihre Nasen so hoch, als hinge an der obersten Kirchturmspitze eine Blume, an der sie riechen müßten.

Frau Lehmann sah die Buben ganz verdutzt an und sagte zu Heine, der neben ihr stand: "Man erkennt wirklich die Bengels kaum wieder, so manierlich sehen die aus."

Es war eine fröhliche Hochzeit, die nicht nur in dem alten Haus am Kirchplatz gefeiert wurde, die auch die alten Frauen im Gertrudenspital feierten, Pantoffelmachers im Stadtturm, und manche arme Familie da und dort. Helene Fröhlich hatte schon dafür gesorgt, daß es an ihrem Hochzeitstag auch anderen gut ging. Und lustig, wie überall, ging es auch am Kindertisch zu. Anne-Marte kam zuletzt gar nicht mehr aus dem Lachen heraus, und die Bäckerbuben hatten nur eine Klage, die, daß man sich in guten Anzügen in Acht nehmen muß. Jörgel hielt sogar eine Rede, gerade so, wie es Doktor Fröhlich am Tisch der Großen tat. Seine Gefährten sagten alle, er würde gewiß noch mal ein Dichter werden, es wäre zu fein gewesen.

Die strahlendsten Augen aber hatte Brigittchen, und in ihrem Herzlein sang und klang auch eine Glocke: "Mutter, Mutter, Mutter!" tönte das immerzu. Und zwischen dem Elternpaar, das an der Hochzeitstafel saß, und ihrem kleinen Mädel am Kindertisch, ging immerzu ein Nicken und Winken hin und her, das hieß: "Ja, wir sind glücklich, wir drei zusammen."

Dann war das Fest zu Ende, die Lichter verlöschten, die Gäste gingen nach Haus. "Nun wird es aber wieder einsam im Hause werden," sagte Doktor Fröhlich ein wenig betrübt, als seine Schwester mit ihrem Manne Abschied nahm. "Nun läßt du mich wieder allein!"

"Ich gehe ja nur über den Kirchplatz, nicht nach London, Brüderlein," tröstete diese, "ich bleibe ja in Neustadt!"

"Ach ja, in Neustadt," sagte der Doktor vergnügt, "es ist uns beiden wirklich eine Heimat geworden."

"Ja, eine Heimat, eine liebe Heimat," rief Helene dankbar, "es ist gut sein in ihr. Ich glaube beinahe, Klaus Hippel hat Recht, Neustadt ist eine ganz besondere Stadt!"

"Bum" schlug die Uhr von St. Marien, es war, als wollte sie rufen: "So ist es recht!"

Und wer es nicht glaubt, daß Neustadt eine besondere Stadt ist, ja der muß eben zu Klaus Hippel gehen und fragen, der überzeugt ihn sicher.


16

 

 

Inhalt




Ankunft in Neustadt

Die fünf Schatzgräber

Gertrudis - Eine Geschichte aus alten Zeiten

Weihnachtsaugen

Ein Fastnachtsspiel

Durch der Schneekönigin Reich - Ein Wintermärchen

Osterwasser

Der goldene Groschen

In der fröhlichen Einkehr

Christoffel will ein König werden!

Mohrchen - Die Geschichte einer Feindschaft

O diese Bäckerbuben

Die Schatzgräber finden einen Schatz

Eine Geschichte, die traurig anfängt und fröhlich endet

 

 

 

 

1

Ankunft in Neustadt



"Neustadt," schrie der Schaffner und lief den Zug entlang; "Neustadt, ausstei...gen!"

Einige Passagiere guckten zu den Kupeefenstern heraus. "So'n Nest," sagte der eine, und ein anderer gähnte, während ein dritter rief: "Fenster zu! S'ist ja so kalt!"

"Neustadt, abfahren," schrie der Schaffner noch einmal. "Es steigt doch niemand aus, hier steigt nie jemand aus," dachte er.

Aber da ... schon pfiff die Lokomotive ... da wurde noch hastig eine Kupeetüre geöffnet, ein Fuß wurde sichtbar, eine braune Ledertasche und ... platsch lag mit Koffer und Plaid ein nicht zu großer, nicht zu kleiner, nicht zu dicker und nicht zu dünner Herr, so lang er war, auf dem Bahnhof.

"Na, der hat's aber eilig, hat wohl geschlafen," murmelte der Schaffner und sprang rasch auf, denn der Zug setzte sich pustend in Bewegung.

Zwei Bahnbeamte eilten herbei und halfen dem Herrn wieder auf die Beine, gebrochen hatte der sich glücklicherweise nichts. Er brummelte etwas von gefrorenen Stufen, ausgerutscht sein, und braun und blau geschlagen, dann nahm er seine Sachen, dankte höflich und verließ den Bahnhof.

"Da wäre ich," dachte er, "eine nette Ankunft in dem Nest, wie konnte ich auch nur so fest einschlafen, beinahe hätte ich Neustadt verschlafen, brrrrrr, wird gewiß ein erzlangweiliges Nest sein."

Er trat aus dem Bahnhofsgebäude heraus, ging über einen kleinen, von Bäumen umstandenen Platz, und gelangte an eine Straße, die etwas bergab führte; hier sah er plötzlich das Städtchen mit all seinen Häusern und Türmen und seinem Hintergrund von bewaldeten Höhen liegen. Der Fremde vergaß über diesem Anblick seinen Fall auf dem Bahnhof, und sein vorhin so mißmutiges Gesicht hellte sich auf. Ja, dies war aber auch schon ein Anblick, der sich lohnte. In der geräuschvollen Großstadt, aus der der Fremde kam, sah man selten so eine weiße, schimmernde Winterpracht. Dort fiel der Schnee schon grau vom Himmel, und nach wenigen Stunden war er eine breiige, schmutzige Masse. Hier aber war das ganze Städtlein in ein weißes Feierkleid gehüllt. Die Türme von St. Marien ragten steil und schlank in die Luft, wie Königstöchter sahen sie aus im Schmuck weißer Hermelinmäntel, und nicht weit davon erhob sich der dicke, runde Schloßturm mit weißer Kappe, behäbig wie ein biederer Bäckermeister schaute er drein. Und das Schloß selbst auf der Höhe mit seinen vielen kleinen Fenstern und seinen altersgrauen Mauern war überzuckert von oben bis unten, es glich einer guten Gluckhenne, und all die überschneiten Häuser und Häuschen waren ihre Küchlein. Im Rauhreif standen Büsche und Bäume, und die Sonne, die gerade noch einen Abschiedsblick auf das Städtchen warf, ehe sie in ihr Wolkenbett rutschte, überstrahlte alles mit einem zarten Rosenschimmer. Die fernen Berge verschwanden schon in blaugrauem Dunst, als wollten sie sagen: "Schau dir nur erst das Städtchen an, es lohnt sich schon, zu uns kommst du später."

"Ja, du lieber Himmel, es lohnt sich wirklich," dachte Doktor Theobald Fröhlich; er guckte rechts und links und gerade aus und meinte, er könnte sich nicht satt sehen an dem hübschen Stadtbild. Und dies kleine Städtchen sollte nun für immer seine Heimat werden, das erschien ihm auf einmal gar nicht mehr so schrecklich.

Während so der Doktor Theobald Fröhlich oben am Bahnhofsplatz stand und Neustadt bewunderte, stand unten in der Stadt vor der Türe eines stattlichen, altmodischen Hauses eine alte Frau. Sie hatte ihre Hände fest in ihre Schürze eingewickelt und guckte eifrig geradeaus, denn wer vom Bahnhof kam, mußte die Straße herunterkommen, an deren Ende das Haus lag. Die Straßen von Neustadt gingen alle bergauf und bergab; die Bürger behaupteten, ob es stimmt weiß freilich niemand, ihr Nestlein sei gerade wie das große, gewaltige Rom auf sieben Hügeln erbaut.

"Nun muß er doch bald kommen," murmelte die Alte, "wo er nur bleibt!"

Sie wartete auf niemand anders als auf den Doktor Theobald Fröhlich, der von nun an in dem stattlichen Hause wohnen sollte. Das Haus hatte er von einer alten Tante geerbt, mit der Bedingung, daß er darinnen wohnen mußte, sonst sollte das Haus an entfernte Verwandte fallen. "Wer mein Haus besitzt, der soll es auch lieb haben und gern darin wohnen", hatte die Tante immer gesagt. Der Doktor Theobald Fröhlich war arm, er hatte auch noch eine Schwester, die in England als Erzieherin sich ihr Brot verdiente, da dachte er, eine richtige Heimat haben mit der Schwester zusammen, und sei es auch in Neustadt, sei schließlich besser, als in Berlin einsam zu leben.

Zu der alten Frau, die die Dienerin der ehemaligen Herrin des Hauses gewesen war, gesellte sich die Bäckermeisterin Gutgesell, die gegenüber an der Ecke der Marienstraße wohnte.

"Wo er nur bleibt, der neue Herr?" sagte sie und schaute ebenso eifrig wie die alte Dorothee die Straße hinauf.

"Ja eben, 's dauert so lange," brummelte Jungfer Dorothee, "vielleicht kommt er gar nicht, nämlich Frau Nachbarin, er ist 'n Dichter, und die sollen doch was komisch sein."

"Ih nee, 'n richtiger, leibhaftiger Dichter! So was haben wir doch nie in Neustadt gehabt!" schrie die Bäckermeisterin und schlug die Hände zusammen.

Und die alte Dorothee reckte sich stolz und belehrte die Nachbarin, was ein Dichter sei, und daß ihr neuer Herr vielleicht mal sehr berühmt würde, hätte die Frau Stadträtin Müller gesagt, noch sei er es freilich nicht.

Doktor Theobald Fröhlich hatte sich unterdessen das Städtlein genau angesehen, dann hatte er einen Mann nach dem Weg gefragt und hatte erfahren, daß er erst die Straße hinunter gehen müßte, dann links herum, dann käme die Marienstraße, die ging steil bergab, und am Kirchplatz stände das Haus, das er suchte. Der Doktor fand denn auch die Marienstraße und schickte sich an, sie hinab zu gehen. Wie er einige Schritte gegangen war, hörte er plötzlich ein wildes Geschrei hinter sich, und eine Schar Buben und Mädels kamen mit ihren Schlitten angefahren. "Rechts", schrie ein langer Bengel, "links", rief ein anderer, und auf einmal gab es ein Purzeln und Fallen, zwei Schlitten waren zusammengefahren, ihre Besitzer plumpsten in den Schnee.

"Na, solche Wildfänge," dachte Doktor Fröhlich gerade, als ein leerer Schlitten ihm zwischen die Beine fuhr. Er verlor das Gleichgewicht, rutschte aus und saß auf einmal auf dem Schlitten und heidi ging es bergab. Sein Plaid fiel rechts herunter, seine Reisetasche links, er sah nichts und hörte nichts, er hielt sich nur krampfhaft fest, und dann gab es einen Ruck, ein Zetergeschrei, und der Doktor Theobald Fröhlich lag im Schnee, und auf der einen Seite saß die alte Dorothee und auf der anderen die Frau Bäckermeisterin, und beide schalten und lachten durcheinander, denn der fremde Herr hatte sie beide umgerissen.

"Verzeihung," murmelte der Doktor, "mein Name ist Dr. Theobald Fröhlich ... ich"

"Du meine Güte, so was, das ist ja mein neuer Herr!" schrie Jungfer Dorothee und verbeugte sich so eilig, daß sie mit der Nase beinahe in den Schnee stippte. Die lustige Frau Bäckermeisterin lachte hell auf, und nun kamen auch die übrigen Schlittenfahrer und zwei Buben mit Reisetasche und Plaid herbei. Es gab ein Hin-und-her von Fragen und Erklärungen. Der Doktor meinte, so schnell ginge es in Berlin beinahe nicht mit einem Vorortszug wie in Neustadt mit dem Schlitten.

Die alte Dorothee schalt auf die Buben, die verteidigten sich, sie hätten nichts dafür gekonnt, die Bäckermeisterin lachte, und der Doktor fand seine Ankunft in Neustadt höchst wunderlich. Er war herzlich froh, als er endlich in seinem Hause in einem behaglichen Zimmer saß und Dorothee ihm heißen Kaffee und selbstgebackenen Kuchen brachte.

Heisa das schmeckte, und wie behaglich das Zimmer war mit den altmodischen, grünen Samtmöbeln und den schönen Bildern an den Wänden! Später zeigte ihm Dorothee das ganze Haus von oben bis unten. Da gab es viele uralte Möbel, viel alten, schönen Hausrat; ein Zimmer gab es, das war ganz mit steifen, weißen Möbeln angefüllt, es führte auf eine breite Terrasse, vor der sich ein großer Garten ausbreitete. "Der gehört zum Hause," sagte die alte Frau stolz, "so schönes Obst hat niemand in Neustadt wie in dem Garten wächst, 's ist ein Staat!"

Still war es freilich in dem Hause, und still war es auch in dem Städtchen, das sich der Doktor Fröhlich am nächsten Morgen gründlich anschaute. Still, ja, aber heimlich und traut. Und als er gerade zur Mittagsstunde über den Schulplatz ging, und aus einem alten ehemaligen Klostergebäude rechts Buben und links Mädchen herauskamen, da war es vorbei mit der Stille, potztausend ja konnte die Gesellschaft schreien und lachen! Und am Nachmittag sagte die alte Dorothee: "Morgen ist Nikolaustag."

"Nikolaustag, was ist denn das?" fragte der Doktor erstaunt.

"Je, du meine Güte, das weiß der Herr nicht?" rief die Alte erstaunt. "Na, Nikolaustag ist halt Nikolaustag, und die selige gnädige Frau hat immer am Nikolaustag allen Kindern, die in der Marienstraße und hier auf dem Kirchplatz wohnen, Pfefferkuchen, Äpfel und Nüsse geschenkt. Der Herr Doktor kann's mir glauben, die kommen auch in diesem Jahre. Äpfel und Nüsse sind da, soll ich noch die Pfefferkuchen holen?"

"Freilich, freilich," sagte der Doktor Fröhlich, beschämt, daß er nichts vom Nikolaustage wußte. Er ging dann in ein Zimmer, in dem viele Bücher standen, dort sah er in einem großen Lexikon nach, was es mit dem Nikolaustag für eine Bewandtnis habe.

Er hatte nie eine rechte Heimat gekannt. Als er fünf Jahre alt war und seine Schwester nur erst wenige Monate zählte, waren Vater und Mutter rasch hintereinander gestorben; die beiden Kinder wuchsen bei fremden Leuten auf. Eins hier, das andere dort. Der Knabe kam bald in eine Erziehungsanstalt; waren Ferien und seine Kameraden fuhren heim, dann blieb er allein in der Anstalt. An seine traurige Jugend und an seine ferne Schwester mußte er denken, als am nächsten Tage Buben und Mädels angelaufen kamen, um sich ihre Nikolausgaben zu holen. Eine lustige Gesellschaft war es, die da herantrappelte, wie strahlten die Augen, wie blitzten die weißen Zähne, wenn jedes seinen Teil bekam. Einmal kamen fünf zusammen, zwei Mädels und drei Buben.

"Na, das sind die rechten Schelme," sagte die alte Dorothee lachend, "Schatzgräber ihr, gell, ihr habt gerade den rechten Pfefferkuchenhunger?" "Ja," riefen die fünf, und ein Bube, der braune, krause Haare hatte und Augen rund und dunkel wie zwei Herzkirschen, aber so unnütz wie ein paar Spatzenaugen, rief: "Es könnte jede Woche Nikolaustag sein, das wär mal fein!"

"So fein wie Schatzgraben, gell?" rief die Alte, da wurden alle fünf rot wie reife Erdbeeren und lachend liefen sie davon.

"Wer waren die fünf, und warum werden sie Schatzgräber genannt?" fragte Doktor Fröhlich.

"Die fünf sind dicke Freunde; es sind Nachbarskinder und ihren Namen haben sie von einem dummen Streich, den sie unlängst ausgeführt haben. Ich will dem Herrn gern die Geschichte erzählen, wenn es recht ist."

Am Abend des Nikolaustages schrieb der Doktor Fröhlich an seine Schwester: "Komm bald zu mir, hier wird es dir gefallen. Komm noch vor Weihnachten, damit wir das erstemal das Fest im eigenen Heim, in unserer neuen Heimat, feiern können!"

Und dann, als das Abendessen abgetragen war, erzählte die alte Dorothee die Geschichte von den fünf Schatzgräbern. Die gefiel dem Doktor Fröhlich so gut, daß er sie gleich in ein Buch schrieb. Dahinein schrieb er im Laufe der Zeit noch manche Geschichte von den Neustädter Kindern, manche, die ihm erzählt wurde, und manche, die er selbst sah und hörte. Auch zwei Märlein kamen dazu und eine Geschichte aus vergangenen Tagen.

Und so stehen denn die Geschichten in diesem Buch, eine nach der anderen, so wie sie der Doktor gehört, sie erlebt und niedergeschrieben hat.


2

Die fünf Schatzgräber



In früheren Zeiten, in denen die Städte noch nicht so gewaltig groß wie heutzutage zu sein brauchten um mächtig zu sein, war auch Neustadt eine gar angesehene Stadt im deutschen Reiche gewesen. Wohlstand herrschte, und die Bürger wußten sich gut in mancher Fehde zu verteidigen. Der dreißigjährige Krieg aber, der so vieles in Deutschland vernichtete, zog auch verheerend über Neustadt hin, die Stadt wurde zum Teil zerstört, geplündert, und seitdem gelang es ihr nie wieder, sich zu einstiger Größe emporzuschwingen. In jener Zeit nun, so berichtete die Sage, hätten die Bürger einen großen Schatz vergraben, viel Geld, edle Steine und silberne und goldene Prunkgefäße. Die aber, die den Schatz vergraben hatten, wurden nachher, als die Feinde die Stadt einnahmen, getötet, und darum wußte später niemand mehr, wo eigentlich der Schatz vergraben lag.

Von diesem Schatz nun wurde in Neustadt in den Zeiten, die kamen und gingen, viel gesprochen. Früher hatte wohl mancher in aller Heimlichkeit sein Gärtlein umgegraben, und wurde ein Grundstein zu einem neuen Hause gelegt oder ein altes, baufälliges Haus eingerissen, immer gab es etliche, die hofften, der Schatz sollte sich schon finden. Er fand sich aber nicht, und zuletzt suchte niemand mehr so recht ernsthaft danach. Die Geschichte von dem Schatz wurde zu einem Märchen, das den Kindern erzählt wurde, und mancher Bube dachte wohl, wenn ich groß bin, suche ich den Schatz; wuchs er heran, dann vergaß er gewöhnlich sein Vorhaben.

Von dem vergrabenen Schatz nun sprachen an einem sonnenhellen Herbsttag fünf Kinder, die einträchtiglich, wie Schwälbchen auf dem Dachfirst, auf der alten Stadtmauer saßen. Dieses letzte Stück der einst so trutzigen Stadtmauer zog sich jetzt als Grenze zwischen einer engen Gasse und hübschen, schattigen Anlagen hin. Am Ende dieses Mauerrestes stand ein runder Turm, es war dies der letzte der acht Wachttürme, die Neustadt einst besessen hatte. In dem Turm, der noch fest und unversehrt dastand, wohnte nicht mehr wie einst eine Schar eisenbewehrter Wächter, sondern ein Pantoffelmacher, Klaus Hippel genannt. Und kriegerisch sah der ganze Turm auch nicht mehr aus, statt der Feuerbüchsen früherer Zeiten hingen an schönen Tagen zu den kleinen Fenstern des Turmes bunte Pantoffel heraus, und auf schwankendem Blumenbrettlein blühten Rosen, Geranien und lichtrote Kapuzinerkresse. Und Klaus Hippel selbst konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, er hantierte allzeit fröhlich mit seinem Handwerkszeug herum, fertigte wunderschöne, warme, weiche Pantoffel und war gut Freund mit allen Kindern, die sich die Anlagen an der Stadtmauer zum Spielplatz erkoren hatten.

Auf der alten Stadtmauer zu sitzen war eigentlich von Rats wegen verboten, aber von Pantoffelmachers wegen durften die Kinder darauf sitzen so viel sie wollten, sie taten es auch, und niemand kümmerte sich weiter darum. Vom Turmtor aus führte ein eisernes Wendeltreppchen auf die Stadtmauer hinauf, und Klaus Hippel lachte nur gutmütig, wenn er die Kinder das Treppchen hinaufklettern sah. Er selbst saß in seinem Stübchen hinter dem Blumenbrett bei seiner Arbeit, und seine ebenso fröhliche, wie gutmütige Frau Pauline wirtschaftete eifrig in ihrem kleinen Reich herum, und wenn die beiden alten Leutchen lachten, dann pfiff Mausel, der Dompfaff, vergnügt: "O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter!"

Oben im Turm war ein kleines Museum, da hingen allerlei Waffen und Rüstungen, auch ein paar alte Möbel gab es zu sehen; das Schönste aber war die Aussicht von oben, über das weite Land hin bis zum fernen Gebirge. Paulinchen Pantoffelmacher, wie die lustige kleine Frau im Städtchen genannt wurde, brauchte zwar selten das Turmgemach aufzuschließen, weil selten genug Fremde sich nach Neustadt verirrten. Kam wirklich mal jemand, dann rief Klaus Hippel: "Aufgepaßt, ein weißer Spatz fliegt in den Turm."

Die fünf Kinder nun, die an diesem hellen Herbsttag auf der Stadtmauer saßen und von dem Schatz sprachen, waren Pantoffelmachers besondere Freunde. Im zierlichen, weißen Kleidchen saß in der Mitte Brigittchen Schön; so ganz unrecht trug die Kleine ihren Namen nicht, sie war wirklich sehr lieblich, hatte lockiges, dunkelblondes Haar, ein zartes, feines Gesicht und Augen so blau wie zwei Veilchen. Brigittchen war das einzige Kind eines wohlhabenden Kaufmannes. Reich war der Herr Schön, dabei aber doch arm, ihm waren vor wenigen Jahren sein liebes Weib und sein kleiner Sohn gestorben, und nur Brigittchen war übrig geblieben. Eine ältere Verwandte, Fräulein Mathilde, hütete das Haus; sie meinte, es sei genug wenn sie dafür sorgte, daß die Kleine immer weiß wie ein Maiglöckchen angezogen sei. Daß ein Kind recht viel Liebe braucht, gerade so wie eine Blume den Sonnenschein, daran dachte sie nicht, und wenn der Vater verreist war, was oft geschah, dann wäre Brigittchen recht verlassen gewesen, wenn es nicht so gute Freunde gehabt hätte. Freunde hatte nun freilich die Kleine, wie man sie sich nicht besser wünschen kann, Freunde, die, wenn es darauf angekommen wäre, für sie durch Feuer und Wasser gegangen wären. Auch heute saßen ihre Freunde mit ihr zusammen auf der Stadtmauer. Da war zuerst ihre allerallerbeste Freundin Anne-Marte Fabian und deren Bruder Jörgel. Der Vater der Kinder war ein tüchtiger und beliebter Arzt im Städtchen, und das Doktorhaus lag am Kirchplatz, dicht neben Brigittchens Vaterhaus. Dann waren auch noch die beiden Bäckerbuben Wendelin und Severin Gutgesell da, die in der Marienstraße wohnten, und die dem Brigittchen so treu ergeben waren, daß sie mit Vergnügen die schönsten Prügel eingeheimst hätten, wenn sie damit der Kleinen einen Gefallen getan hätten. Das verlangte Brigittchen nun freilich nicht, ja, wenn ihren Freunden nur ein geringes Leid geschah, so weinte sie so bitterlich, daß es beinahe eine Überschwemmung gab. Und dem Weinen nahe war die Kleine auch an diesem Herbsttage; überhaupt sahen alle fünf Freunde so aus, als sei ihnen die Petersilie verhagelt, und trotzdem war es doch der erste Tag der Herbstferien und acht schulfreie wundervolle Tage lagen vor ihnen. Sie waren auch am Morgen in seliger Lust ausgezogen, um allerlei Vergnügliches zu unternehmen; der erste Besuch sollte Pantoffelmachers gelten, Frau Paulinchen hatte versprochen, ihnen wieder mal das kleine Museum recht gründlich zu zeigen, und Klaus Hippel wollte ihnen eine Geschichte aus seinem Lieblingsbuch vorlesen; dies war eine alte Chronik der Stadt Neustadt. Aber ach, die erhofften Freuden wurden bald zu Wasser. Statt sie wie sonst mit Singen, Pfeifen und schalkhaften Worten zu begrüßen, murmelte der Pantoffelmacher an diesem hellen Morgen nur verdrießlich: "Na, seid ihr da?" Und tief seufzend nähte er so emsig an seinem Pantoffel weiter, als stände jemand barfuß neben ihm und schrie: "Eil dich doch, ich friere ja an meine Füße!"

An dem Kachelofen aber saß Frau Paulinchen und weinte herzbrechend, und weil Brigittchen nun mal niemand weinen sehen konnte, ohne mit zu weinen, flossen auch gleich ihre Tränen, und wenn die Freundin weinte, mußte Anne-Marte auch weinen, und so schluchzten denn die Mädels jämmerlich los. Den Buben wurde es ungemütlich, Tränen waren ihnen ein Greuel, Severin, der blonde Bäckerbube, riß krampfhaft die Augen auf, und Wendelin, der Schwarzkopf, knipste sie fest zu. Nur nicht etwa mitheulen! Jörgel zupfte seine Schwester und brummte: "Heul' man nicht so, es ist ja schrecklich!"

Die Ermahnung half nicht viel, und so trat Jörgel dicht an den alten Klaus heran und fragte: "Was ist denn los?"

"Was nicht angebunden ist," brummte der Pantoffelmacher, "Potzwetter ja, hört doch auf mit dem Geflenne!"

Dabei aber rollten dem alten Mann selbst langsam zwei schwere Tränen über das runzelige Gesicht, er sah so traurig aus, daß die Kinder fühlten, hier war ein rechtes Leid eingekehrt.