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Cora Stephan

Der Betroffenheitskult
Eine politische Sittengeschichte

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Im Glassarg

Hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen: seit sich der Eiserne Vorhang gehoben hat, eröffnen sich Ausblicke auf märchenhafte Landschaften. Nein, nicht nur im Osten. Auch das dem Bundesbürger (West) vertraute Ambiente hat plötzlich andere Farben angenommen und erscheint, wie bei Alice, mal putzig klein, mal unangemessen groß. Seit 1989 sieht die Welt anders aus — nicht nur, weil sie anders geworden ist. Auch ihre jüngste Vergangenheit verändert sich mit jedem neuen Blickwinkel — und nicht nur, weil man hinterher klüger wäre, was ja das mindeste ist, was man als Folge von Revolutionen verlangen kann.

1989 wirft einen Schein der Verklärung und Unwirklichkeit zugleich auf etwas, das bis 1990 als Bundesrepublik Deutschland glaubte, die Spielstätte dramatischer Stücke zu sein — von Rennern wie «1968» oder «Mescalero» über «Raketenherbst» und «Historikerstreit» bis «Die Stadt, der grüne Punkt und der Tod». Heute möchte man das alles zum Dramolettchen erklären, was manchen Betrachtern zuvor als gewichtige Entäußerungen der Weltgeschichte oder des Zeitgeistes erschienen war. Die alte Bundesrepublik—ein Puppenhaus im Wohlstandstango, bevölkert von Märchenprinzen, Quotenfrauen und Peaceniks, in dem sich die notorisch von schlechtem Gewissen gejagte Mittelschicht auf der Suche nach Sinn in aberwitzige Zukunftsszenarien hineinsteigerte — vom atomar vermittelten Weltuntergang über das Waldsterben unter dem Ozonloch bis zum kollektiven Aidstod. Diesem Angriff der bedrohlichen Zukunft auf die Gegenwart gesellten sich die Gespenster der gewalttätigen Vergangenheit des Landes hinzu; eine Mischung, die zum Unwirklichkeitsgefühl seiner Bewohner beitrug. Schuld- und Bedrohungsszenarien kumulierten sich im Laufe der Zeit zum grotesken Syndrom, dass ausgerechnet das Land der früheren Täter sich jetzt als Hort der präsumtiven Opfer fühlte, denen angesichts des Fehlens handfester politischer Eingriffsmöglichkeiten nur mehr die moralischen Instanzen der Entrüstung und der Betroffenheit zu Gebote standen.

Von 1989 aus betrachtet, verbrachte dieses Land unter der Bedingung beträchtlichen Wohlstands die ganzen langen 80er Jahre hindurch mit ebenso leidenschaftlicher wie wirklichkeitsfremder Emphase in ideologischen Sackgassen. Friedensbewegung, Anti-AKW-Bewegung, Selbsthilfegruppe und Frauenbewegung hießen die Formen, in denen sich der prototypische mündige Bürger organisierte; Tschernobyl, das Ozonloch, Aids und sexueller Kindesmissbrauch waren die Katastrophen, mit denen auch die anderen Bewohner des Landes weit intimeren Umgang pflegten als — nur ein Beispiel! — mit dem banalen Leid der ihrer Freiheit beraubten osteuropäischen Nachbarn. Ganz und gar unwillig lugte das Land daher aus dem Faltenwurf des Mantels der Geschichte hervor, in dem es sich so erfolgreich versteckt hatte, als sich abzuzeichnen begann, dass es gezwungen sein würde, als außenpolitische Größe namens «Deutschland» wieder zum welthistorischen Geschäftsgang zurückzukehren.

Diese Sicht ist natürlich herzlich ungerecht. Denn nicht nur konnte man schwerlich voraussehen, dass es einen so erheblichen politischen Regulationsbedarf wie den durch die deutsche Einheit entstandenen jemals wieder geben würde — auch haben die vergangenen Illusionen ja weiß Gott Tugenden bewirkt. Die bundesrepublikanische Selbstvergewisserung mitsamt ihren hysterischen Extremen hat zur Zivilisierung dieses Landes Beachtliches beigetragen, die sozialen Bewegungen haben, ganz abgesehen von ihren Inhalten, dem alten Obrigkeitsstaat gründlich den Garaus gemacht. Und: die Verweigerung von Wirklichkeitswahrnehmung war 1989 ff. weitverbreitet, wozu die jüngste, die jüngere und die schon ganz schön angestaubte deutsche Geschichte weidlich beigetragen haben.

Deshalb, liebe 89er-Generation, der Böswillige gern den Ausruf unterstellen: «Sowenig Vergangenheit war nie!» — deshalb hier noch einmal, bevor wir uns endgültig in der Gegenwart wiederfinden, der Blick zurück nach vorn: Grenzen und Chancen der Bundesrepublik zum Zeitpunkt ihres Verschwindens — oder auch: Abschied von den 80ern. Denn der zweifelsohne böse Blick, den die Perspektive «1989» auf das Vorhergehende fallen lässt, ist so ungerecht wie didaktisch wertvoll: so gewinnt vielleicht Konturen, was bleibt und was zu Recht zugrunde geht.

Die goldenen 80er

In den 80er Jahren kam der Bundesrepublik Deutschland die Politik abhanden. Sowenig Staat war nie — es schien ja auch nicht viel zu regieren zu geben. Hans Magnus Enzensberger applaudierte dem «Zurückwachsen der Politik in die Gesellschaft»1, und auch andere hielten der permanenten Klage über den Kanzler oder gar über einen angeblichen konservativen Rollback entgegen, dass man sich vielmehr glücklich schätzen könne, in der Regierung von CDU/CSU und FDP unter Kanzler Kohl über die «erste realistische Regierung seit Kriegsende» zu verfügen.2 Die Bundesregierung schien den Prototypus einer zivilen Regierung zu verkörpern, deren Distanz zur Wählerschaft gering war — nicht nur, weil sie in ihrem Kanzler den deutschen Durchschnittsmann zu verkörpern schien, wie Helmut Kohl gemeinhin unterschätzt wurde, sondern vor allem, weil sie sich immer wieder in vorauseilendem Populismus den Interessen der Wähler anzupassen verstand, was zwar manchmal, aber nicht immer das Dümmste sein muss.

Der gewiefte Machtpolitiker Kohl verstand es, nicht nur im Ausland den Eindruck zu verbreiten, von Deutschland (West) gehe eine Gefahr nicht mehr aus, sondern auch den Bundesbürgern zu vermitteln, dass Politik ein pragmatisches Geschäft ist, das ohne das Schwingen von Flaggen und hehren Worten auskommt und auch der großen Führer, Staatsmänner und Helden nicht bedarf. Was manch einer heute beklagenswert findet, konnte damals als sinnvolle Arbeit an der überkommenen Staatsästhetik der Bundesbürger aufgefasst werden — die ewigen Pannen der Regierung Kohl, der Mangel an Autorität, das Defizit an politischer Führung, die unter Helmut Schmidt noch mit harter Hand und jeder Menge «Haltung» stattgefunden hatte: all diese regierungsamtlichen Funktionsmängel veranlassten die Bundesbürger, obrigkeitsstaatliche Erwartungs- und Ergebenheitspotentiale zurückzuschrauben. Der Staat, die Politik — das funktionierte wie alles andere, wie alle anderen auch: gerade so mehr oder weniger. Der Zeitgeist hatte die Untertanenmentalität erbarmungslos exorziert, der-zufolge alles vom Staat, nichts vom Bürger ausgeht.

Neben all den völlig unbestreitbaren Verdiensten, die Kohl 1989 in Sachen deutscher Einheit erworben hat, hat er sich in den Jahren zuvor um die Erziehung der Deutschen zu Bundesbürgern verdient gemacht — zu Angehörigen eines Gemeinwesens ziviler Individuen, die jeglicher Obrigkeit derart souverän und gelassen entgegentraten, dass auch deren Vertreter sich dem neuen zivilen Habitus bald anbequemten. Wir wollen diesen Fortschritt festhalten, auch wenn über seinen Preis noch zu reden sein wird.

Gerade unter konservativer Ägide erlebte die Bundesrepublik, nach den Auseinandersetzungen der 70er und zu Beginn der 80er Jahre, also einen weiteren Modernisierungsschub: Der alte deutsche Obrigkeitsstaat war verschwunden, an seine Stelle war weniger der «Ausschuss der herrschenden Klasse» getreten, wie die Linke befürchtet hatte, als vielmehr eine Art Ausschuss der Lebenswelten, eine Clearingstelle für Lobbyisten. Die These vom «Zurückwachsen der Politik in die Gesellschaft» applaudierte den zivilen Qualitäten eines Landes, in dem über die großen politischen Fragen nicht autoritär an der politischen Spitze, sondern im (alltäglichen) öffentlichen Diskurs entschieden werde. So jedenfalls feierte sich der Zeitgeist — dem selbst mächtige Wirtschaftsgruppen Reverenz erwiesen, denen die Abwesenheit von Politik einigen Spielraum bot.

Tatsächlich war die «geistig-moralische Wende», die Helmut Kohl 1982 versprochen hatte, weitgehend ausgeblieben, kam es keineswegs zu einem auf der Linken gefürchteten «großen Aufräumen», zu einer konservativen Hegemonie der Gesellschaft. Im Gegenteil: eine eher linksliberale Öffentlichkeit überprüfte die neuen politischen Machtverwalter ständig auf konservative Ambitionen, die, wagten sie sich einmal hervor, von «der Gesellschaft» geübt gekontert wurden. Des Kanzlers wiederholt in Szene gesetztes Verlangen nach «Normalisierung» erzeugte stets dialektische Effekte — namentlich die vielleicht intensivsten Debatten über den Nationalsozialismus, die es jemals in Deutschland, Ost oder West, gegeben hatte.

Die 80er Jahre erwiesen sich nachgerade als Habermas’sches Diskursparadies, waren geprägt von einer über die Medien vermittelten Selbstthematisierung der Deutschen in Vergangenheit und Gegenwart. Ob Helmut Kohl den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan nach Bitburg vor Gräber von SS-Angehörigen beorderte oder mit Mitterrand — in versöhnender Absicht händchenhaltend - über den Gebeinen der im Ersten Weltkrieg vor Verdun gefallenen Kriegsgegner Mahnwache stand; ob es im «Historikerstreit» um «Relativierung» der deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus zu gehen schien oder ob der Kanzler sich und uns alle in einem «Deutschen Museum» auch der guten Seite der deutschen Geschichte versichern wollte - die kritische Öffentlichkeit ließ solcherlei Ausflüge ins positive Nationalgefühl stets in einer Zurückweisung jeglicher Beschließung deutscher Vergangenheit münden, wenn auch keineswegs immer mit einwandfreien Argumenten.

Nun mag man einwenden, dass solcherlei Gewissenserforschung gemeinhin auf die Feuilletons und auf die gebildeten Stände beschränkt bleibt — und doch hatte sich der Kampf um die Lufthoheit über bundesdeutschen Stammtischen stets auch in Meinungsumfragen niedergeschlagen. Der recht komplizierte «Historikerstreit» etwa hat in westdeutschen Köpfen fest das Unvergleichbarkeitsgebot verankert. Die Überzeugung von der Einmaligkeit deutscher Verbrechen unter dem Nationalsozialismus bestimmt noch heute die Auseinandersetzung mit den Verbrechen von Stalinismus und Kommunismus — durchweg, leider, zum Nachteil der Aufarbeitung der letzteren Vergangenheit. Die Asyldebatte, 1986 das erste Mal mit einer gewissen Heftigkeit geführt, kehrte damals die Umfrageergebnisse regelrecht um: Nachdem vorher eine starke Minderheit in der wachsenden Zahl von Asylsuchenden eine Gefahr sah, war hernach klar, dass es die Stimmung in der Bevölkerung nicht ratsam erschienen ließ, eine Asylrechtsänderung zu betreiben. Kanzler Kohl in der Weisheit eines unendlichen Opportunismus hielt sich — damals — daran.

Die «Stimmungsdemokratie» der 80er Jahre verlieh den Wählern eine bis dato in Deutschland nicht vertraute Souveränität: Von weltanschaulichen und religiösen oder anderen traditionsabhängigen Bindungen frei, trieben sie die Parteien durch zunehmend unkalkulierbares Verhalten vor sich her — der Wechselwähler und, vor allem, die Wechselwählerin wurden zum inkarnierten Schrecken der politischen Klasse. Der Allmacht der Parteien im Bereich des Politischen gesellte sich ihre Ohnmacht angesichts immer schwächerer Legitimation in immer häufiger werdenden «Entscheidungswählen» hinzu — da mehr und mehr auch Landes- und Kommunalwahlen als Indikator für den Ausgang der Bundestagswahl gelesen wurden.

Die Volksparteien der 80er Jahre reagierten mit Anpassung an das, was sie mit gutem Recht als Wählerwillen erkannten — und gaben damit immer mal auch den vernünftigeren Neigungen der Bevölkerung nach. Dass etwa die CDU — noch vor der SPD — die Frauen als zu umwerbendes Wählersegment erkannte, verdankte sich dem zunehmend «modernen» Verhalten der Wählerinnen: Sie gaben ihre Stimme nicht mehr gleichsam naturgemäß der Partei, die mit der Familie die faktische oder potentielle Subsistenzgrundlage der Mehrheit der Frauen verteidigte, sondern der Volkspartei, die Sicherung und sozialen Ausbau eines Arbeitsplatzes versprach, was seit den 70er Jahren für mehr Frauen immer wichtiger wurde. Prognostizierter Facharbeitermangel und gute Konjunktur machten die zweite Hälfte der 80er Jahre zum frauenfreundlichen Eldorado — nicht nur, wenn auch weitgehend auf symbolischer Ebene.

Überhaupt dominierten in den 80er Jahren «symbolische Politik» und «weiche Themen»: Politik, die substantiell nichts gestaltete oder veränderte, aber avancierten Lobbys (den Frauen, der neuen Mittelschicht usw.) schmeichelte — in diesem Kontext sind die Sprachkorrekturen, die der Feminismus der Politik abverlangte, von Bedeutung gewesen, ebenso wie die Verleihung des Etiketts «Frauenministerin» an Rita Süssmuth. Wir müssen es uns wohl als Erfolg anrechnen, dass seit Mitte der 80er Jahre der weibliche Plural unseren Männern auch in garantiert frauenfreien Räumen glatt von den Lippen geht.

Die populistische Attitüde der großen Parteien konnte dabei durchaus als Dominanz der Lebenswelten, als «Zurückwachsen der Politik in die Gesellschaft» gefeiert werden — was konnte schon schlimm daran sein, auch einmal aufs «Volk» zu hören, das sich ja längst nicht mehr nur als großer Lümmel gerierte, sondern ab und an durchaus mit Durchblick begabt war? Mählich setzte sich in der Bundesrepublik die Vorstellung durch, die Deutschen nicht mehr als Objekt beständiger Erziehungsarbeit in Sachen Demokratie zu betrachten, sondern als pfiffige Auskunfteien über den Geist der Zeit. Das Ausmaß dieser Veränderungen begreift wohl nur, wer noch den gegängelten Zeitgenossen der Adenauer-Ära vorm inneren Auge erstehen lassen kann, der vor jedem braven Parkuhrkontrolleur Haltung annahm.

Diese Dominanz der Lebenswelten gegenüber dem Bereich der Politik, wie sie in «symbolischer Politik» und «weichen Themen» verkörpert ist, hatte in den im Nachhinein so unendlich luxuriös und friedvoll erscheinenden 80er Jahren eine Vorstellung völlig verdrängt: Dass es Aufgabe von Politik sui generis sein muss, das als Notwendigkeit erkannte Allgemeine auch gegen mutmaßlichen Wählerwillen oder Volkes Stimmung durchzusetzen — man erinnere sich an den Beschluss zur Stationierung der Mittelstreckenraketen unter Kanzler Helmut Schmidt, eine im Nachhinein gerechtfertigt anmutende Entscheidung, die sich indes damals nur sehr geringer Beliebtheit erfreute. Den Todesstoß versetzte dieser Vorstellung von Politik Anfang der 80er Jahre Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht, als er das Atommüllendlager in Gorleben für «politisch nicht durchsetzbar» erklärte. Das mochte eine richtige Einschätzung gewesen sein, ihre Begründung war es nicht. Sie macht die Differenz noch zu den 70er Jahren indes überdeutlich: Plötzlich diktierte «die Straße» die Landespolitik — «die Straße» oder «der Pöbel», wie damals noch das abwertende Politikerwort für jene Bewegungen, Gruppen, Initiativen lautete, die man ein Jahrzehnt später als «mündige Bürger» schätzen lernte.

Auch dieses Eingeständnis der Politik gegenüber den Bürgern oder der Gesellschaft kann man nicht hoch genug veranschlagen — in all seiner Ambivalenz. Heute gilt es in Politikerkreisen als progressiv, die Bürger möglichst umfassend zu beteiligen — ehrlicher formuliert: sich gegen das Risiko, Wähler zu verstimmen, möglichst gut dadurch abzusichern, dass man ihnen weitreichende Mitsprachemöglichkeiten einräumt. Dieser Taschenspielertrick tarnt sich als das weit hehrere Anliegen, politischen Entscheidungen mehr Legitimität zu verleihen. Im Konfliktfall aber bedeutet diese Art des Populismus nicht nur eine Selbstbeschränkung der Politik auf das, was den Bürger nicht verprellt - sie fordert diesem auch ab, was man von ihm legitimerweise gar nicht verlangen kann: über die eigenen Lebensentscheidungen hinaus auch noch fürs Große Ganze zuständig zu sein. Zu Recht darf der Bürger einwenden, dass er just das an die Politiker delegiert habe.

Nun — in den goldenen 80ern forderten weder große nationale Anliegen noch andere Fragen von allgemeiner Bedeutung Repräsentanz im Politischen heraus: Jene den frei gewählten und nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten unterstellte und abverlangte Fähigkeit, des Bürgers Willen nicht nur einfach abzubilden, sondern ihn im politischen Verhandlungsprozess zu mediatisieren, zu verfeinern, zu veredeln von der Summe individueller, lokaler oder regionaler Egoismen zum repräsentativen Konsens — was ja weit mehr ist als der schlichte Mehrheitsentscheid. Stattdessen dominierte der Betroffenheitsgestus politischer Minderheiten, ein avancierter Lobbyismus, der die Klientel, die die Volksparteien zu befriedigen hatten, um einige weitere ergänzte, die sich zunächst vor allem bei den Grünen sammelten. Die immense Bereicherung und Erweiterung bundesdeutscher Vorstellungen vom «richtigen Leben» — denken wir nur an die toleranzfördernde Lebensstilkonkurrenz durch Schwule und Lesben — beschleunigte aber auch den Hang der Parteien zu symbolischer Politik plus Klientelbefriedigung. Die Grünen machten da vielfach den Vorreiter, deren «Basisdemokratie» besonders schnell zur «Basokratie» degenerierte, also zur durch keinerlei Kontrollmechanismen mehr begrenzten Herrschaft der mittleren Funktionäre.

All diese Prozesse waren, wie es sich gehört, von ambivalenter oder sogar dialektischer Wirkung. Der Politisierung der Bürger entsprach die Entwertung der etablierten Politik, der Demokratisierung die Minderbeachtung der Demokratie und ihres rechtsstaatlichen Formenkanons. Die 80er Jahre waren vom Verschwinden der Politik geprägt, vom Verschwinden politischer Begrifflichkeit. Bismarcks Diktum: «Entrüstung ist keine politische Kategorie», wäre damals nicht verstanden worden, denn die 80er Jahre waren überreich an Entrüstung und Betroffenheit, aber arm an Maßstäben. 1989 erwies sich, dass sich diese friedliche Zeit dem Leben in einer Nische der Weltgeschichte verdankte, in der bundesdeutsche Politik weder im Inneren noch nach außen hin im Übermaß gefordert war. Nach außen hin konnte man andere entscheiden lassen, und im Inneren hatte man es noch immer mit einer weitgehend kohärenten Gesellschaft zu tun, mit einer Gesellschaft, in der ein prosperierender Mittelstand dominierte und selbst das untere Drittel noch partizipieren konnte an der Verteilung scheinbar nicht versiegender ökonomischer Zuwächse.

Was war das, in der Summe, für ein friedliches Jahrzehnt! Dem Linksterrorismus waren die Sympathisanten ausgegangen, und die CDU, die faktisch ein konservatives Profil längst verloren hatte, hielt in aggressiven Wahlkämpfen noch immer ihre große historische Leistung der Nachkriegszeit aufrecht: den rechten Rand zu halten. Die Grünen hatten die Selbstintegration der aus der 68er-Bewegung hervorgegangenen Milieus und Szenen mit dem Heraustreiben des «Fundi-Flügels» zu einem gut reformistischen Ende gebracht und der Politik insgesamt zwei wichtige Topoi beschert: Die Ökologie als allgemeines Anliegen, als neue Gattungsfrage sozusagen, und den plebiszitären Mythos von der «Basisdemokratie», von der beständigen Durchdemokratisierung des Lebens. Das Westdeutschland der pluralen Lebensstile, der Regionen und der Szenen, des avancierten Provinzialismus3, sah gelassen seinem Aufgehen in Europa entgegen. Da verhagelte das Aufreißen des Eisernen Vorhangs uns die zivilgesellschaftliche Idylle.

Heute scheinen wir vor Fragen zu stehen, die genuin politischer Natur sind und nicht von «der Gesellschaft», von den «Lebenswelten» geregelt werden können, in die «die Politik» zurückgewachsen sei. Heute darf man fragen, ob die Demokratisierungsbewegungen dem institutionellen Gefüge der Demokratie wirklich zugute gekommen sind, ob die ubiquitäre Politisierung des Bürgers wirklich die Nachfrage nach Politik erhöht und ob das allgemein gewachsene Moralisierungsniveau wirklich das Gespür für die Vorzüge des Rechtsstaates befördert hat.

Politikverdrossenheit

Wer heute über Mangel an politischer Führung klagt, muss hinzufügen, dass just diese Ware in den hedonistischen 80ern nicht sonderlich nachgefragt war, weshalb es uns nicht wundern sollte, dass die damit einhergehenden Kompetenzen verschwunden sind. Zwar ist, wie gesagt, «die Gesellschaft» keine Ersatzkategorie für «die Politik». Aber ansonsten besteht zu Überheblichkeit kein Anlaß: Wir haben hierzulande vielleicht nicht die Politiker, die wir verdienen, wohl aber solche, die ihr Ohr dem Raunen des Zeitgeistes besonders eifrig geöffnet haben — ein Fortschritt (oder nicht?) gegenüber starrsinniger Prinzipienreiterei und konventioneller Unbeweglichkeit.

Natürlich ist das ungerecht, dieses dauernde Schimpfen auf die politische Klasse, die nörgelige Politik- und Parteienverdrossenheit von Bürgern, Wählern und Meinungsbildnern, dieses allgemeine Naserümpfen über all das, was zuvor noch als erstaunlich zivil, modern und «realistisch» durchgehen mochte. Worüber wird geklagt? Hatte der aufgeklärte westdeutsche Mensch nicht längst gelernt, den Wahlkampf der Parteien als branchenüblichen Theaterdonner zu durchschauen, die Profilierungsdebatten und Hahnenkämpfe nicht weiter ernst zu nehmen und auch politische Phrasendrescherei noch als Teil jener Demokratie westlichen Zuschnitts zu lesen, deren Nachteile groß, deren Vorteile aber noch größer sind? Woher heute die Erregung über das Menschlich-Allzumenschliche auch bei Politikern, woher der saubermännische Eifer beim Enttarnen eines Rotlicht-Lafontaine oder eines Streibl-Amigos und eines Putzfrauen-Krauses?

Nein, die Skandalaufdeckerei, jede Woche neu, ist öd und blöd — und, ehrlich gesagt: Die politische Klasse hatte schon schlimmere Verdachtsmomente gegen die junge Nachkriegsdemokratie auszuräumen. Die allzu bereitwillige Integration vieler Nazis nicht nur in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, was verdienstvoll war, sondern auch in die höheren Ränge der Politik - von Globke bis Filbinger —, hält noch heute bei vielen Nachkriegsgeborenen ein luxurierendes Misstrauen in die bundesdeutsche Demokratie wach. Ein Effekt, über den man auch, was den Osten Deutschlands betrifft, immer mal wieder nachdenken sollte.

Im Unterschied zu dem bisschen Bereicherungslust und Amtsmissbrauch, über die wir heute reden, war die Parteispendenaffäre, zum Beispiel, nicht nur eine Angelegenheit weit höherer Beträge, sondern auch produktiver Anlass zur Selbstbelehrung von Politik und Publikum über das, was in der Demokratie lässlich und was skandalös ist. Heute bestätigen die Histörchen über eine neuerliche Vorteilsnahme lediglich das grassierende Ennui: Wie verächtlich sie doch ist, die politische Kaste, die sich aus minderen Beständen rekrutieren muss, weil ein Mensch von Verstand und Niveau sich auf das «schmutzige Geschäft» Politik nicht einlassen würde! Die Empörung über die «Selbstbedienungsmentalität» der Parlamentarier und die Cliquen- und Klientelwirtschaft der Kommunalpolitiker sollte nicht vergessen machen, dass Führungskräfte in der Wirtschaft des Zigfache dessen verdienen, was der Oberbürgermeister, sagen wir mal: Frankfurts am Main, nach Hause trägt — der übt sein Amt unter schwierigeren Bedingungen aus zumeist und selten mit weniger Kompetenz.

Die Empörung über den Bereicherungswillen öffentlicher Personen ist seltsamerweise weit größer als die Entrüstung über ihre falschen oder fehlenden Entscheidungen. Vor allem aber spielt in den Debatten über den moralischen Zustand unseres Führungspersonals die für den Zustand der Demokratie viel entscheidendere Frage keine Rolle, ob nicht der wahre politische Skandal weniger im Fehlhandeln zu eigenen Gunsten liegt, sondern im Gegenteil: Im Abweichen von den politischen Regeln aus hochmoralischen Gründen, etwa eines vermuteten nationalen Notstands wegen. Das Gespür für die Regeln bleibt unentwickelt, wenn es sich allein auf den verächtlichen Eigennutz bezieht — aber wie schon im 19. Jahrhundert ist auch heute noch dem aufgeklärten Publikum die «Interessiertheit» das Suspekte, nicht aber die Verletzung des Procedere, wenn es, angeblich, um Höheres geht.4

Überdies könnte sich unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht ja der Wirksamkeit öffentlicher Kontrolle regelrecht rühmen: Letztlich fliegt bei uns nämlich alles auf, vor allem die kleine Schweinerei. Doch auch das ist ein schwacher Trost, seit uns Aussitzkünstler wie Helmut Kohl oder Manfred Stolpe darüber belehrt haben, dass nur gehen muss, wer dazu von der politischen Klasse und den in ihr obwaltenden Machtverhältnissen gezwungen wird. Mit den jüngsten Demissionen von Regierungsmitgliedern haben wir letztlich gar nichts über die Maßstäbe erfahren, an denen hierzulande Verhalten gemessen wird — weshalb das Publikum zu viel Wohlanständigkeit lieber nicht nachfragen sollte. Die kleinen Sünden der Politiker sind das Spielmaterial, mit denen ihr politischer Gegner sie gegebenenfalls aus dem Geschäft räumen kann, begleitet vom Beifall der Öffentlichkeit. Solcherlei Säuberungsaktionen ändern nichts an der Qualität unserer Politik und befriedigen auch ein verärgertes Publikum nur kurzfristig.

Dass Politiker nicht tun, was und wie sie sollen, ist unübersehbar. Doch das an den Stammtischen der Nation gepflogene gesunde Volksempfinden der postmodernen Art, wie es in den Meinungsblättern kolportiert wird, drückt sich vor der unangenehmen Erkenntnis, dass wir noch immer das politische Personal haben, was «die Gesellschaft» der 80er Jahre nachgefragt hat — eine Gesellschaft, die sich viel auf ihre postnationale Identität eingebildet hatte, auf ihr auf- wie abgeklärtes kosmopolitisches Selbstverständnis, auf ihre Distanz zu allem, was früher einmal als besonders deutsch galt und mit den Vokabeln Pflicht, Fleiß und Ordnung bezeichnet ist. Dass Politiker heute verkünden, sie hätten «Lust» auf Politik und seien ganz heiß auf die Macht und «verliebt ins Gelingen» — dieses postmoderne Geschwätz haben wir, die Wähler, ihnen beigebracht. Oder hat irgendwer noch bis vor kurzem von ihnen gefordert, sie sollten, verdammt noch eins, einfach mal ihre Pflicht tun und nicht soviel herumreden?

Was Wunder also, dass uns eine gelehrige politische Klasse, in Bedrängnis geraten, heute beim Anspruch packt und den Wählern die avancierten Sprüche von gestern zurückspielt: Man dürfe nicht alles der Politik anlasten und ihr überlassen, man solle nicht alle Erwartungen an den demokratischen Staat und seine Institutionen richten, auch die Gesellschaft sei gefragt. Da das natürlich — irgendwie! — immer auch richtig ist, zuckt die mündige Bürgerin getroffen zusammen. Wer will sich schon bei obrigkeitsstaatlichen Sehnsüchten ertappen lassen?

Die These, dass die «Basis» bestimme, wo‘s lang geht, und nicht «die da oben», war richtig und wichtig beim Erwerb staatsbürgerlicher Kompetenzen, die heute uns aufgeklärte Bürger so auszeichnen. Sie entstammt überdies einer Zeit, als die Grenzen zwischen staatlichem Handeln, politischem Gestalten und gesellschaftlicher Selbstverpflichtung zu verschwimmen schienen. Es käme heute hingegen darauf an, die jeweiligen Aufgabenbereiche wieder deutlich voneinander zu scheiden: Tatsächlich brauchen wir alle drei Ebenen. Da indes politisches Handeln und Gestalten so eklatant ausbleiben, macht der Verweis auf «die Gesellschaft» misstrauisch. Heute, behaupte ich, hat die These von der Dominanz des Lebensweltlichen gegenüber dem im klassischen Sinn Politischen eine Funktionsveränderung erfahren — von einer progressiven Behauptung des mündigen Bürgers gegen den Obrigkeitsstaat ist diese These zum Entlastungsangriff der politischen Klasse auf den verdrossenen Bürger geworden.

Vom Verschwinden der Pflicht

Denn schließlich: Wir haben die Politiker, die wir uns erzogen haben. Bei liebevoll-nachsichtigem Blick auf sie müssen wir ihnen zugestehen, dass sie in den 80er Jahren in ihrem zutraulichen Opportunismus und Populismus die erstaunlichsten Lernprozesse vollführt haben. Vor allem ein Bündel urdeutscher Eigenschaften ist vielen von ihnen dabei völlig abhanden gekommen: das, was Oskar Lafontaine einst mit Adorno als «Sekundärtugenden» an Altbundeskanzler Helmut Schmidt verworfen hatte, jene preußische Pflicht- und Ordnungsliebe, mit der man «auch ein KZ betreiben» könne.

Was «sekundär» heißt, ist, natürlich, in der moralischen Hierarchie schon mal abgewertet — und nichts könnte einem wichtigen und wachsenden Teil der Deutschen heute ferner liegen als die Akklamation solcher früher als typisch deutsch geltenden Tugenden wie Pünktlichkeit, Pflicht- und Verantwortungsgefühl, Zuverlässigkeit oder gar Ruhe und Ordnung, Regelorientierung, Vertragstreue. Ganz zu schweigen von der «Haltung» und den «Manieren». Bevor nun darüber zu reden wäre, ob ihr Verschwinden überhaupt zu beklagen ist, wer wieder einmal daran schuld war (die 68er, wer auch sonst!) und ob man überhaupt neu bekräftigen kann, was so deutlich jeglichen bindenden Einfluss verloren hat, sollte man sich noch einmal diese Kulturrevolution vor Augen führen, die das jahrhundertealte Bild dessen, was angeblich deutscher Nationalcharakter ist, so gründlich zerstört hat.5

Die Sekundärtugenden wie Pflicht- und Verantwortungsgefühl haben, jedenfalls was ihre Belobigung in der Öffentlichkeit betrifft, völlig abgewirtschaftet zugunsten von Einstellungen, die der postmateriellen Werterevolution zugeschlagen werden. Von «Pflicht» ist nicht mehr die Rede, seit wichtiger geworden ist, dass man «Lust» auf etwas hat. Von «Verantwortung» redet nicht, wer den Imperativ von der «Selbstverwirklichung» noch im Ohr hat. Statt um «Arbeit» kreisen anerkannte Werte heute um den «Erlebniswert» von Sachen, Ereignissen und Personen.6 Es kommt, mit anderen Worten, weniger darauf an, was man tut oder lässt, sondern wie man sich dabei fühlt.

Erst der Vergleich macht deutlich, wie sehr dieses Lebensgefühl in die Politik eingebrochen ist, in diesen Bereich, der noch den Schein von Öffentlichkeit sui generis reklamiert. Noch in den 60er Jahren galt die Politik als harte, männliche Domäne, als gänzlich unsentimentale Angelegenheit, als Reich, in dem Sachlichkeit regiere, zusammen mit Pflicht, Verantwortung und Ordnung, Tugenden, denen gegenüber als privat wahrgenommene Empfindungen wie Gefühle etc. zurückzustehen hätten. «Das gehört nicht hierhin!» ist ein Satz, der uns, die wir in den 60er Jahren heranwuchsen, in die Disziplin der scharfen Trennungen der Bereiche nahm: Hier war das Reich der Empfindungen, das ganz nahe am Reich der Hausfrau lag, dort war die Domäne des Sachlichen, in der Männer mit harten Zügen um den Mund das Sagen hatten — Gesichtszüge, die sich dem lastenden Gewicht der Welt verdankten und die nur zu Weihnachten weich wurden, wenn ihr Träger in seiner Ausformung als «Vati» zu Hause für wenige Stunden die Zeitung sinken ließ.