image

Image

Christian Gerlach

Kalkulierte Morde

Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944

Image

Impressum:

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© E-Book 2013 by Hamburger Edition

© Printausgabe 1999 by Hamburger Edition

Redaktion: Bernd Ulrich

Inhalt

1. Einleitung

1.1 Thema und Forschungsstand

1.2 Zielstellung

1.3 Quellen und Methodenprobleme

1.4 Vorgehensweise

2. Deutsche Planungen für Weißrußland und ihre Grundlagen

2.1 Die historischen Voraussetzungen in Weißrußland

2.2 Die Entstehung deutscher Vernichtungspläne gegen die sowjetische Bevölkerung

a) Der Hungerplan gegenüber der sowjetischen Bevölkerung

b) Die kriegs- und ernährungswirtschaftliche Lage Deutschlands in der ersten Jahreshälfte 1941 und die wirtschaftlichen Ziele im Krieg gegen die Sowjetunion

c) Die Anwendung der Überbevölkerungstheorie auf Weißrußland

d) Die Vorbereitung des Einsatzes von SS- und Polizeieinheiten, die »verbrecherischen Befehle« und die Grundlagen der antijüdischen Politik

2.3 Politische Konzeptionen für Weißrußland und das deutsche Weißrußland-Bild

a) Politische Konzeptionen

b) Das deutsche Weißrußland-Bild und Pläne zur »Modernisierung«

2.4 Deutsche Besiedlungspläne für Weißrußland und die Volksdeutschen

a) Siedlungspläne

b) Deutsche in Weißrußland 1941–1944

3. Aufbau und Funktion der Besatzungsverwaltung

3.1 Die Kampfhandlungen in Weißrußland

3.2 Die Militärverwaltung

a) Allgemeine Militärverwaltung

b) Die Wirtschaftsverwaltung

c) Die Generalquartiermeisterabteilung im OKH und die Quartiermeisterabteilungen als Schaltstellen von Massenverbrechen

3.3 Die Zivilverwaltung

3.4 Der SS- und Polizeiapparat

3.5 Die weißrussische Lokalverwaltung

a) Verwaltung

b) Polizei

c) Politische Kollaboration

3.6 Die Besatzungstruppen

3.7 Die Kontrolle über die Bevölkerung

3.8 Zum deutschen Verwaltungspersonal im besetzten Gebiet

Hauptteil I
Die deutsche Wirtschaftspolitik in Weißrußland 1941–1944

4. Landwirtschafts- und Ernährungspolitik

4.1 Die landwirtschaftlichen Verhältnisse

4.2 Der landwirtschaftliche Ausbeutungsapparat und die »Erfassung«

a) Der Ausbeutungsapparat

b) Die »Erfassung«

c) Die »Versorgung aus dem Lande«

4.3 Die Ernährung der Zivilbevölkerung

a) Der Streit um Richtlinien und Rationierung

b) Organisation und örtliche Bedingungen der Ernährung

c) Hunger

d) Zwangsaussiedlungen aus den Städten 1941/42

e) Die Hungerkrise von 1942 und die Änderungen in der Organisation der Ernährung

f) Der »Ausschluß von der Versorgung«

4.4 Probleme der landwirtschaftlichen Produktion

a) Die Hemmnisse für eine Produktionssteigerung

b) Möglichkeiten der landwirtschaftlichen Intensivierung und ihre Mittel: »Produktionsfaktor Mensch«

c) Staatsgüter (Sowchosen) und Maschinen-Traktoren-Stationen

d) SS- und Polizeigüter

4.5 Die Änderung der landwirtschaftlichen Betriebs- und Bevölkerungsstruktur: die deutsche Agrarreform in Weißrußland

a) Die Entstehung der »Neuen Agrarordnung«

b) Bestimmungen und Ziele der Agrarreform

c) Die Durchführung der Reform in Weißrußland

d) Bevölkerungspolitische Aspekte der Agrarreform

5. Die deutsche Politik der Entindustrialisierung und Entstädterung

5.1 Die Zerstörungen in den ersten Kriegswochen und die sowjetische Evakuierungsaktion

5.2 Die verbliebenen Produktionskapazitäten, Schwierigkeiten bei ihrer Nutzung und die Politik der Entindustrialisierung

a) Größenverhältnisse und Kapazitäten

b) Die Entindustrialisierung: Drosselung und Stillegung intakter Produktionsanlagen

c) Beispiele: Metallindustrie und Textilwirtschaft

d) Schlüsselbereiche für den verhinderten industriellen Wiederaufbau: Energie/Torfbergbau und Verkehrswesen

5.3 Die deutsche Entstädterungspolitik: Bevölkerungsentwicklung, Stadtplanung und Wohnungsfrage 1941 bis 1944

5.4 Investitionspolitik und begrenzter wirtschaftlicher »Aufbau« in Weißrußland

a) Das Generalquartiermeister-Programm

b) Minimales Risiko: Deutsche Unternehmensinteressen in Weißrußland

c) Leistungssteigerung und »Sozialpolitik«

6. Die Arbeitskräftepolitik

6.1 Der Aufbau der Arbeitsverwaltung und die anfängliche Phase des geringen Arbeitskräftebedarfs

6.2 Die Verschleppung von Zwangsarbeitern nach Deutschland

a) Entschlußbildung und Anfänge

b) Gesamtumfang und zahlenmäßige Entwicklung

c) Die Organisation und ihre Methoden

d) Die Erweiterung des Instrumentariums und die Intensivierung des Zugriffs

e) Lager, Deutschlandeinsatz und Rückkehr

6.3 Die Optimierung des Arbeitskräfteeinsatzes innerhalb Weißrußlands 1942–1944, ihre Methoden und Folgen

a) Der regionale Arbeitskräftebedarf

b) Beschaffung von Arbeitskräften in den Städten

c) Die gewaltsame Umkehr der Stadtflucht: Beschaffung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft

d) Zwangsarbeitslager

e) Rückzüge, Evakuierung und totale Selektion der Bevölkerung

Hauptteil II
Die deutsche Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944

7. Die Ermordung der weißrussischen Juden

7.1 Der Beginn der Judenverfolgung

a) Die Zivilgefangenenlager

b) Erste antijüdische Maßnahmen: Entrechtung

c) Die Ghettobildung

d) Die Umsiedlung der Juden in Rayon- und Gebietsstädte

e) Die Mordaktionen im Juni und Juli 1941

7.2 Der Beginn der vollständigen Vernichtung der weißrussischen Juden im Spätsommer und Herbst 1941

a) Die »Aktion« der SS-Kavallerie-Brigade im Polesje

b) August 1941

c) Die Frage der jüdischen Arbeitskräfte

d) Die Auslöschung der großen jüdischen Gemeinden in Ostweißrußland (September bis Dezember 1941)

e) Die Massenmorde zur Dezimierung der Juden im Generalkommissariat Weißruthenien (Oktober bis Dezember 1941)

f) Die Frage der Entschlußbildung: »Absichten« und »Befehle« zum Mord an den weißrussischen Juden

7.3 Das Leben und Sterben in den Ghettos – Ausbeutung und Vernichtung

a) Arbeit

b) Ernährung

c) Wohnen und Besitz

7.4 Die Vernichtung der weißrussischen Juden 1942/43

a) Die vollständige Vernichtung im Militärverwaltungsbereich

b) Die Mordkampagne im GK Weißruthenien im Sommer 1942

c) Die Ausrottung im weißrussischen Teil des Generalkommissariats Wolhynien und Podolien (September–Oktober 1942)

d) Die Vernichtung der Juden aus dem weißrussischen Abschnitt des Bezirks Bialystok (November 1942–März 1943)

e) Die Vernichtung der übrigen Ghettos im GK Weißruthenien 1943

f) Jüdischer Widerstand und jüdische Flüchtlinge

7.5 Die Deportation ausländischer Juden nach Weißrußland

a) Deutsche, österreichische und tschechische Juden

b) Die Verschleppung von Juden aus anderen Ländern nach Weißrußland

7.6 Infrastruktur des Mordens: Gaswagen und Todeslager

8. Die Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener auf dem Boden Weißrußlands

8.1 Verbrechen der deutschen Fronteinheiten auf dem Schlachtfeld im Sommer 1941

8.2 Richtlinien zur Behandlung und Versorgung der Kriegsgefangenen in der Kriegsvorbereitungsphase

a) Die Richtlinien

b) Der organisatorische Aufbau des Kriegsgefangenenwesens in Weißrußland

8.3 Die Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener durch Hunger und Unterversorgung

a) Die Anfangsphase (Juni bis August 1941)

b) Die Verschärfung der Versorgungspolitik, ihre Ursachen und Folgen (September bis November 1941)

c) Die Massenvernichtung der Kriegsgefangenen in Weißrußland im Winter 1941/42

d) Die weitere Entwicklung 1942 bis 1944

8.4 Offene Massenmorde an Kriegsgefangenen

a) Die Vernichtung politischer und »rassischer« Gegner unter den Gefangenen

b) Die Vernichtung auf Märschen und Transporten

c) Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener

8.5 Die Gesamtzahl der Opfer und die Bedeutung des Massenmordes an den sowjetischen Kriegsgefangenen

9. Strukturpolitik durch Terror: die »Partisanenbekämpfung«

9.1 Überblick über die Geschichte der weißrussischen Partisanenbewegung 1941–1944

9.2 Stufe I: Kollektive Gewaltmaßnahmen, präventive Bekämpfung und der »Kampf gegen die Ortsfremden« (1941 bis Anfang 1942)

a) Methoden der Partisanenbekämpfung

b) Die Verschärfung der Verfolgung im September und Oktober 1941

9.3 Stufe II: Die »Großunternehmen« (Frühjahr 1942 bis Frühjahr 1943)

a) Einführung und Funktionieren der neuen Taktik

b) Die Entwicklung bis 1943

c) Andere Gesichtspunkte der Partisanenbekämpfung

9.4 Der Zusammenhang von Wirtschaftsinteressen und Gewalt bei der Partisanenbekämpfung

a) Die Steuerung der Vernichtung nach landwirtschaftlichen Gesichtspunkten

b) Die systematische Deportation von Zwangsarbeitskräften bei der Partisanenbekämpfung und der Massenmord an den »Arbeitsunfähigen«

c) Widersprüche und Konflikte im Kontext wirtschaftlich begründeter Partisanenbekämpfung

9.5 Stufe III: Die Konzepte zur Schaffung »toter Zonen« 1943

a) Die Aktionen im Raum Witebsk-Polozk

b) Deportationen nach Auschwitz und Lublin

c) »Tote Zonen« im Polesje, die strategischen Überlegungen in der deutschen Führung und bei der Heeresgruppe Mitte

d) Das tatsächliche Ausmaß der »toten Zonen«

9.6 Stufe IV: Das Wehrdorfprojekt (1944)

a) Das Stützpunktsystem und die »Sonderkommandos zur Sicherung der landwirtschaftlichen Aufbauarbeit«

b) Die Wehrdörfer

c) Die Ansiedlung von bewaffneten Kollaborateuren der Kaminski-Bewegung, Kosaken und Kaukasiern in Weißrußland 1943/44

10. Weitere Opfer der deutschen Vernichtungspolitik

10.1 Kommunisten, städtischer Widerstand und »Ostmenschen«

10.2 Die Verfolgung der polnischen Intelligenz

10.3 Die Morde an den Sinti und Roma

10.4 Die Morde an psychisch und physisch Kranken

10.5 Krieg gegen Kinder

10.6 Die Verbrechen in der Schlußphase und auf den Rückzügen

11. Die Beteiligung einiger Angehöriger der Offiziersopposition gegen Hitler an den Massenverbrechen in Weißrußland

12. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Quellen und Literatur

1. Quellen

2. Justizakten

3. Darstellungen

Abkürzungsverzeichnis

Danksagung

Zum Autor

1. Einleitung

1.1 Thema und Forschungsstand

Kaum ein Land ist so stark vom Zweiten Weltkrieg betroffen gewesen wie Weißrußland. Nach offiziellen Angaben wurden dort bei einer Bevölkerungszahl von 10,6 Millionen (1939) während der deutschen Besetzung 1941–1944 2,2 Millionen Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet.1 In der nationalen weißrussischen Gedenkstätte an der Stelle, wo 1943 das Dorf Chatyn in Flammen aufging, symbolisieren drei Birken die Weißrussen, die den deutschen Überfall überlebten, eine Flamme brennt für ein weiteres Viertel der Weißrussen, die starben. Fast alle Städte des Landes waren 1944 völlig zerstört. Es gab drei Millionen Obdachlose. Die Zahl der Industriebetriebe war um 85 Prozent zurückgegangen, die Industriekapazität um 95 Prozent, die Saatfläche um 40 bis 50 Prozent und der Viehbestand um 80 Prozent.2 Weißrußland wurde in seiner wirtschaftlichen Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen und blieb für sehr lange Zeit vom Krieg geprägt.

Warum wurde dieses relativ unbedeutende Land, das nach dem Ersten Weltkrieg als Sowjetrepublik zum ersten Mal eine Autonomie erhalten hatte und seit 1991 formell unabhängig ist, von der deutschen Besatzungsmacht in besonderem Maß mit Tod und Vernichtung überzogen? Warum ein so armes, bäuerliches Land mit wenig Industrie und ohne Bodenschätze? Bei näherem Hinschauen zeigt sich: die von den größten Massenmorden betroffenen Bevölkerungsgruppen waren sowjetische Kriegsgefangene, Juden und im Zug der Partisanenbekämpfung getötete Bauern. Weshalb überlebte jeder dritte Kriegsgefangene, den die deutsche Heeresgruppe Mitte machte, bereits den Aufenthalt in diesem seinem ersten Abschubland nicht? Wie kam es zu dem schrecklichen Phänomen der »verbrannten Dörfer«, die zu hunderten – weit mehr als irgendwo sonst auch innerhalb der besetzten sowjetischen Gebiete – von deutschen Einheiten bei der sogenannten Partisanenbekämpfung3 mit den meisten oder mit allen Einwohnern vernichtet wurden?

Weißrußland wurde im Sommer 1941 in wenigen Wochen von der Wehrmacht erobert. Die Einsatzgruppe B der Sicherheitspolizei und des SD, Polizeibataillone und Sicherungsdivisionen begannen sofort mit der Bekämpfung politischer Gegner im weitesten Sinn: sie töteten Kommunisten, Verwaltungsfunktionäre, Kommissare der Roten Armee, versprengte und flüchtige Rotarmisten, Lehrer, Anwälte, die sogenannte Intelligenz, vor allem männliche jüdische Staatsangestellte und Funktionäre. Im Herbst 1941 weiteten sie ihre Aktionen aus: praktisch alle Juden im Osten Weißrußlands wurden binnen weniger Monate erschossen, dazu psychisch Kranke, Sinti und Roma, untergetauchte Rotarmisten, angebliche Partisanen und Hungerflüchtlinge. Viele Einwohner wurden gezwungen, die stark zerstörten und mangelhaft versorgten Städte zu verlassen. Zur gleichen Zeit organisierten Wehrmachtstellen ein furchtbares Massensterben durch Hunger unter den Kriegsgefangenen. Dem fielen in Weißrußland bis Anfang 1942 etwa eine halbe Million Männer zum Opfer; teils wurden sie auch erschossen. Bis 1944 wurde die Vernichtung von Kriegsgefangenen nie ganz gestoppt. Im Lauf des Jahres 1942 ermordeten SS und Polizei im Westen des Landes fast eine Viertelmillion Juden, beinahe alle noch verbliebenen. Teils taten sie das in Zusammenarbeit mit der Zivilverwaltung in örtlicher Initiative, teils in großen Mordkampagnen in den verschiedenen größeren Verwaltungsgebieten des von den Deutschen aufgeteilten Landes. Auf dem Land bekämpften Wehrmacht, SS und Polizei die erstarkte Partisanenbewegung mit neuen Methoden: große Verbände kreisten ihre Stützpunkte weiträumig ein und vernichteten in erster Linie die Dörfer in ihrem Vorfeld. 1943/44 überzogen sie mit verstärkten Kräften weite Teile Weißrußlands mit diesen Gewaltmethoden. Als die Rote Armee im Spätsommer und Herbst 1943 den äußersten Osten Weißrußlands zurückeroberte, reagierten die Deutschen mit Zwangsevakuierungen und Zerstörungen. Die letzten weißrussischen Juden wurden teils ermordet, teils deportiert. Im Sommer 1944 befreiten die sowjetischen Truppen Weißrußland restlos. Zwei der größten Schlachten des Krieges sind dort 1941 und 1944 geschlagen worden, und die weißrussische bewaffnete Widerstandsbewegung war die stärkste in Europa. Doch vor allem die deutschen Massenverbrechen drücktem dem Land ihren Stempel auf.

In der Forschung über die Besatzungsgeschichte Weißrußlands gibt es gravierende faktische Lücken, und es fehlt auch am Überblick über die Gesamtzusammenhänge. Im Westen erschien erst 1998 – nach Einreichen der Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt – eine erste eingehende Darstellung vorwiegend über die westlichen, ehemals polnischen Landesteile von Bernhard Chiari, die wertvolle Elemente einer Alltagsgeschichte liefert. Sie enthält allerdings anfechtbare Thesen hinsichtlich der deutschen Besatzungspolitik, wesentliche Bereiche bleiben ausgespart.4 Eine allerdings sehr knappe weißrussische Gesamtdarstellung erschien erst in den achtziger Jahren, dazu vor kurzem eine in polnischer Sprache.5 Die überholten Arbeiten von Alexander Dallin und Gerald Reitlinger über die deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion enthalten jeweils ein knappes Weißrußland-Kapitel.6 Einen brauchbaren Aufriß der Besatzungspolitik liefert Witalij Wilenchik im Rahmen seiner Dissertation über die Partisanenbewegung in Weißrußland.7 In zwei Darstellungen über die deutsche Politik im Reichskommissariat Ostland (RKO), zu dem ein gutes Viertel Weißrußlands als »Generalkommissariat Weißruthenien«8 gehörte, taucht Weißrußland nur am Rande auf.9 Es ist eines der größten Forschungsprobleme, daß sich die Historiker außerhalb Weißrußlands und der Sowjetunion meist nach den deutschen Verwaltungseinteilungen richteten und deshalb allenfalls das GK Weißruthenien betrachteten. Die Frage nach ganz Weißrußland wurde außerhalb der Sowjetunion kaum gestellt. Doch stand etwa die Hälfte des Landes – der Osten – unter Militärverwaltung, ein Fünftel – der Süden – gehörte zum Reichskommissariat Ukraine und kleine Teile im Nordwesten zum Ostpreußen angegliederten Bezirk Bialystok und zum Generalkommissariat (GK) Litauen. Das führte zu Unkenntnis, Verengung der Fragestellungen und verzerrten Schlußfolgerungen.

Nach dem lange vorherrschenden Erklärungsmuster vernachlässigten die deutschen Zentralstellen das besetzte Weißrußland (identifiziert mit dem GK Weißruthenien). Deshalb sei dafür nur minderqualifiziertes Verwaltungspersonal übriggeblieben, das sich in Machtrausch, Rassenwahn und Vernichtungstaumel ergangen habe. Sich selbst überlassen, habe es achtlos agiert und ein Chaos angerichtet.10 Neben der Vorstellung vom Chaos hat noch eine zweite das wissenschaftlich erzeugte Bild der deutschen Besatzungspolitik geprägt. Weißrußland stand – vielleicht noch mehr denn Auschwitz – für eine »vom ökonomischen Standpunkt aus sinnlose Besatzungspolitik«, galt als Extremfall des Gegensatzes von »Ideologie und Pragmatismus«11, der Vernichtung als Selbstzweck ohne ersichtliche besatzungspolitische Ziele.12 Alle diese Darstellungen sind bei näherer Untersuchung der Ziele und Praxis deutscher Besatzungs- und Vernichtungspolitik nicht haltbar.

Etwas günstiger als bei den Gesamtdarstellungen sieht die Lage bei Arbeiten zu speziellen Themen aus, die meist bestimmte Gesichtspunkte der deutschen Besatzungspolitik und Verbrechen in größerem geographischem Rahmen behandeln. Darunter sind Gesamtdarstellungen der weißrussischen Geschichte aus offiziöser Sicht oder aus der von Exilanten,13 Untersuchungen der Besatzungspolitik der Wehrmacht14 – die nichts daran ändern, daß die Teile der besetzten sowjetischen Gebiete, die unter Zivilverwaltung standen, insgesamt erheblich besser erforscht sind – und zu einzelnen Aspekten und Gliederungen.15 Der Kenntnisstand über die Kollaboration von Weißrussen mit den Deutschen, darunter in den Lokalverwaltungen, ließ bis zur Arbeit von Chiari sehr zu wünschen übrig.16 Über das organisierte Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen – die größte Opfergruppe in Weißrußland – liegt weiterhin nur die allerdings überragende Arbeit von Christian Streit vor, während Alfred Streim sich weitgehend darauf beschränkte, in der Bundesrepublik strafrechtlich relevante, im engsten Sinne direkte Tötungen zu erforschen.17 Hier hat der Mangel an Quellen die Forschung stark behindert. Noch schlechter ist die Forschungslage hinsichtlich der deutschen Partisanenbekämpfung, obwohl hier übergenug Quellen vorhanden sind. Zwar sind die Grundzüge der verbrecherischen deutschen Methoden bekannt, doch wurden sie in der Regel in Untersuchungen über die sowjetischen Partisanen mit abgehandelt, so daß eine umfassende systematische Betrachtung bis heute fehlt und die deutsche Strategie der Partisanenbekämpfung nicht voll erfaßt werden konnte.18 Zu dem berüchtigtsten Kampfverband, der aus Sträflingen zusammengesetzten Sondereinheit Dirlewanger, liegen eigene Veröffentlichungen vor.19

Weitaus besser ist der Mord an den weißrussischen Juden erforscht. Etwa acht bis neun Prozent aller umgebrachten europäischen Juden – mindestens 500 000 Menschen – stammten aus Weißrußland, und dieser Schauplatz spielte eine wichtige Rolle in Befehlsgebung und Verlauf während der Frühphase des Völkermords. Entsprechend sind die Ereignisse in Weißrußland bereits in den Gesamtdarstellungen über die Judenvernichtung und Monographien über die Entscheidungsprozesse geschildert worden.20 Das gilt auch für Untersuchungen der Ermordung der sowjetischen Juden,21 über den jüdischen Widerstand und das Leben in den Ghettos.22 Überdies liegen Darstellungen zur Ermordung der Sinti und Roma und der psychisch Kranken vor.23 Die antijüdischen Verbrechen in Weißrußland bilden einen Schwerpunkt der Arbeiten über die Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD,24 über die Ordnungspolizei und die SS-Brigaden, die dem Kommandostab Reichsführer-SS unterstellt waren,25 und schließlich über die Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF).26 In jüngerer Zeit sind einige geographisch eingegrenzte Beiträge zur Judenvernichtung erschienen, die sich zum Teil mit der Rolle der stationären Polizeidienststellen beschäftigen.27 All diese Arbeiten liefern Bruchstücke oder bestimmte Ausschnitte der Ermordung der weißrussischen Juden, jedoch schon auf Grund ihrer thematischen Beschränkungen keine Gesamtsicht. Strategie des Verbrechens, Motive und Einbindung in die Besatzungspolitik bleiben so weitgehend im dunkeln.

Um dies auch für die übrigen Massenverbrechen in Weißrußland aufzuklären, ist mehr als die bloße Kenntnis der Verwaltungsstrukturen, der Befehlswege und sind mehr als Seitenblicke auf die ökonomischen Verhältnisse des Landes erforderlich. Sucht man nach den Zielen der deutschen Besatzungspolitik, zeigen Quellen und Darstellungen zu den deutschen Umgestaltungsplänen in Osteuropa, daß Vorhaben zur Besiedlung Weißrußlands mit Deutschen im Gegensatz zu anderen Gebieten keine Rolle spielten; 1941 lebten dort auch nur noch wenige Volksdeutsche.28 Wie groß die Bedeutung wirtschaftlicher Ziele für die deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion war, und zwar von der Planungsphase im Frühjahr 1941 bis zum deutschen Rückzug, haben sowjetische und DDR-Forschung sowie im Westen vornehmlich Rolf-Dieter Müller betont und untersucht.29 Wie seit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß bekannt und immer wieder – meist eher beiläufig – in der Literatur erwähnt, war die deutsche Führung mit dem Plan in den Krieg gegen die Sowjetunion gegangen, mehrere Dutzend Millionen Menschen systematisch verhungern zu lassen, um so Agrarüberschüsse zu gewinnen. Wer sich mit der deutschen Wirtschaftspolitik ernsthaft auseinandersetzte, kam gar nicht umhin, einen Zusammenhang mit der Vernichtungspolitik festzustellen.30 Doch auch diese Forschungen blieben bruchstückhaft,31 konzentrierten sich zu stark auf den Raubcharakter der deutschen Politik, während Tendenzen zur gezielten Veränderung der Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur übersehen wurden, vernachlässigten alle die Ernährungspolitik, die stark begrenzte Handlungsfähigkeit der deutschen Besatzer im Produktionsbereich sowie die Versorgungspolitik der Wehrmacht und konnten so letztlich die erzwungene Reagrarisierungspolitik sehr wohl von den Absichten, aber kaum von der Durchführung her mit der Vernichtungspolitik verbinden. Zusätzlich war, wie in den bereits genannten Arbeiten, oft ein geringeres Interesse für die zweite Hälfte der Besatzungszeit vorhanden, die als chaotisch oder von den Partisanen diktiert aufgefaßt wurde. So fehlen adäquate Darstellungen über die Agrarproduktion, über die Entwicklung der Ernährungspolitik und über die deutsche Agrarreform in den besetzten sowjetischen Gebieten,32 über Interessen und Produktion in der Industrie, Entstädterungspolitik, über die Methoden der Rekrutierung von Zwangsarbeitern für den Reichseinsatz33 und ganz besonders über die Arbeitseinsatzpolitik und das Verschieben von Menschen innerhalb des besetzten Landes, das heißt über zentrale Fragen der Besatzungspolitik.

Der Verfasser ist des Russischen, Polnischen, Hebräischen und Jiddischen nicht mächtig. Mit Übersetzerhilfe konnten jedoch wichtige weißrussische Darstellungen und ein Quellenband zu zentralen Bereichen der vorliegenden Untersuchung ausgewertet werden.34 Diese Einschränkung ist bedauerlich, aber es scheint, daß die sowjetische beziehungsweise weißrussische Forschung über die Besatzungsgeschichte Weißrußlands bis in die jüngste Zeit erhebliche Lücken und viele Ungenauigkeiten aufweist, gerade was das Handeln deutscher Besatzungsinstitutionen angeht.35 Erkenntnisse der weißrussischen Forschung sind in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt.

In den letzten Jahren gibt es in der Bundesrepublik ein vermehrtes wissenschaftliches Interesse an der deutschen Besatzungspolitik in Weißrußland. Ausgehend von der Pionierarbeit des Journalisten Paul Kohl,36 der eine Fülle von Informationen über die deutsche Vernichtungspolitik im Vormarschgebiet der Heeresgruppe Mitte sammelte, entstanden Arbeiten über die Besatzungszeit in Minsk, über das Funktionieren der Zivilverwaltung und über Verbrechen der Wehrmacht,37 ferner mehrere teils didaktisch ausgerichtete Quellenbände.38 In Vorbereitung sind Untersuchungen über die Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Minsk von Hannes Heer sowie eine Biographie des Generalkommissars für Weißruthenien (1941–1943), Wilhelm Kube.

1.2 Zielstellung

Die vorliegende Arbeit bezweckt zu untersuchen, ob Zusammenhänge zwischen den deutschen Wirtschaftsinteressen oder der deutschen Wirtschaftspolitik und der deutschen Vernichtungspolitik sowie anderen Verbrechen bestanden, besonders hinsichtlich der Zwangsumsiedlungen bestimmter Bevölkerungsgruppen. Einfacher ausgedrückt: Standen diese Massenverbrechen im Widerspruch zu den wirtschaftspolitischen Zielen oder dienten sie ihnen? Besonders Götz Aly und Susanne Heim haben in jüngerer Zeit gegen die – immer noch – dominierende Auffassung hervorgehoben, daß die Vernichtung der Juden besonders in Osteuropa ursächlich mit materiellen und pragmatischen Zielen verbunden war. Sie haben auch bisher am stärksten die Verbindung zwischen dem deutschen Hungermordplan gegen die Sowjetunion und der Vernichtung von Juden, sowjetischen Kriegsgefangenen und der Bevölkerung Leningrads betont. Allerdings beschränkten sie sich in diesem Fall zu sehr auf die Sphäre der Planung, indem sie die deutschen Pläne dem Ergebnis der Verbrechenspolitik gegenüberstellten, ohne die Durchführung der Entscheidungsprozesse vorzuweisen und entsprechend die Umformung der Pläne in der mörderischen Praxis berücksichtigen zu können.39 Weißrußland scheint als Testfall zur Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftsinteressen und Völkermord besonders geeignet, einmal weil hier so viele Menschen ermordet wurden, was erklärungsbedürftig ist, und zum zweiten, weil das Land als vorgebliches Paradebeispiel für den Widerspruch zwischen wirtschaftlichen Interessen und Völkermord gilt.

Daraus ergeben sich folgende übergreifende Fragestellungen, die bei jedem Themenfeld zu beachten sind. Zunächst muß geklärt werden, welche wirtschaftlichen und politischen Ziele die zuständigen deutschen Stellen auf Grund ihrer Beurteilung der Verhältnisse in Weißrußland verfolgten und was sie infolgedessen mit der weißrussischen Bevölkerung vorhatten. Anschließend muß überprüft werden, welche Pläne die deutsche Besatzungsmacht in welchem Umfang durchführen konnte. Welche Modifikationen mußten vorgenommen werden, welche Pläne scheiterten und was hatte das für Folgen? Ein spezielles Augenmerk muß hier entsprechend der Einzigartigkeit und überragenden Bedeutung des Hungermordplans auf die Ernährungspolitik gegenüber verschiedenen Bevölkerungsgruppen gerichtet sein. Im Agrarland Weißrußland hatte die Landwirtschafts- und Ernährungspolitik40 nicht nur entscheidenden Rang, sie war auch eng mit den Vernichtungsentscheidungen verbunden.

Die wichtigsten Sektoren der deutschen Wirtschaftspolitik und der Vernichtungspolitik werden separat zu untersuchen sein. Aus den schon skizzierten Gründen ist der Wirtschaftsbereich nicht nur am Rande, als Hilfsargument, zu behandeln, sondern die entscheidenden Bereiche der Ökonomie müssen von Grund auf analysiert werden: Landwirtschafts-, Ernährungs-, Industrie- und Arbeitseinsatzpolitik; Ausgangsstand, Produktionsprozesse und -bedingungen, deutsche Ziele, Hindernisse bei ihrer Durchsetzung und Lösungsversuche von deutscher Seite, um sich mehr Produkte aneignen zu können.

Dabei ist die konkrete Situation Weißrußlands zu berücksichtigen, das 1939 unter sozialistischen Vorzeichen mit dem zuvor zu Polen gehörenden Westen ›wiedervereinigt‹ worden war. Wie unterschieden sich historische Entwicklung und wirtschaftliche Verhältnisse im Juni 1941 zwischen West- und Osthälfte des Landes, und inwiefern gingen die Deutschen in den beiden Teilen unterschiedlich vor (etwa in der Agrarpolitik)? Wie versuchten die Deutschen die Produktions- und Distributionsprozesse zu ändern, und inwieweit gelang es ihnen? Wollten sie die sozialistischen Produktionsverhältnisse ändern?

Andererseits ist zugleich die Frage zu stellen: Wie reagierten die Weißrussen auf die deutschen Maßnahmen, auf Unterversorgung, Warenmangel, Arbeitszwang, Umsiedlung oder die Bedrohung durch die Partisanenbekämpfungs-Feldzüge auf dem Land? Welche deutschen Maßnahmen konnte sie unterlaufen oder neutralisieren – mit welchen Gegenreaktionen? Konnte die deutsche Verwaltung ihre Politik durchsetzen?41

Um die deutsche Besatzungspolitik, die ihr zugrundeliegenden wirtschaftlichen Interessen wie die Vernichtungsaktionen verstehen zu können, erwies es sich als unbedingt notwendig, die Anlage der militärischen Pläne und Operationen gegen die Sowjetunion, vor allem die Versorgungsprobleme der Heeresgruppe Mitte und ihre Auswirkungen auf die Operationen, zu analysieren und zu berücksichtigen. Hier stehen einige aussagekräftige militärgeschichtliche Untersuchungen über Operationspläne, Operationsverlauf, Versorgungs- und Transportverhältnisse zur Verfügung.42

Ein großer Fragenkomplex ist den deutschen Massenverbrechen in Weißrußland gewidmet. Dabei geht es zunächst einmal darum, die Abläufe möglichst genau zu erklären, ihre zahlenmäßige Dimension, den Zeitraum ihrer Realisierung, die Tätereinheiten festzustellen. Ferner ist zu fragen: Gegen welche Bevölkerungsgruppen richteten sie sich jeweils in abgrenzbaren Zeiträumen genau? Wann sind Höhepunkte oder Kampagnen des Massenmords festzustellen? Wann, für wie lange, warum und von wem wurden sie beschleunigt? Wodurch wurden sie gestoppt oder verlangsamt? Es geht darum, gleichsam die Struktur dieser Verbrechen zu finden. Allein davon sind bereits Aufschlüsse darüber zu erwarten, mit welchem Ziel und warum ein Verbrechen stattfand. Diese Rückschlüsse sind möglichst mit – nicht immer vorhandenen – Quellen über die Motive zu kombinieren. Ziel der Untersuchung ist es, umfassende Planungen nachzuweisen, die zum Erreichen besatzungspolitischer Ziele dienten und direkt zur Vernichtung so vieler Menschen führten, gewissermaßen die Strategie hinter den Verbrechen.

Die gleiche Herangehensweise gilt auch für Umsiedlungen und künstlich erzeugte Bevölkerungsströme, deren Zusammenhang mit wirtschaftlichen Erwägungen oft auf der Hand liegt. Gerade die Zwangsumsiedlungen erweisen sich so immer wieder als Bindeglied zwischen Wirtschaftspolitik und verbrecherischen Aktionen – abgesehen davon, daß sie selbst Verbrechen darstellten.

Die Untersuchung wird in erster Linie eine Geschichte der Täter sein. Dabei stehen weniger die sogenannten tatnahen Täter im Mittelpunkt, die die Taten schließlich ausführten. Je mehr gezeigt werden kann, daß die deutschen Besatzungsverbrechen in Weißrußland strategisch angelegt und geplant waren, desto geringer ist die Bedeutung der tatnahen Täter für die Ingangsetzung der Vernichtung – die beispielsweise bei der sogenannten Partisanenbekämpfung umstritten ist – einzuschätzen. Allerdings konnten sie, etwa in den Ghettos und Lagern, vielfach über Leben und Tod entscheiden. Die Entscheidungen zum Massenmord aber trafen andere, während die Ausführenden als Erfüllungsgehilfen fungierten. Ohne deren Willfährigkeit – teils aus Überzeugung, teils aus blindem Gehorsam oder Konformitätsdruck – hätten die Untaten freilich niemals stattfinden können.43 Die Frage nach psychologischen Erklärungen für die so weitgehende Beteiligung der tatnahen Täter, besonders der Mannschaften, muß in dieser Untersuchung häufig offen bleiben.44

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen vor allem jene, die Massenverbrechen initiierten, befahlen, genehmigten, die generelle Weisungen ausarbeiteten oder aussprachen und die Menschen selektierten oder selektieren ließen, und ihre rekonstruierbaren Motive, unter ihnen solche ideologischer und anderer Art. Zu unterscheiden sind hier die Tatbeiträge auf örtlicher, regionaler und zentraler Ebene, jeweilige Befehlsverhältnisse und Befugnisse, wenn möglich auch die Tatbeiträge einzelner Personen. Um den möglichen Fehler einer Regionalstudie zu vermeiden, die auf dem besetzten Territorium befindlichen Entscheidungsträger überzubewerten, ist es unerläßlich, die Entscheidungsprozesse in den Zentralstellen des Deutschen Reiches zu beachten und das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie bei wichtigen Entscheidungen zu bestimmen. Eine besondere Rolle spielen dabei die für die besetzten sowjetischen Gebiete zuständigen Kopfbehörden, das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, der Wirtschaftsstab Ost und die Abteilung Kriegsverwaltung beim Generalquartiermeister des Heeres.45 Soweit möglich, ist auch darzustellen, wo Initiative und Entscheidungen in wichtigen wirtschaftlichen Fragen lagen, beim Zentrum oder bei der Besatzungsverwaltung.

Ferner sind die Initiativen, Tatbeiträge und Einstellungen verschiedener Instanzen zu erforschen: Militärverwaltung und Sicherungstruppen, Zivilverwaltung, SS und Polizei, einheimische Hilfspolizei und Lokalverwaltung. Sind jeweils Konflikte oder Übereinstimmung erkennbar? Inwieweit hemmte das die Verbrechen beziehungsweise förderte und beschleunigte sie?

Allgemeiner: wie weit war die Kenntnis von Massenmorden, besatzungspolitischen Zielen und Strategien verbreitet, wie groß der Grad an Zustimmung, Beteiligung oder Widerstand? Auch wenn diese Fragen nicht immer das Zentrum der vorliegenden Darstellung bilden und dieses Maß hier nicht endgültig bestimmt werden kann, hat sich jede Untersuchung der NS-Verbrechen damit zu beschäftigen. Auch diese Arbeit versucht, dafür zumindest einen Beitrag zu leisten und Anhaltspunkte zu liefern.

Schließlich ist zu fragen: Sind Zusammenhänge zwischen Massenverbrechen der Besatzungsmacht gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen herauszufinden, die wiederum auf gemeinsame Ursachen und Motive verweisen könnten? Welche zeitlichen Parallelen gibt es?

Für den Zuschnitt der vorliegenden Untersuchung sind weitere Entscheidungen wichtig. Erstens ist die ganze Besatzungszeit zu untersuchen, gerade auch die zweite Hälfte, um nicht erneut eine möglicherweise kurzschlüssige Betrachtung der Zeit vom Sommer 1941 bis zum Frühjahr 1942 zu liefern. Wichtige Entwicklungen in der Wirtschafts- und Vernichtungspolitik – um es vorauszuschicken – sind so bisher übersehen worden. Zweitens ist Weißrußland in seinen Nachkriegsgrenzen territorialer Untersuchungsgegenstand,46 also quer zu den deutschen Verwaltungseinheiten. Dies ermöglicht einen Vergleich des Vorgehens in verschiedenen Territorien, der allerdings nicht als Selbstzweck systematisch betrieben wird.47 Er erlaubt Feststellungen über gemeinsame Tendenzen und Phänomene und den Einfluß bestimmter Führungspersonen. Dadurch wurde natürlich aber auch der Arbeitsaufwand erheblich größer.48 Drittens bietet diese Arbeit keine vollständige Besatzungsgeschichte Weißrußlands 1941–1944. Themen, die nicht in den skizzierten Untersuchungszusammenhang gehören, werden gar nicht oder nur insoweit abgehandelt, als es für das Verständnis der deutschen Wirtschafts- und Vernichtungspolitik unbedingt nötig ist, so die deutsche Kultur-, Schul-, Religions- und Finanzpolitik, die Forst- und Holzwirtschaft,49 die Geschichte des weißrussischen politischen Widerstands und der Partisanenbewegung, das Schicksal der weißrussischen Zwangsarbeiter im Deutschen Reich, die Strafverfolgung der Täter nach 1945 und ihre Nachkriegskarrieren. Biographisches Material wurde von mir in vielfältiger Weise ausgewertet und bei der Erklärung des Geschehens berücksichtigt. Angesichts des großen, aus vielen verschiedenen Behörden und Ebenen zusammengesetzten Kreises der Akteure konnte aber keine umfassende Tätersoziologie betrieben werden.50 Die vorliegende Arbeit liefert auch keine Darstellung aller Aspekte des Lebens der jüdischen Bevölkerung, der Kriegsgefangenen, der Flüchtlinge in den Wäldern oder der Weißrussen insgesamt und muß dies für ihren Betrachtungszusammenhang auch nicht tun. Zwar ist es sehr mißlich, daß dadurch die Perspektive und das Erleben der Opfer weniger zum Tragen kommen; es geht im folgenden aber in erster Linie darum, Entstehung und Ablauf der Verbrechen nachzuvollziehen und zu erklären.

1.3 Quellen und Methodenprobleme

Obwohl ein großer Teil der deutschen Verwaltungsakten zwischen 1943 und 1945 vernichtet worden ist – teils gezielt, teils durch Bombenkrieg und Kampfhandlungen –, stehen zur deutschen Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland Akten in sehr großer Zahl zur Verfügung. Für das weit gefaßte Thema waren sehr viele Bestände interessant, darunter die zahlreicher militärischer und ziviler Zentralstellen. Generell wurde Akten zentraler Stellen Vorrang vor denen lokaler Institutionen gegeben, da letztere für Entscheidungsprozesse und größere Zusammenhänge oft wenig ergiebig waren, sondern eher gewissermaßen Alltägliches verzeichneten.51 Die lokale Ebene wurde aber nicht völlig vernachlässigt. Die beiden wichtigsten Fundamente der Arbeit sind die Akten der unter Wehrmachthoheit stehenden Wirtschaftsdienststellen und diejenigen der bundesdeutschen Nachkriegsverfahren gegen NS-Täter.

Zunächst einmal konnte eine Reihe von einschlägigen Quellensammlungen herangezogen werden, die anfangs fast nur in sozialistischen Ländern und erst in den letzten zehn Jahren vermehrt auch in der Bundesrepublik erschienen sind.52

Unter den zeitgenössischen Verwaltungsakten sind besonders die fast vollständig erhaltenen Kriegstagebücher (meist mit Anlagen) von Wirtschaftsstab Ost, dessen Chefgruppe Landwirtschaft, Rüstungsinspektion Ostland, den Rüstungskommandos Minsk, Luzk und Shitomir und ihren Außenstellen, der Wirtschaftsinspektion Mitte bzw. des Heeresgruppenwirtschaftsführers Mitte und der unterstellten Wirtschaftskommandos vollständig ausgewertet worden. Aus dem Wirtschaftsstab Ost sind auch wichtige Grundsatz- und Fachakten, darunter alle Halbmonats- und Monatsberichte, erhalten, in geringerem Maße aus dem Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt im OKW.53 Fachakten der Wirtschaftsinspektion Mitte liegen im Zentralen Staatsarchiv (ZStA) in Minsk.54

Erheblich sind auch die verfügbaren Bestände der interessierenden militärischen Kommando- und Verwaltungsstellen, darunter der Generalquartiermeister des Heeres, das Oberkommando der Heeresgruppe Mitte, ganz besonders der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte, ferner die rückwärtigen Armeegebiete (Korücks) und die Sicherungsdivisionen. Hier fehlen allerdings beträchtliche Teile der Kriegstagebücher und der dazugehörigen Anlagen.55 Trotzdem konnten wegen des großen Umfangs nicht alle Unterlagen lückenlos durchgearbeitet werden (in Potsdam und Freiburg), besonders die der Korücks, die in Weißrußland nur relativ kurz 1941 und 1943/44 tätig waren. Es fehlen weitgehend Akten der Feld- und Ortskommandanturen, also der lokalen Militärverwaltungsdienststellen. Sie sind nur bruchstückweise in Divisionsakten und als Splitterbestände im ZStA Minsk zugänglich. Zur Berücksichtigung der lokalen Perspektive wurde versucht, alles diesbezüglich Bekannte vollständig zu sichten. Vereinzelt standen auch Akten der Geheimen Feldpolizei zur Verfügung. Ausgesprochen schlecht ist die Quellenlage bezüglich der Vernichtung der Kriegsgefangenen. Hier gibt es nur verstreute Bestände einzelner Zentralstellen, einige Akten des Kriegsgefangenen-Bezirkskommandanten J und der Quartiermeisterabteilung aus dem rückwärtigen Heeresgebiet Mitte sowie einzelne Berichte und Befehle verschiedener Lager.56