Seestern

(Ferdinand Heinrich Grautoff)


1906


Der Zusammenbruch der alten Welt

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-184-8


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Im englischen Parlament



Es fielen zwei große Tage für die Londoner Bevölkerung zusammen. Am Morgen war die heldenmütige Besatzung der beiden deutschen Kanonenboote "Tsingtau" und "Vaterland" an Bord des englischen Dampfers "Colombo" in Portsmouth eingetroffen; mittags rüstete sich die englische Hauptstadt zum Empfang der deutschen Gäste. Und an demselben Tage hatte im englischen Unterhause der Hauptredner der Opposition eine Interpellation der Regierung, wegen der Besetzung des Hafens von Bender-Abbas an der persischen Küste durch die russische Flotte angekündigt. Die Nachricht von der russischen Flaggenhissung war zwei Tage zuvor in London eingetroffen und hatte dort große Erregung hervorgerufen.

Der Sitzungssaal des Unterhauses war bis auf den letzten Platz besetzt. Selbst hinter den Sitzreihen standen noch Abgeordnete, andere säumten die Galerien. Lautes Stimmengewirr durchschwirrte den hohen Raum, das noch mehr anschwoll, als der Staatssekretär des auswärtigen Amtes, der sich zur Beantwortung der Interpellation bereit erklärt hatte, seinen gewohnten Platz einnahm und vor sich auf den Tisch des Hauses eine Aktenmappe niederlegte. Es lag etwas wie Krisenstimmung in der Luft. Der Lärm verstummte, als sich nunmehr der Redner des Tages erhob.

Er gab zunächst einen kurzen Überblick über die Kriegsereignisse des letzten Jahres. Noch einmal entrollte sich das gewaltige Drama des Riesenkampfes vor seinen Zuhörern, dann zog er, unter Beifallsrufen seiner Parteigenossen, in kurzen, knappen Sätzen die Bilanz dieser Ereignisse: "Die Regierung hat dies Land, sagte er, mit allzugroßer Leichtherzigkeit in einen Krieg hineingeführt, dessen Folgen sie nicht übersah, die sie aber bei vorsichtiger Einschätzung der politischen Lage und der Kräfte unserer Gegner hätte voraussehen müssen. Doch an der Vergangenheit ist nichts mehr zu ändern. Fassen wir das Ergebnis des Krieges zusammen, so ist es das folgende: Die Vernichtung des größten Teiles der deutschen Flotte hat unserer Marine schwerere Verluste gekostet, als wir bei Beginn der Feindseligkeiten erwarten durften. Wir sind stolz auf unsere Erfolge zur See. Aber die Marine Kaiser Wilhelms hat mehr geleistet als wir glaubten. Ein Drittel unserer Schlachtflotte liegt am Grunde des Meeres, ein Drittel unserer Panzerschiffe befindet sich im Dock zur Reparatur, und die schwere Artillerie der noch gefechtsfähigen Schiffe ist so sehr durch den Kampf mitgenommen, dass sie kein Seegefecht mehr riskieren kann. (Lebhafte Unruhe im Hause.) Ich verrate keine Geheimnisse. Es ist allgemein bekannt, dass die Lebensdauer der schweren Geschütze auf unseren Linienschiffen sich nur auf eine beschränkte Anzahl von Schüssen erstreckt, und diese ist überall fast erreicht. Sehen wir ab von den Neubauten, die auf unsern Werften ihrer Vollendung entgegengehen, so ist unsere Schlachtflotte, die aus dem Kriege zurückgekehrt ist, wehrlos, sie kommt für einen Kampf zur See nicht mehr in Betracht, bis sie neue Geschütze erhalten hat.

Also ist es das Ergebnis des Krieges, dass dieses Land die Seeherrschaft auf dem Ozean verloren hat auf kürzere oder längere Zeit. (Unruhe im ganzen Hause.) Wir müssen ehrlich sein gegen uns selber und das nicht übersehen, was andere auch sehen. Dass die französische Flotte noch mehr gelitten hat als unsere, ist kein Trost für uns, und auch die Vernichtung der deutschen Marine kann uns für den Verlust der britischen Seeherrschaft nicht entschädigen. Es gibt heute nur noch eine große Flotte auf dem Ozean, das ist die Flotte der Vereinigten Staaten. (Der Redner wird mehrfach unterbrochen und macht eine längere Pause.) Was dieser Erfolg des Krieges für England bedeutet, will ich nicht weiter erörtern, es genügt, die Tatsache festzustellen.

Deutschland befindet sich in ähnlicher Lage wie wir. Ehemals die größte Militärmacht in Europa, hat es diesen Rang für eine Zeit wenigstens an Rußland abtreten müssen. Diese beiden Tatsachen bedeuten nichts mehr und nichts weniger, als dass die Entscheidung über die Geschicke der Welt nicht mehr in der Hand der beiden Seemächte der germanischen Völker liegt, nicht mehr bei England und Deutschland steht, sondern zu Lande Rußland zugefallen ist und zur See von der amerikanischen Union abhängt. Petersburg und Washington sind an die Stelle von Berlin und London getreten. Darumhaben wir dreiviertel Jahr gekämpft. Darum haben wir Hunderttausend Soldaten auf französischer Erde begraben, darum sind unsere Flotten in den Wogen der See versunken. Ich klage die Regierung nicht an; ich folge dem alten Wahlspruch unseres Volkes 'Right or wrong, my country!' (Vereinzelte Cheers.) Dieser Krieg hat der Vormacht des Slaventums und der anspruchsvollen uns nicht freundlich gesinnten Regierung der Vereinigten Staaten, ohne dass sie einen Finger zu rühren brauchten, zu einer Weltmachtstellung verholfen, die wir zurückerobern müssen (laute Cheers), in der Zukunft zurückerobern müssen, denn heute ist unsere Flotte zu schwach.

Was kann uns die Vermehrung und Konzentrierung unseres afrikanischen Kolonialbesitzes für solche Verluste entschädigen? Wir müssen unsere Kolonien in Afrika von neuem erobern. Ebenso Deutschland und Frankreich. Ich spreche nicht von Riesenverlusten unseres Handels, von den finanziellen Einbußen durch die Belastung unseres Budgets mit den unerhörten Ausgaben für diesen Krieg. Und sind wir unseres Besitzes sicher? Ich erinnere das Haus an das, was sich in Südafrika, in Canada, in der Commonwealth von Australien vorbereitet. Ich erinnere daran, dass Kolonien nicht dankbar sondern anspruchsvoll sind. Was soll daraus werden? (Lebhafte Bewegung im ganzen Hause.)

Das Gespenst der Sorge um Indien ist der Hausgeist der englischen Politik. Verlieren wir Indien, so wankt uns der Boden unter den Füßen. Jetzt weht die russische Flagge über den Strandbatterien von Bender-Abbas. Unsere indische Bastion wird durch die russische Erwerbung flankiert. Sollen wir das dulden? Verträgt das die Ehre dieses Landes? (Rufe: Nein, nein!) Wir dürfen nicht mehr Nein sagen.Wir müssen Ja sagen (Lebhafter Widerspruch). Wir müssen Ja sagen, weil wir dieses Land nicht um einen persischen Hafen in einen neuen Krieg stürzen dürfen, in dem wir ohne Verbündete dastehen. Oder ist das Bündnis mit Japan mehr als ein wertloses Stück Papier. Wir müssen uns abfinden mit der Tatsache, dass Bender-Abbas Rußland gehört, dass Persien eine russische Interessensphäre ist. Wir dürfen nicht in denselben Fehler verfallen wie im Winter vorigen Jahres, als wir glaubten, die Welt sei zu klein, als dass große Völker nebeneinander existieren könnten. Für Deutschland war neben England Raum genug, jetzt hat Amerika uns beiden den Platz eingeengt. Für Rußland ist auch neben England Raum genug in Asien. Wir erwarten, dass die Regierung in Petersburg die Verhandlungen in diesem Sinne führt. Wir dürfen dann hoffen, dass Bender-Abbas ein Ventil für das russische Expansionsbedürfnis wird, dass hier das Streben Rußlands nach dem Meere ein Endziel findet und dass dadurch die afghanisch-indische Grenze von einem unerträglichen Druck entlastet wird. Wenn Englands Ehre angetastet wird, steht die Bevölkerung dieses Landes zusammen wie ein Mann, wir sind gewohnt für die Macht und Herrlichkeit des Vaterlandes das Letzte zu opfern. Hier handelt es sich aber nicht um unsere Ehre, sondern um unseren Ehrgeiz, um den Verzicht auf ein Phantom, um den Verzicht auf einen Besitz, der uns nie gehört hat. Und wir sind heute nicht mehr reich und mächtig genug, um einen Krieg zu führen, der nur unsere nationale Eitelkeit befriedigen kann".

Donnernder Beifall folgte diesen Worten auf beiden Seiten des Hauses. Die Abgeordneten drängten sich an den Redner heran, schüttelten ihm die Hände und sprachen eifrig auf ihn ein. Es war kein Zweifel, er hatte allen aus dem Herzen gesprochen, die bitteren Wahrheiten, die man in so klaren Sätzen eben gehört, hatten ihren Eindruck nicht verfehlt. Von dem lauten Stimmengewirr wurde die Ankündigung des Sprechers des Hauses, dass der Staatssekretär des Äußeren nach fünf Minuten die Interpellation beantworten werde, völlig übertäubt. Überall standen Gruppen der Abgeordneten in lebhaftem Gespräch zusammen. Durch die hohen Fenster des Sitzungssaales tönte von draußen her das dumpfe Brausen des Straßenverkehrs herein, wie der ewig gleiche Tonfall der Meeresbrandung. Jetzt schwoll diese einförmige Melodie auf dem Resonanzboden der Riesenstadt zu größerer Stärke an, laute Cheers erschollen draußen und dann setzten in der Ferne die schmetternden Klänge einer Militärkapelle ein. Geleitet von den stürmischen Willkommengruß der Londoner Bevölkerung zogen die deutschen Marinesoldaten in London ein. Noch lauschte man im Sitzungssaale diesen ungewohnten Tönen, da erhob sich der Staatssekretär des Äußeren von seinem Platze:

"Das sehr ehrenwerte Mitglied des Hauses hat die Meinung seiner politischen Freunde in einer Weise zum Ausdruck gebracht, die sich, wenn auch in weniger schroffer Form, mit den Anschauungen des Ministeriums, welches ich zu vertreten die Ehre habe, deckt. Die Regierung dieses Landes weiß die bedauerlichen Folgen des Krieges vollauf zu würdigen, sie gibt sich über den Zustand unserer Seemacht keinen Täuschungen hin und ist ebenfalls der Ansicht, dass es gefährlich wäre, sich auf irgendwelche politische Experimente einzulassen, die das Land in neue unabsehbare Verwicklungen stürzen könnten. Die Besetzung von Bender-Abbas durch das russische Geschwader bedeutet an sich keine Bedrohung unserer indischen Machtstellung. Wenn die Richtung der russischen Expansionspolitik durch die Einnahme von Bender-Abbas eine andere wird, so wird England keinen Einspruch dagegen erheben, unter der Voraussetzung, dass Englands Interessen in Persien, die keine politischen sind und es nie gewesen sind, nicht beeinträchtigt werden. Unser Botschafter in Petersburg ist in diesem Sinne beauftragt, eine Erklärung der russischen Regierung zu fordern. Sobald diese erfolgt, werde ich dem Hause weitere Mitteilungen machen. Vorläufig bitte ich, diesen Gegenstand verlassen zu dürfen".

Der Staatssekretär machte eine Pause und suchte zwischen den Papierblättern in seiner Mappe. Draußen erklangen jetzt die vollen kräftigen Akkorde der deutschen Militärmusik. Der Staatssekretär begann von neuem.

"Das sehr ehrenwerte Mitglied des Hauses hat erwähnt, dass nach den bedauerlichen Verlusten des Krieges die amerikanische Flotte gegenwärtig die stärkste Seemacht der Welt darstellt. Ich bitte das hohe Haus, sich dieses Umstandes zu erinnern, wenn ich jetzt zu meinem Bedauern eine sehr ernste Mitteilung zu machen habe. (Der Staatssekretär räusperte sich und rückte an seinem Halskragen, als sei ihm dieser plötzlich zu eng geworden.) Unser Botschafter in Washington teilt uns soeben mit, dass ihm die Regierung der Vereinigten Staaten eine diplomatische Note zugestellt habe des Inhalts: Die Regierung der Vereinigten Staaten fordert die Regierung Großbritanniens auf, aus ihren kolonialen Besitzungen in Westindien, aus Jamaica, den Bahama-Inseln, Britisch-Honduras und Britisch-Guyana die englischen Garnisonen zurückzuziehen.

Das gleiche Ersuchen werde in Paris, in Kopenhagen und im Haag überreicht. Der Bau des Panamakanales lege der Regierung der Vereinigten Staaten die Notwendigkeit nahe dafür zu sorgen, dass diese wichtige Schiffahrtsstraße nicht durch irgendwelche Macht im Kriege gesperrt werden könne, und Amerika könne es nicht mehr dulden, dass der Schiffahrtsweg an den Bastionen europäischer Festungswerke vorüberführe. Da die europäischen Kolonien in Westindien nur noch geringe wirtschaftliche Bedeutung hätten, sie aber als Militärstationen aufhören müßten zu bestehen, verlange die amerikanische Regierung die Räumung dieser Besitzungen, die nunmehr unter amerikanischen Schutze selbständig werden sollten. Zum Schlusse der Note heißt es: die Regierung in Washington habe diesen Zeitpunkt für ihre Maßnahme gewählt, da er die größte Garantie biete für eine friedliche Erledigung der Angelegenheit. Nach den großen Verlusten im Kriege und bei dem gegenwärtigen Zustande der europäischen Flotten sei selbst eine europäische Koalition nicht imstande, mit Aussicht auf Erfolg der amerikanischen Flotte entgegenzutreten. Die Vereinigten Staaten und Japan seien zur Zeit die einzigen wirklichen Seemächte. Die europäischen Regierungen müßten daher jetzt endlich auch praktisch der Monroedoktrin die Stellung zubilligen, die Deutschland wenigstens theoretisch bereits freiwillig anerkannt habe."

Da ward es totenstill im Hause. Alle fühlten es: Es fuhr ein Schlag hernieder, den man nicht mehr parieren konnte. Durch die hohen Fenster strich die laue Frühlingsluft. In der Ferne verklang der Pariser Einzugsmarsch.

 

 

Inhalt




Vorwort

Der Zwischenfall von Samoa

Im deutschen Reichstag

Krieg mobil

Antwerpen von den Engländern besetzt

Die Stellung der Niederlande

Alarmierende Nachrichten

Im Dom


Ran an den Feind!

Das Bombardement von Cuxhaven

Die Blockade

Auf Vorposten

Am Feinde

Der sozialistische Aufstand in Charleroi

Das Ultimatum in Italien

Die Seeschlacht vor Neapel
Die Seeschlacht von Spezzia

Und die anderen Mächte ...?

Auf ferner, fremder Aue ...

Der Union Jack im Kieler Hafen

Die Seeschlacht von Helgoland

Im Torpedoraum

Jenseits des Meeres

Die deutschen Schiffe im Ausland
Von Windhuk nach Mafeking
Kiautschou

Die Millionenschlacht

Im Ballon
Die Gefechtsleitung
Die Entscheidung
Auf Ansbach-Bayreuth!
Die Nacht
Daheim

Als der Herbst kam

Horch! Der Wilde tobt schon an den Mauern
Der Sturm bricht los
La illaha ill allah!
An den Hängen der Basutoberge
Petrus Mapanda
Der schwarze Schrecken

Waffenstillstand und Frieden

Hilfe naht
Im fernen Osten
Japan

Im englischen Parlament

 

 

 

Vorwort



Wir stehen am Ende. Das furchtbare Jahr, in dem die alte Welt von Blut so rot war, ist vorüber. Wir haben ihn gehabt, den frischen fröhlichen Krieg. Noch stehen europäische Heere draußen, um Schritt für Schritt das zurückzuerobern, was der Trümmersturz des Riesenkampfes verschüttet hat. Das wieder aufzubauen, was dieses Jahr an friedlicher Kulturarbeit vernichtet hat, wird ein Jahrzehnt kosten. Und die, welche heimkehren aus Feindesland, sind ein der Arbeit entwöhntes Geschlecht. Die Herzen sind härter geworden in diesem Jahr, da die Welt nach Blut roch. Die Länder sind leerer geworden; es sind zu viele schlafen gegangen unter den grünen Erdhügeln da draußen.

Wir stehen am Ende des gewaltigsten Krieges, den die Geschichte der Menschheit sah; das Jahr 1906 ist ihr mit blutroten Lettern eingebrannt. Wir stehen am Ende, und dem Historiker liegt es ob, sich noch einmal Szene um Szene die Entwicklung des furchtbaren Dramas zu vergegenwärtigen, das in den unheilvollen Märztagen 1906 vor Samoa seinen Anfang nahm und alle Völker der alten Welt in seinen Wirbelsturm mit hineinriß. Alle die Unverantwortlichen, die in den Parlamenten, in Volksversammlungen, in der Presse jenseits wie diesseits des Kanals immer wieder den Völkerhaß geschürt, die da gemeint hatten, ein Waffengang zwischen Deutschland und England werde nur wie ein Gewitter die Luft reinigen, und man werde in der Lage sein, nach Gutdünken heute oder morgen, wenn die Spannung gelöst, "das Ganze Halt" blasen zu lassen, über sie alle war der Gang der Ereignisse rücksichtslos hinweggeschritten. Caesar supra grammaticos!

Das hatten sie nicht berechnet, dass ein europäischer Krieg bei den tausendfältigen Beziehungen zu den überseeischen Neuländern, deren Millionenvölker widerwillig einer Handvoll Weißer gehorchten, notwendigerweise die Welt in Flammen setzen mußte. Wie eine Bora, wie ein glutheißer alle schlummernden Gefühle aufpeitschender Wüstensturm ging es durch die Länder des Islam, wie ein elektrischer Strom zuckte es durch die scheinbar so indolenten Völkermassive Asiens, als Europas Boden vom Waffenlärm widerklirrte. Die Diplomaten des Berliner Kongresses mühen sich jetzt den neuen Most in neue Schläuche zu füllen; noch liegt nichts Fertiges, Abgeschlossenes vor, aber die Umrißlinien sind gegeben. Da mögen wir noch einmal rückwärts schauen, und das Ganze uns noch einmal vergegenwärtigen, wie es sich entwickelt hat. Nur ein Querschnitt durch die Ereignisse soll hier gegeben werden, nur die Hauptpunkte sollen hervorgehoben werden, nur die Meilensteine, die den Weg des Jahres 1906 bezeichneten. Allein die Einigkeit der Völker Europas kann das, was ihnen verloren gegangen ist, die unbestrittene politische Macht und die Seeherrschaft auf dem Weltmeer wieder zurückgewinnen. Heute liegt der politische Schwerpunkt in Washington, Petersburg und Tokio.

Im Mai 1907

Seestern

Der Zwischenfall von Samoa



Irgend etwas lag in der Luft. Nicht dass gerade die politischen Nachrichten irgend jemandem Sorge gemacht hätten. Drüben jenseits des Meeres erscheinen Ereignisse, die in der Heimat wochenlang die Presse in Atem halten, mikroskopisch klein. Die große Distanz und die Zeitdifferenz läßt sie gewissermaßen mit einem umgedrehten Fernglas sehen. Recht, recht gleichgültig ist unseren Landsleuten drüben der Gang der großen und der kleinen Politik, von der man im stillen Winkel doch so gut wie nichts verspürt. Trotzdem machte es einen tiefen Eindruck, als die "Samoanische Ztg." am 3. März durch eine Extraausgabe mitteilte, der deutsche Reichstag habe die neuerdings geforderte Auslandsflotte, auf die man beim Flottengesetz von 1900 verzichtet hatte, abgelehnt.

Am Abend des Tages saßen einige deutsche Kaufleute und mehrere Angestellte der deutschen Plantagengesellschaft in der Veranda eines Landhauses, von dem aus man den schönsten Blick auf Apia und die Reede hat. Am anderen Ufer der Bucht flatterte träge in der lauen Abendluft über dem kaiserlichen Gouvernement die Flagge des Reiches. Leise rauschend schlugen die Wellen an den Strand, während die nach Norden offene Reede sonst gerade im Märzmonat von heftigen Stürmen heimgesucht wird. Gleich einem riesigen Gerippe lag das Wrack des Kreuzers "Adler" auf der Korallenbank, auf der sich eine Schar Samoaner tummelte. Hin und wieder erschien eine der geschmeidigen Gestalten zwischen den Stahlrippen des Wracks. Der feurige Sonnenball stand dicht am Rande des westlichen Horizontes. Von der "Möwe", die auf der Reede lag, klangen die melancholischen Töne des Zapfenstreiches über die ruhige Meeresfläche, langgezogen und klagend. In der traumhaften Stille des Abends glaubte man fast die Ruderschläge der Gig zu hören, die einige Offiziere der "Möwe" dem Lande zutrug. Wie eine weiße Raupe kroch das Boot über den kupferfarbenen Seespiegel, während mit dem Scheiden der Sonne die Flagge am Heck des Kriegsschiffes verschwand.

"Dort kommen unsere Gäste", sagte der Hausherr, der für diesen Abend die Offiziere S. M. S. 'Möwe' zu sich geladen hatte, da das Vermessungsschiff, ein häufiger Gast in Apia, am nächsten Tage die Reede verlassen sollte, um seine letzte Reise nach Tsingtau anzutreten, um dort als Hulk seine Tage zu beschließen. Man brach auf und begab sich in das Speisezimmer, um dort die Marineoffiziere zu begrüßen. Noch bevor sie die kurze Strecke von dem gebrechlichen Landungssteg am Strande bis zum Landhause, das am sanften Abhange des Berges lag, zurückgelegt hatten, erschien dort ein Soldat der eingeborenen Polizeitruppe mit einem Briefe für den Hausherrn. Nachdem er ihn durchflogen, wandte er sich zu seinen Gästen: "Schade, unser Gouverneur Dr. Solf bittet, ihn für heute abend als entschuldigt gelten zu lassen und außerdem will er uns noch einen unserer Gäste entführen. Schade, es hätte so nett werden können". In diesem Augenblick betraten die Marineoffiziere, lebhaft begrüßt, das Haus. Während die übrigen Herren abschnallten, nahm der Hausherr den Kapitänleutnant Schröder beiseite und verständigte ihn von dem Wunsche des Gouverneurs.

Bei einer vorzüglichen Bowle entwickelte sich schnell eine rege Unterhaltung, die sich bald auch dem Ereignis des Tages, dem Reichstagsbeschlusse über die Auslandsflotte, zuwandte.

"Nun, allzu tragisch dürfen wir's nun doch wohl nicht nehmen. Was bekommen wir in Apia von der Auslandsflotte überhaupt zu sehen? Ja früher, da lagen hier oft unsere großen Kreuzerfregatten, aber seit 1889, seit dem Unglück, schickt man uns doch nur kleine Kähne. Das sind Sie, sagte einer der Pflanzer zu den Offizieren, mit Ihrer 'Möwe', die sieht ja recht nett aus, aber glauben Sie, dass sie unseren englischen und amerikanischen Freunden imponiert? Eine 'Antiquität aus Williams Museum' nennen sie den Kahn. Nun, die 'Möwe' geht ja jetzt auch ins alte Eisen in der Tsingtauer Rumpelkammer. Höchstens kommt sonst mal der 'Falke' seligen Andenkens oder der 'Cormoran' auf eine Stippvisite. Von Ihren Auslandsschiffen merken wir hier verdammt wenig; wenn Sie Ihre Schiffe nicht ins Ausland schicken, dann können wir uns die Kosten auch sparen. Überhaupt sieht's friedlich genug aus in der Politik. Wer will denn auch heute einen Krieg anfangen? Jeder scheut doch die Verantwortung."

"Friedlich", meinte der Herausgeber der "Samoanischen Zeitung", "sieht es nun gerade nicht aus. Wenn ich den Zusammenhang auch nicht ganz verstehe, so muß doch irgend etwas in der Luft liegen, was sich über das Niveau des diplomatischen Kleinkrieges, den wir seit Monaten verfolgen können, hinaushebt. Nach einer Depesche, die ich heute aus New York bekam, die allerdings unterwegs stark ramponiert sein muß, hat England sein Mittelmeergeschwader mobil gemacht. Außerdem wird von verdächtigen Schiffsbewegungen im Kanal berichtet. Doch ist der Zweck dieser Maßnahmen so unklar, dass es ebenso gut eine amerikanische Ente sein kann. Sie wissen ja wie das amerikanische Kabel arbeitet. Die reinen Rösselsprünge depeschieren sie uns, wenn es ihnen paßt".

"Ach was, das englische Säbelrasseln kennen wir; warten wir ab und trinken wir Tee oder besser diese geradezu erhaben komponierte Bowle. Laßt uns lieber ein lustiges Lied singen".

Wie immer, wenn Deutsche beisammen sind, war's kein lustiges, sondern ein wehmütiges Lied

Hier in weiter, weiter Ferne
Wie's mich nach der Heimat zieht!
Lustig singen die Gesellen,
Doch es ist ein falsches Lied,
Doch es ist ein falsches Lied ...

klangs voll und kräftig aus zwanzig Männerkehlen in die tropische Sommernacht hinaus. Mit ernstem Gesicht hörte der Kapitänleutnant Schröder, der, vom Gouverneur zurückgekehrt, unbemerkt das Zimmer wieder betreten hatte, dem Gesange zu ...

Andere Mädchen, andere Städtchen
O wie gerne kehrt' ich um ...

hallte es noch nach. Er trat jetzt an den Tisch: "Meine Herren Kameraden, Sie haben eben mit Nachdruck versichert, dass Sie gerne umkehrten; ich muß Sie nun leider auch tatsächlich bitten, mit mir umzukehren und mit mir an Bord zu gehen. Und Sie, verehrter Herr Gastgeber, bitte ich, zu entschuldigen, dass ich gewissermaßen als steinerner Gast, als Störer der Freude erscheine. Aber die Pflicht ruft. Im übrigen brauchen wir uns heute noch nicht zu verabschieden, denn die "Möwe" bleibt noch einige Tage im Hafen liegen".

Ein rasches Abschiednehmen, dann ruderte die Gig wieder in die Finsternis hinaus, auf die Laterne zu, die wie ein einsamer Stern am Vortopp des weißen Kreuzers draußen auf der Reede über der weiten Meeresfläche schwebte.

Leise rauschend legte das Boot am Fallreep an, die beiden Fallreepsgäste erschienen mit ihren Laternen, die Deckswache salutierte. Als man außer dem Hörkreis der Mannschaften war, ersuchte der Kommandant die Offiziere, ihm in seine Kajüte zu folgen.

Die Ordonnanz, die Licht gemacht, verschwand lautlos. Erwartungsvoll blickten die Herren ihren Vorgesetzten an. Nach einer kurzen Pause sagte er mit leicht stockender Stimme: "Meine Herren, ich will Ihre Zeit nur auf ein paar Minuten in Anspruch nehmen. Der kaiserliche Gouverneur, Herr Dr. Solf, hat mir aus einer amtlichen Meldung mitgeteilt, dass die politische Lage die Möglichkeit eines Kriegs zwischen England und Deutschland nicht ausgeschlossen erscheinen läßt. Es wird von deutschfeindlichen Kundgebungen in England berichtet". Mit leiser, erregter Stimme fortfahrend, setzte er hinzu: "Unsere Kameraden von S. M. S. "Sperber" sind in Durban vom englischen Pöbel insultiert worden. Die Lage ist ernst. Einstweilen ist angeordnet worden, dass S. M. S. "Möwe" vor Apia bleibt. Im Falle eines Krieges hat die "Möwe" bis auf weiteres den Schutz der Kolonie zu übernehmen. Durch treue Pflichterfüllung werden wir das Vertrauen Seiner Majestät, unseres obersten Kriegsherrn, ehren. Meine Herren Kameraden, diese Mitteilungen sind nur für Sie bestimmt; sie sind Dienstgeheimnis. Und nun, meine Herren, lassen Sie uns ruhen." Mit festem Händedruck verabschiedete sich der Kommandant von seinen Offizieren.

Keiner fand Schlaf diese Nacht. Krieg? S. M. Kriegsschiff "Möwe", Kriegsschiff? Vermessungsschiff sagte die Schiffsliste. Außerdem zum Tsingtauer Hulk kondemniert! Einerlei: Kriegsschiff. Langsam, mit hallenden Schritten ging der Posten auf Deck auf und ab, auf ... und ... ab, auf ... und ... ab. Tapp-tapp ... Kriegsschiff, Kriegs ... schiff. Antiquität hatte der Engländer gesagt. Ach was, ein deutsches Lied singen "Wie's mich nach der Heimat zieht" ... Heimat ... ja Heimat ... aber erst der Krieg ... Kriegsschiff ... Kriegs ... schiff ... Einerlei, hier stand man auf Posten, der Schutz Samoas, und man würde ja auch nicht allein gelassen werden. "Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr", hatte das nicht der Alte damals gesagt? Nein, nicht Dienst: Pflicht.

Leise plätschernd schlugen die Wellen gegen den schlanken Leib der "Möwe". Hin und wieder schnellte ein Fisch empor und fiel klatschend wieder aufs Wasser zurück. Knarrend drehte sich nur manchmal eine Stenge oder ein Tau im leichten Nachtwinde. Sonst Totenstille. Auch im Gouvernementsgebäude am Strande erlosch in dieser Nacht das Licht nicht.


* * *


Die nächsten Tage verliefen völlig ruhig. Die Mannschaft der "Möwe" erhielt keinen Landurlaub mehr. Nur die Dampfpinasse fuhr mehrmals am Tage zwischen dem Gouvernementsgebäude und dem Kriegsschiff hin und her. Dr. Solf teilte dem Kommandanten am 10. März ein amtliches Chiffretelegramm mit, das letzte, welches er aus der Heimat erhielt. Es lautete, vorsichtig abgefaßt, im Hinblick auf eine mögliche Entzifferung von unberufener Seite, "Handelt im Einvernehmen mit 'Möwe'. Gefahr drohend von Washington und London. 'Thetis' und 'Cormoran' unterwegs." So konnte man binnen einiger Tage auf das Eintreffen der beiden Schiffe, des ersten von Batavia, des zweiten von Jaluit aus hoffen. Bereits machte sich die Bedeutung des englisch-amerikanischen Kabelmonopols geltend. Obige Depesche war wie erwähnt das letzte Chifferntelegramm, das überhaupt auf dem amerikanischen Kabel über Pago-Pago weitergegeben wurde. Es war vorsichtigerweise schon an eine Mittelsperson gerichtet.

Mindestens so gut wie auf deutscher Seite, waren die englischen und amerikanischen Einwohner Apias über die politischen Vorgänge in Europa unterrichtet. Die Konsuln beider Länder standen in steter telegraphischer Verbindung mit ihren Regierungen. Den Depeschenverkehr schon jetzt einer Zensur zu unterwerfen, lag für die deutsche Behörde einstweilen kein völkerrechtlicher Grund vor. Dass man genügend informiert war, zeigte sich in dem sehr zurückhaltenden Benehmen der Engländer und Amerikaner gegenüber den Deutschen. Man ging sich gegenseitig aus dem Wege. Im übrigen zeigte Apia sein alltägliches Aussehen, und nichts ließ äußerlich darauf schließen, dass die Luft mit elektrischem Fluidum gesättigt war.

Die "Möwe" blieb ruhig vor dem Hafen liegen. Der kleine, wackelige englische Postdampfer "Kawau", der den Verkehr Samoas mit der Außenwelt vermittelt, fuhr noch am 12. März mit zahlreichen amerikanischen Passagieren nach Pago-Pago auf Tutuila ab.

Unter der Hand verständigte ein schnell gebildetes Komitee der deutschen Bewohner Apias den Gouverneur, dass "im Ernstfall" die Kolonie, meistens gediente Leute, sofort aus sich selber heraus eine Schutztruppe bilden würde, und Herr Dr. Solf nahm, da die samoanische Polizeitruppe von 30 Mann doch nur ein fragwürdiges Kriegsinstrument war, das Anerbieten an, auf alle Fälle. Er unterrichtete auch das Komitee davon, dass die in einem Schuppen hinter dem Gouvernementsgebäude liegenden Armeegewehre "im Ernstfall" zur Verfügung ständen. So war man, wenn auch nicht gerüstet, so doch vorbereitet.


* * *


Am Nachmittag des 13. März erschien am westlichen Horizont eine Rauchwolke, und kurz vor 5 Uhr warf ungefähr 200 m seewärts von der "Möwe" der englische Kreuzer "Tauranga", von Sidney kommend, Anker, ein alter Bekannter auf der Reede von Apia. Nach Erledigung der vorschriftsmäßigen Salutschüsse ließ sich der britische Kommandant an Land setzen, um dem Gouverneur einen Besuch zu machen. Dr. Solf ersuchte unter Hinweis, dass von Seiten der "Möwe" dasselbe geschehe, den Engländer, bei den gegenwärtigen Mißhelligkeiten, deren Einfluß sich schon bis Apia geltend machte, seiner Mannschaft einstweilen keinen Landurlaub zu geben, was Kapitän Hopkins auch bereitwillig zusagte. Hierauf verweilte er eine halbe Stunde, ein längerer Besuch wäre aufgefallen, im englischen Konsulat und fuhr dann an Bord der "Möwe". Ein etwas wärmerer Ton kam in die anfangs streng förmliche Unterhaltung, als beide Schiffskommandanten sich als Kameraden vom Seymourzuge auf Peking erkannten. Noch an demselben Abend erwiderte Kapitänleutnant Schröder den Besuch auf der "Tauranga".

Am Abend desselben Tages wurde dem Gouverneur gemeldet, dass ein amerikanischer Missionar von Eingeborenen windelweich durchgeprügelt worden sei, weil er durch reichliche Schnapsspenden und durch klingende Dollars versucht hatte, einige ehemalige Anhänger Malietoas gegen die Deutschen aufzuwiegeln. Der treffliche Seelenhirte, man sagte ihm nach, er habe vor seiner "Erweckung" einen längeren Urlaub nach Sing-Sing (dem bekannten amerikanischen Gefängnis) gehabt, war bei seinem sauberen Handel von zwei Soldaten der eingeborenen Polizeitruppe überrascht worden, die alsbald die Rolle des Richters Lynch übernahmen und den Reverend weidlich verdraschen. Der amerikanische Konsul sandte alsbald ein amtliches Schreiben: "Hoffentlich (I hope sincerely) genössen doch amerikanische Untertanen auch unter den gegenwärtigen Umständen den Schutz der deutschen Regierung".

Die Sache war fatal wegen der Beteiligung der beiden Polizeisoldaten.

Dr. Solf teilte dem Konsul mit, beide Übeltäter säßen bereits im Arrest, er bäte ihn aber, seinen Einfluß dahin geltend zu machen, dass sich amerikanische Untertanen auch jeder politischen Wühlerei enthielten, nur dann könnte er garantieren usw.


* * *


Am 15. März beschwerte sich der englische Konsul, dass betrunkene Eingeborene, der Schnaps stammte von dem amerikanischen Seelenhirten, nachts in einige englische 'stores' eingebrochen seien. Hierauf erließ Dr. Solf eine strenge Verfügung, die jede Verabfolgung von Spirituosen an Eingeborene oder Chinesen mit strengen Strafen belegte.

Am Nachmittage erschienen auf der Reede der amerikanische Kreuzer "Wilmington" und der von Sidney kommende englische Kreuzer "Wallaroo" und ankerten neben der "Tauranga". Am späten Abend fuhr vom "Wilmington" ein Boot an Land; ein Offizier begab sich ins amerikanische Konsulat und kehrte von dort erst spät wieder an Bord zurück. Ein Zollwächter berichtete, man habe zwei schwere Kisten aus dem Boot ins Konsulat geschafft; seiner Ansicht nach könnten sie nur Gewehre enthalten.

Um die Sache aufzuklären, ließ sich Dr. Solf auf 9 Uhr am anderen Morgen beim amerikanischen Konsul anmelden. Er teilte ihm mit, was ihm gemeldet sei, und machte den Konsul darauf aufmerksam, dass das Waffeneinfuhrverbot nach wie vor bestehe. Der Konsul Mr(!) Schumacher wollte nichts von Kistentransporten und gar nichts von Gewehren wissen.

Zwei Stunden darauf wurde einem eingeborenen Arbeiter auf einer amerikanischen Plantage, ein verdächtiges Paket abgenommen, das drei amerikanische Marinekarabiner enthielt. Der Bursche konnte entfliehen, die Waffen wurden ins Gouvernementsgebäude gebracht. Dr. Solf sandte Mr. Schumacher ein offizielles Schreiben, in dem er seine Warnung wiederholte.

Am Nachmittage bat Dr. Solf sämtliche Schiffskommandanten und beide fremden Konsuln zu einer Konferenz zu sich. In kurzen Worten skizzierte er die politische Lage und bat die Vertreter der fremden Mächte, alles zu tun oder zu unterlassen, was zu einer Störung des Friedens führen könnte.

Es herrschte eine schwüle Atmosphäre in dem engen Raum. Die Besprechung hatte etwas Gezwungenes, und das gegenseitige Vertrauen fehlte. Plötzlich fiel ein Schuß draußen, wildes Geschrei folgte.

Der Kommandant des "Wilmington" eilte in nervöser Hast ans Fenster.

Draußen wurde ein Chinese mit Kolbenstößen von eingeborenen Polizeisoldaten in den kleinen Vorhof geführt, welcher zum Gouvernement gehört. Eine Ordonnanz trat ein und meldete, der Chinese habe nach kurzem Wortwechsel einen Polizeisoldaten auf offener Straße erschossen.

Erschossen??!

Hier ist das Gewehr; die Ordonnanz überreichte es.

Ein Zucken ging über Dr. Solfs bartloses Gesicht. Er stieß den Kolben des Gewehres mit kraftvoller Hand schmetternd auf den Fußboden, trat, die Faust an dem Gewehrlauf, an den Beratungstisch, und den durchdringenden Blick auf Mr. Schumacher geheftet, sagte er: "Es ist heute das zweite Mal, dass mir amerikanische Marinegewehre ins Haus getragen werden. In einer halben Stunde werden zwei Doppelposten vor dem Konsulatsgebäude der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika stehen, damit keine Gegenstände aus dem Gebäude mehr, gestohlen werden können." Die Amerikaner grüßten eisig und empfahlen sich. Die Engländer folgten ihnen. Zu kurzer Beratung blieben Kptlt. Schröder und Dr. Solf noch zusammen, dann kehrte auch dieser an Bord zurück.

Eine halbe Stunde später setzte die "Möwe" 30 Marinesoldaten an Land, die ein Alarmquartier in der Nähe des Gouvernementsgebäudes bezogen und alsbald den Sicherheitsdienst in den Straßen Apias übernahmen. Die Tätigkeit der eingeborenen Polizeitruppe blieb auf das samoanische Viertel beschränkt. Zugleich erließ Dr. Solf eine Verfügung, dass niemand nach Sonnenuntergang ohne Erlaubnisschein die Straße betreten dürfe, was sofort auch den fremden Konsuln amtlich mitgeteilt wurde.


* * *


Glühend rot versank der Sonnenball im Meere. Auf der stillen Flut wiegten sich leise die schlanken weißen Leiber der vier Schiffe. Scharf und deutlich drangen die schnarrenden Trommelwirbel und die langgezogenen Horntöne des Zapfenstreichs zum Lande hinüber. Langsam und ruckweise kletterte die weiße Toplaterne wie ein blasser Stern am Fockmast der "Möwe" empor. Wie ein Spielschiff nahm sie sich mit ihrer hohen Takelage gegenüber den ernsten, ausgesprochen kriegerisch aussehenden fremden Kreuzern aus. Nur zwei Batterienpforten unterbrachen die Reeling der "Möwe", nur zwei größere Geschütze gegenüber zwei Dutzend englischen und amerikanischen, im Ernstfall ein von vornherein verlorenes Spiel. Hinter der "Möwe" der groteske Bau des "Wilmington", ein schwimmendes Plätteisen mit einem Fabrikschornstein drauf, ungefähr als wäre in diesem Fahrzeug mit dem überlangen Schlot wieder eines jener frühesten unbeholfenen, unproportionierten Dampfboote lebendig geworden, wie sie noch hie und da in stillen Hafenwinkeln rosten.

Schnell brach die tropische Nacht herein. Unter ihrem Schutze näherten sich zwei amerikanische Schiffsboote dem Strande; beide Kommandanten begaben sich ins amerikanische Konsulat. Nur eine Bootswache blieb am Strande zurück.

Um 2 Uhr nachts wurden mehrere total betrunkene Seehelden vom Sternenbanner von deutschen Marinesoldaten im Arrestlokal eingeliefert. Während die Patrouillen mit der Bändigung dieser Gesellen, es waren zwei Neger darunter, beschäftigt waren, spielten sich im eigentlichen Apia wüste Szenen ab. Eine Schar wiskybegeisterter amerikanischer Matrosen war in mehrere Eingeborenenhütten eingebrochen. Aus einer Prügelei war ein regelrechter Kampf geworden. Schüsse fielen von beiden Seiten. Die Samoaner, denen vor Jahren alle Waffen von den deutschen Behörden abgenommen, d. h. abgekauft worden waren, hatten unerklärlicherweise plötzlich amerikanische Karabiner; sie stammten, wie sich später herausstellte, aus dem Waffenlager im Konsulat. Zwei amerikanische Matrosen wurden getötet, vier verwundet, acht sinnlos betrunkene Leute waren im Arrest. Von den Samoanern waren acht tot, vierzehn verwundet.

Noch vor Tagesanbruch fand ein lebhafter amtlicher Verkehr zwischen dem Gouverneur und den Konsulaten statt. Es war eine böse Nacht.


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Am 17. März, morgens 7 Uhr, erhielt Dr. Solf vom amerikanischen und gleich darauf vom englischen Konsul ein Schreiben des Inhalts: Da bewaffnete Eingeborene amerikanische Seesoldaten überfallen hätten, müßten sie als Schiffskommandanten ihrer Regierung ersuchen, eine Abteilung Mannschaften zum Schutze der Konsulate zu landen.

Dr. Solf antwortete: Die Konsulate ständen unter dem Schutze der deutschen Regierung; er erstrecke sich allerdings nicht auf Leute, die die Hütten friedlicher Eingeborener überfielen, wie das geschehen sei. Eine Landung fremder Marinemannschaften könne er nicht erlauben. Er wolle über den Fall telegraphisch Instruktionen seiner Regierung einholen. Bis dahin müßte es bei diesem Bescheide bleiben. Die Benützung des Kabels sei vor der Hand nur für gewöhnliche, nicht chiffrierte Depeschen zulässig. Die verhafteten Amerikaner müßten bis auf weiteres im Arrest verbleiben.

Antwort beider Konsuln: Wenn bis um 9 Uhr keine zustimmende Antwort des Gouverneurs vorliege, würde die Landung zweier Abteilungen ohne Erlaubnis stattfinden.

Antwort Dr. Solfs: Einer bewaffneten Landung würde er mit Waffengewalt entgegentreten. Der Kommandant S. M. S. "Möwe" werde instruiert werden, jedes Boot mit bewaffneter Macht unter Feuer zu nehmen.

Die Uhr schlug die 8. Stunde; alle Arbeit ruhte in Apia. Überall wurden die Ereignisse der Nacht besprochen. Auf den Straßen standen lebhaft sich unterhaltende Gruppen; die englischen und amerikanischen Ansiedler hatten sich in der Nähe ihrer Konsulate versammelt. Die Hügel hinter Apia waren dicht besetzt von Eingeborenen; das reine Amphitheater "Caesar, morituri te salutant" ... 5 Minuten nach 8 Uhr glitt das von 8 eingeborenen Polizeisoldaten geruderte Gouvernementsboot rasch aus dem Hafen hinaus. Dr. Solf begab sich an Bord der "Möwe". Eine Viertelstunde später verabschiedete er sich am Fallreep von Kapitänleutnant Schröder mit einem langen Händedruck. Auf der Rückfahrt begegnete Dr. Solf dem Boote des amerikanischen Konsuls, das wenige Minuten später beim "Wilmington" anlegte und kurz darauf zurückkehrte. Am Lande hieß es Mr. Schumacher habe dem Kommandanten des "Wilmington" eine wichtige Meldung überbracht.

½9 Uhr. Tausend Augen blickten hinaus aufs Meer voll banger Sorge. Man war auf sich selber angewiesen, ganz allein auf sich. Das Kabel hatte, nachdem der amerikanische Konsul noch eine Depesche erhalten, versagt, von der übrigen Welt war man abgeschnitten. Draußen lagen die drei weißen Schiffe mit ihren blanken drohenden Geschützen, der Feind, daneben dem Lande zu die kleine "Möwe". Und die Minuten rannen. Stolz flattert des Reiches Flagge über dem Gouvernementsgebäude in der frischen Brise. Dicke Ballen Rauch warfen die Schlote der Kriegsschiffe aus; er sank nieder auf die Wasserfläche, auf ihr sich zerteilend zu einem feinen braunen Schleier. Ab und zu drang ein Signal herüber. Klick, klick, klack, klick, klick, klack tönte es scharf und regelmäßig, die Anker gingen auf, gleichzeitig erschien eine sprudelnde Welle am Heck ... man ließ die Schraube angehen. Und die Minuten rannen. Die kleine "Möwe", die arme "Möwe". Ihr Schicksal war besiegelt. Was nützte es, dass man die Faust ballte, dass man die Zähne zusammenbiß. Die arme "Möwe" und unsere braven, blauen Jungen. Totenstill lag Apia da. Alle blickten sie hinaus mit brennenden Augen, alle Deutschen auf des Reiches äußersten verlorenen Posten, alle, alle.

Gewehr bei Fuß stand das gelandete Marinekommando im Vorhof des Gouvernementsgebäudes. "Kerls das ist gräßlich. Wer doch wenigstens an Bord sein könnte, um den verfluchten Hunden eins aufs Fell zu brennen", knirschte der führende Leutnant zwischen den Zähnen hervor. Die Sekunden wuchsen, aber sie schwanden Tropfen um Tropfen. Am Gouvernementsgebäude sammelten sich die Deutschen. Mit kurzem Händedruck begrüßte man sich, man sprach nur flüsternd, die Sekunden rannen. Da tönte plötzlich der heulende Schrei einer Dampfpfeife zum Lande herüber, an dem langen Schlot des "Wilmington" erschien eine weiße Dampfwolke. Am Bug des Schiffes wallte das Wasser auf. Langsam glitt der "Wilmington" zwischen den beiden Engländern hindurch und verließ nun unter Volldampf die Reede, weit draußen auf der offnen See einen flachen Bogen nach Osten beschreibend und dann die Richtung nach Pago Pago nehmend. Der amerikanische Konsul hatte dem Kommandanten des "Wilmington" das Telegramm seiner Regierung noch rechtzeitig übermitteln können, welches die Anweisung enthielt, auf jeden Fall einen Konflikt zu vermeiden, bei Ausbruch von Feindseligkeiten Apia zu verlassen und alles weitere der Regierung der Vereinigten Staaten zu überlassen. Die beiden Engländer blieben auf ihren Plätzen.

¾9 Uhr. Trug der Wind nicht den Ton einer Trillerpfeife herüber? Auf dem Achterdeck der "Möwe" trat die Mannschaft an.

Kapitänleutnant Schröder hielt eine kurze Ansprache: "Kameraden! die Kommandanten der englischen und amerikanischen Schiffe haben verlangt, Mannschaften landen zu dürfen zum Schutze ihrer Konsulate. Fremde Konsulate auf deutschem Boden stehen unter deutschem Schutz und bedürfen keines anderen. Unser Gouverneur hat das Ansinnen deshalb rundweg abgelehnt und erklärt den Versuch einer Landung mit Waffengewalt verhindern zu müssen. Da der "Wilmington" in See geht, scheint der Amerikaner seine Forderung zurückgezogen zu haben. Die beiden Engländer werden aber sicherlich Ernst machen. Kameraden! Wir lassen deutschen Boden nicht vom Feinde betreten, einen Boden, auf dem so viel deutsches Blut geflossen ist. Kameraden! Wird die Landung versucht, so sprechen unsere Geschütze. Kerls, ich wollte wir hätten hier ein anderes Schiff unter den Füßen. Wenn um 9 Uhr der erste Schuß fällt, so wird eine Viertelstunde später die "Möwe" aller Voraussicht nach nicht mehr existieren. Kameraden! Zeigen wir der Welt, wie deutsche Seeleute ihre Flagge zu verteidigen wissen. Noch nie hat ein deutsches Kriegsschiff die Flagge vor dem Feinde gestrichen, der letzte von uns nehme sie hinab mit ins dunkle Grab. Und nun Kameraden, fassen wir alles, was uns bewegt, in dem Rufe zusammen: Unser allergnädigster Kriegsherr, hurra, hurra, hurra!"

Das brausende Hurra fand am Lande ein tausendfaches Echo; die gepreßte Brust machte sich Luft in dem alten Kriegsruf.

5 Minuten vor 9 Uhr. Dr. Solf erscheint auf der Veranda des Gouvernementsgebäudes. Die Matrosenabteilung tritt an. Mit einem Ruck fliegen die Gewehre empor. Totenstille. Alle Nerven gespannt. Arme "Möwe". Einer zeigt nach dem westlichen Horizont, wo ein qualmiger Rauchstreifen über dem Wasser liegt. Wer spricht da plötzlich von Hilfe und Rettung? ... Baum, baum ... 9 Uhr.

Am Flaggenstock des englischen Konsulats fliegt eine Signalflagge empor bis dicht unter die Landesflagge. Die Entscheidung! Alle Augen suchen Dr. Solf, dessen eiserne Gesichtszüge keine Bewegung verraten. Jetzt nimmt er den Federhut ab, tritt an die Brüstung der Veranda und umklammert mit beiden Händen das Geländer, festen Auges aufs Meer blickend. Vom Bord der "Wallaroo" geht ein Boot zu Wasser, ebenso von der "Tauranga".

An allen Geschützen hinter den Panzerschilden und an den Maschinengewehren sieht man die Bedienung stehen. Jetzt legen sich die Bootsmannschaften in die Riemen. Ruckweise schießen die Boote vor, jetzt kommen sie aus dem Schatten der Schiffskörper, eine leichte Kurve, jetzt sind sie im offenen Wasser. Man glaubt fast den Rudertakt zu hören. Ruck ... Ruck ... Ruck ...

Aller Augen sind auf die "Möwe" gerichtet. An den dunklen Geschützrohren leuchten die weißen Anzüge der Matrosen. Ein schriller Pfiff, an der vorderen Revolverkanone erscheint eine blaue Wolke, einBlitz ... eine zweite Wolke, ein zweiter Blitz ... Platschend schlagen die Geschosse vor beiden Booten ins Wasser. Es ist, als ob sie zaudern. Nein, sie rudern weiter. Pratsch gehen die Ruder ins Wasser, pratsch ... pratsch ...

Wer hat angefangen? ... irgendwer. Das alte Sturmlied vom "Iltis".

Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot
von unseres Schiffes Mast.

Alle Häupter entblößen sich am offenen Grabe unserer blauen Jungen. Manch eine Träne rollt über wettergebräunte Wangen. Ein letzter Gruß von deutschem Mund ward ihnen das Flaggenlied.

... Am Heck der "Möwe" schäumt's auf. Dicht entquellen dem Schlote die Rauchwolken. Bis 20 sollten die Kanoniere zählen nach dem ersten scharfen Warnungsschuß ... zwanzig. Eine blaue Wolke hüllt die Revolverkanonen ein. Splitter und Holzscheite stieben empor an beiden Booten. Hoch spritzt das Meerwasser auf in Dutzenden von Fontänen. Einige Planken treiben auf dem Wasser, hie und da taucht ein Kopf, ein Arm auf. Das war alles, was man sah. Denn in dem Moment, da die Revolverkanonen der "Möwe" zu spielen beginnen, rast und tobt es draußen los, als ob die Hölle sich öffnete. In einem ungeheueren, grauweißen Rauchschleier verschwinden alle drei Schiffe. Rote und gelbe Blitze flammen auf. Dumpf hallende Schläge, heulendes Pfeifen, helles Zusammenkrachen von Eisenteilen, rollendes Kettenfeuer, donnernde Explosionen, die die Luft zerreißen und darüber das harte metallische Knattern der Maschinengewehre. Vereinzelte Geschosse schlagen am Lande ein, hier knickt ein Palmbaum, glatt abgeschnitten, in der Mitte zusammen, dort wirft eine berstende Granate gewaltige Erdmassen auf, ein Haus brennt. Im Hafen steigen an hundert Stellen zugleich springende Wassersäulen auf.

Nach 10 Minuten wird es stiller, hie und da noch ein Schuß, Hornsignale, heulende Sirenentöne, dann Hurragebrüll, das gemarterte Trommelfell vermag die plötzliche Stille kaum zu empfinden, und der Höllenlärm klingt noch stundenlang im Ohre nach. Die dichte Rauchwand sinkt in sich zusammen, die leichte Brise reißt große Stücken von ihr los.

Mastspitzen werden sichtbar, qualmende Schlote. Endlich zerteilt ein Windstoß den Rauch, der wie eine Nebelwolke fortgeschoben wird. Die Sonne bescheint eine Stätte wüster Vernichtung.

Die "Möwe" ist verschwunden. Nur die Masten ragen noch aus dem Wasser, am Großtopp weht noch weiß und stolz die Flagge des Reiches. Die brave Besatzung hatte, so weit sie nicht getötet war, in treuer Pflichterfüllung ein Grab in den Wellen gefunden. Nur einzelne hatten sich in die Toppen gerettet.

Ein Boot von der "Tauranga" ruderte auf das Wrack der "Möwe" zu, um die Überlebenden an Bord zu bringen.