Liao Yiwu
Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch
Geschichten aus der chinesischen Wirklichkeit
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
FISCHER E-Books
Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind von Eltern »ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis« in der großen Hungersnot der 60er Jahre auf. 1989 verfasste er das Gedicht ›Massaker‹, das in Windeseile Verbreitung fand, auch über die Grenzen Chinas hinaus. Hierfür wurde er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien auf Deutsch sein von Kritik und Publikum euphorisch begrüßtes Buch ›Fräulein Hallo und der Bauerkaiser – Chinas Gesellschaft von unten‹, das in China verboten ist. 2011, als ›Für ein Lied und hundert Lieder‹ in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seitdem lebt er in Berlin. 2012 erschien »Die Kugel und das Opium«. 2011 wurde ihm der Geschwister-Scholl-Preis verliehen, 2012 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: Andreas heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg
Coverabbildung: Tendance Floue / Agentur Focus
Erschienen bei FISCHER E-Books
© Liao Yiwu 2013
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402531-5
Liao Yiwu, Fräulein Hallo und der Bauernkaiser, übers. v. H. P. Hoffmann u. B. Höhenrieder, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2002.
Liao Yiwu, Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen, übers. v. H. P. Hoffmann, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2011.
Benzhu-Tempel, eigentlich Tempel der »örtlichen Schutzgottheiten«, sind eine Form der Verehrung, die es nur beim Volk der Bai gibt.
Die Reise in den Westen, einer der vier klassischen Romane von Wu Cheng’en (ca. 1500 bis ca. 1582, Ming-Dynastie), basiert auf der wahren Geschichte des Mönchs Xuanzang, der während der Tang-Dynastie in den Westen, nach Indien, reiste, um die heiligen Schriften des Buddhismus nach China zu holen. Der Roman ist mit vielen phantastischen und komischen Geschichten aus Volkssagen und Mythen verwoben und nicht zuletzt wegen der Komik seiner Figuren einer der beliebtesten klassischen Romane.
Zitat aus dem Daodejing Laozis, Kap.1, Übers. v. H. P. Hoffmann.
Zitat aus dem Daodejing Laozis, Kap.41 (die ersten beiden Teilsätze),
Kap.45 (der letzte Teilsatz), Übers. v. H. P. Hoffmann.
Die Zhengyi-Dao-Fraktion, wörtlich »Weg der orthodoxen Einheit«, ist eine daoistische Lehre, die sich während der Yuan-Dynastie (13.–14. Jhdt.) entwickelte.
Qiu Chuji (1148–1227), daoistischer Patriarch, großer Reisender, Gründer der Drachentor-Schule.
Die Acht Unsterblichen, Figuren aus der chinesischen Mythologie (Daoismus), die in der Not angerufen werden können; sie verkörpern menschliche und soziale Gegensätze und Hierarchien: Mann–Frau (Yin–Yang), jung–alt, arm–reich, Volk–Adel.
Der Titel »Himmlischer Lehrer Zhang« wird später von allen Patriarchen der Zhengyi-Dao-Lehre getragen.
»Gottspringen« oder auch »Sprung des großen Gottes« ist eine Form des »Austauschs« zwischen dem Bereich der Lebenden und der Toten. Für ihn sind zwei Personen notwendig, der erste (oder große) Gott und der zweite Gott; für die Gläubigen ist der erste Gott Gegenstand einer Präexistenz, der zweite sein Gehilfe. Bei dem »Sprung« dreht sich der erste Gott im Kreis, während der andere die Trommel schlägt. Der Gott wird mit bestimmten Melodien und Gebeten gerufen, wobei dem zweiten Gott die Aufgabe zukommt, als Sprachrohr die Antworten des Gottes auf die Fragen der Menschen zu kommunizieren. Gerufen werden Heilige und manchmal auch die Seelen von Verstorbenen.
Frühlings- und Herbstannalen, chin. Chunqiu : einer der fünf chinesischen Klassiker, Konfuzius zugeschrieben, offizielle Annalen des Staates Lu (Heimatstaat von Lu, heute Provinz Shandong) zwischen 722 und 481 vor unserer Zeitrechnung – ein Zeitraum, der oft nach den Annalen als »Chunqiu-Zeit« bezeichnet wird.
Baha’ulla: Religionsstifter (1817–1892). Die fünf bis acht Millionen Anhänger der Bahai-Sekte leben vor allem in Indien, Afrika, Süd- und Nordamerika, die Lehre zielt auf die mystische Einheit der drei großen Religionen Christen-Judentum, Buddhismus und Islam, die Ethik ist handlungsorientiert mit der Vision einer brüderlichen Verbindung der Menschheit.
Dakini oder »Himmelstänzerin« (Sanskrit): tantrische Figur aus Altindien und -iran, die die Seelen der Verstorbenen in den Himmel geleitet. Im Buddhismus Wesen der Inspiration und Ermutigung, die den Weg des Schülers kritisch begleitet.
Tshangyang Gyatsho (1682–1706), der Dichter unter den Herrschern Tibets, wegen seiner Sinnenfreude und Lebenslust zu Lebzeiten unter den Führern des Lamaismus umstritten.
Der Ausdruck bezieht sich auf die drei historischen Phasen oder Zeitalter, die es nach der buddhistischen Lehre gibt: Das erste Zeitalter des Richtigen Dharma () (1000/500 Jahre), das mittlere Zeitalter der Dharma-Ähnlichkeit () (1000/500 Jahre) und das Zeitalter des Niedergangs des Dharmas () (10000 Jahre).
Zhu Rongji (*1928), chin. Politiker, von 1998 bis 2003 Staatsratsvorsitzender der Volksrepublik China.
Hua Mulan, frühe Figur chinesischer Volkserzählungen, soll im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung als Mann verkleidet für ihren Vater in den Krieg gezogen sein.
110 ist auch in China die Rufnummer der Polizei.
In den Soaplands genannten Etablissements werden die männlichen Kunden von den Frauen gewaschen, dann legt er sich hin, die Frau seift sich ein und gleitet mit ihrem Körper auf dem des Mannes entlang, ein besonderer Service. Wenn der Kunde es wünscht, kommt es auch zu mehr. Die Ausdrücke »einweichen« und »einseifen« beziehen sich auf diese Form der Dienstleistung.
Der Name geht auf verschiedene alte Legenden aus Yunnan zurück. Eine davon besagt, dass nur zur Zeit der Herbsttagundnachtgleiche auf dem Yulong-Schneeberg (Jadedrachen-Schneeberg) auf einen Meter Sonnenschein fällt, und wer sich in diesem Sonnenschein umarmt, wird eine große Liebe erleben. Auch der Name einer 30-teiligen TV-Soap von 2003.
Die erste dieser Bewegungen wird oft im gleichen Atemzug genannt mit der zielgleichen 4.-Mai-Bewegung von 1919. Wichtigste Vertreter u.a. Hu Shi, Chen Duxiu und Lu Xun, Inhalte: Antitraditionalismus, Antikonfuzianismus, Abschaffung der klassischen Schriftsprache.
Bezeichnung für Jugendliche mit einer in der Regel einfachen bis höheren Schulausbildung, die zwischen den 50er und 70er Jahren freiwillig oder zwangsweise aufs Land gingen, um dort als Bauern zu arbeiten.
Ye Jianying (1897–1986), Revolutionär der KPCh, Politiker, Militär, führende Persönlichkeit bei der Gründung der VR China, später in verschiedenen Ämtern auf Staats- und Provinzebene tätig.
Kleine, einfachste Gasthäuser, in denen man sich aus Mangel an Decken mit Hühnerfedern wärmte, daher der Name.
Li Jieren (1891–1962), chinesischen Romanautor und Übersetzer aus dem Französischen.
Ai Wu (1904–1992), chinesischer Schriftsteller.
Ort im Westen der Stadt Nanyang in der Provinz Henan. Der Überlieferung nach soll hier zum Ende der Han-Dynastie der legendäre Staatsmann Zhuge Liang (181–241) in Klausur gelebt haben.
Anderer Name für Xuanzang, den legendären Mönch aus der Reise in den Westen.
Offizielle Sprachregelung für diese nach unumstrittener Ansicht von Forschern der Führung der KP Chinas und damit auch Mao Zedong anzulastenden Hungersnot ist: Dreijährige Naturkatastrophen – obwohl es nachgewiesenermaßen in diesen Jahren zu keinen außergewöhnlichen Naturkatastrophen in China gekommen ist. Während der Hungersnot starben nach unabhängigen Schätzungen 34–36 Millionen Menschen.
Siehe hierzu: Yang Jisheng, Grabstein – Mubei. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958–1962, übers. v. H. P. Hoffmann, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2012.
Satz aus dem Kapitel Shanmu des Zhuangzi (Wahres Buch vom Südlichen Blütenland), Übers. v. H. P. Hoffmann.
Zwei Schulen des Konfuzianismus, die sich auf verschiedene Textüberlieferungen berufen, die Neutext-Schule auf mündlich überlieferte Texte, die nach der Bücherverbrennung des Ersten Kaisers während der Früheren Han-Dynastie niedergeschrieben wurden; die Alttext-Schule beruft sich auf ältere Textfassungen, die zu Beginn der Han-Dynastie gefunden wurden. Der Legende nach soll eine Textfassung in der Mauer des ehemaligen Hauses von Konfuzius entdeckt worden sein.
Bezieht sich auf eine Geschichte aus dem Buch Liezi.
Lied von dem Texter Jiang Kairu (*1935) und dem Komponisten Wang Zuogui (*1949).
Voller Text des Liedes, siehe: http://baike.baidu.com/view/855724.htm
Auch der Titel eines der einflussreichsten und erfolgreichsten chinesischsprachigen, in Hongkong produzierten Filmes von 1980, englischer Titel: Shanghai Beach.
Diese Tänze wurden während der Kulturrevolutionen bei Kundgebungen auf Plätzen oder bei Demonstrationen zu bestimmten Melodien und Texten getanzt; dabei bedeutete das Hochstrecken beider Arme den Glauben an die Rote Sonne, ein schräger Schritt nach vorn die ewige Gefolgschaft für den Vorsitzenden Mao und das Ballen beider Fäuste den Willen, die Revolution zum Erfolg führen zu wollen.
Zeile aus einem Gedicht von Yuan Zhen (779–831).
Aus dem Gedicht »Gras« von Bo Juyi (772–846).
Bei diesem Namen handelt es sich um ein Wortspiel: das gleiche cao-ni-ma, nur mit anderen Schriftzeichen geschrieben, heißt: fick-deine-Mutter.
Deutscher Titel: Die Gelehrten oder Die inoffizielle Geschichte des Gelehrtenwalds, eine Satire von Wu Jingzi (1701–1754) über das Leben der Beamten und das kaiserliche Examenssystem im alten China.
Flächenmaß, ein Mu ist 1/15 Hektar.
Zhang Quan (*1968), chin. Sänger und Bandleader, beeinflusst von der westlichen Folkmusik.
Als »Zweiter Kanal« oder »Markt« wird der nichtstaatliche, nicht über die staatlichen Xinhua-Buchläden laufende Buchmarkt bezeichnet.
Schwarzbraune Pille aus der chinesischen Medizin u.a. zur Hitzereduktion, gegen Verstopfung und Blähungen, Schmerzen durch die Behandlung von Windhitze im Oberkörper, Schwindelgefühl und Kopfdehnung, Zahnfleischschwellung und -schmerzen, sauren Mund und Zunge, Schwellungen des Rachens, Ohrenschmerzen, Tinitus, dunklen Urin …
Yi Sha (*1966), chin. Dichter und Schriftsteller.
Tang Bohu oder Tang Yin (1470–1523), Maler, einer der Vier Meister der Ming-Dynastie.
Das exzentrische Leben von Tang Yin hat ihn zu einer volkstümlich-populären Figur gemacht, dem nicht zuletzt auch entsprechende amouröse Abenteuer zugeschrieben werden. In einer solchen Geschichte verliebt er sich in ein junges Sklavenmädchen, verkauft sich selbst, um ihr nah zu sein, als Sklave in den Haushalt, in dem sie dient, von wo es ihm am Ende gelingt, sie mit Hilfe von Freunden zu befreien. Die Geschichte diente später als Grundlage für ein Theaterstück und eine Oper.
Von der offiziellen Kritik geprägter Begriff für eine Generation von chinesischen Lyrikern, die seit Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf sich aufmerksam macht, indem sie die literarische Doktrin der KPCh aufbricht, allgemein gesagt, eine neue, von der Propaganda unverbrauchte Sprache sucht und dabei mit Mitteln des Modernismus zu einem neuen subjektiven und emotionalen Ausdruck findet. Wichtigste auch im Westen bekannte Vertreter u.a. Gu Cheng, Duo Duo, Bei Dao u.a.
Chiung Yao (*1938 in Sichuan), Pseudonym einer heute in Taiwan lebenden Romanautorin, deren romantische Werke seit Jahrzehnten immer wieder verfilmt werden.
Xi Juan (Wu Zhenying, *1972), taiwanische Romanautorin.
Huang-Ai Dongxi, Romanautorin der jüngeren Generation aus Taiwan, eines der »vier großen weiblichen Talente«.
Princess Pearl, in Singapur und auf den Philippinen auch bekannt als My Fair Princess, Fernsehserie in chinesischer Sprache, die auf einer Romanreihe der taiwanischen Autorin Chiung Yao beruht.
Sylvia Plath (1932–1963), amerikanische Lyrikerin und Schriftstellerin.
Henry Norman Bethune (1890–1939), in China bis heute verehrter kanadischer Arzt, der 1938–39 während des antijapanischen Widerstands auf Seiten der Kommunisten gearbeitet hat und dabei an einer Blutvergiftung starb.
Lei Feng (1940–1962), Soldat der Volksbefreiungsarmee, von Mao Zedong 1963 posthum zu einem nationalen Vorbild für revolutionäre Gesinnung, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft vor allem für die Jugend in der Kampagne »Lernen vom Genossen Lei Feng« stilisiert. Im Rahmen der neueren Kampagne für eine, auch hier in den Interviews immer wieder angesprochene »harmonische Gesellschaft« oder »soziale Harmonie« reaktiviert.
1984 gegründete Lyrikgruppe; wichtigste Mitglieder u.a. Wan Xia, Li Yawei, Ma Song und Hu Dong.
Cui Jian (*1961), chinesischer Rockmusiker, besonders erfolgreich in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Eine ähnliche Vorstellung gibt es im daoistischen Denken, der zufolge die »Alten«, also die wahren, von der Kultur noch nicht verdorbenen Menschen
der Vorzeit, aus den Füßen heraus atmeten. So heißt es im Zhuangzi, Kap.6/1: »Der wahre Mensch atmet aus der Ferse heraus, die vielen atmen mit der Kehle.«
Yan’an, Gebiet im Norden der Provinz Shaanxi, an der Grenze zur Inneren Mongolei, 1935 Ziel des Langen Marsches der chinesischen Kommunisten und bis nach der Gründung der VR China Basis der Führung der KPCh.
Xie Mian (*1932), u.a. Professor für Literatur an der Universität Beijing, bekannt geworden durch seine mutige Unterstützung der Obskuren Lyriker Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Wen Tianxiang (1236–1283), General und Gelehrter, Opponent von Kublai Khan bei dessen Annexion von Song-China; als Song-Loyalist, der sich den Mongolen nicht unterworfen hat, Symbol für Patriotismus und Loyalität.
Sechsunddreißig Strategeme, dem chin. General Tan Daoji (*4. Jahrhundert–436) zugeschriebene Sammlung von Strategemen, in China Schullektüre.
Chen Sheng und Wu Guang (beide gest. 208 v. unserer Zeitrechnung), Anführer der ersten Rebellion gegen den Ersten Kaiser von China.
Die Befragung des Buches der Wandlungen funktioniert über das Werfen von Schafgarbe-Stengeln. Je nachdem, wie sie liegen, kann das entsprechende Hexagramm mit den dazugehörigen Erläuterungen herausgesucht werden.
Im Rahmen der »Dritten Front«, einem massiven Industrieaufbau Anfang der 60er Jahre vor allem im Südwesten von China wurden auch Firmen in der Umgebung und in Chengdu selbst aufgebaut, deren Löhne weit über dem Durchschnitt lagen; aus Geheimhaltungsgründen sind diese Firmen nur als Briefkasten in Erscheinung getreten – waren also keine Scheinfirmen, wie westliche Briefkastenfirmen, sondern Schein-Scheinfirmen, wenn man so will.
119 ist die Rufnummer der Feuerwehr.
Mit dem »Dreifachen Vertreten« ist gemeint, dass die Kommunistische Partei Chinas 1. die Erfordernisse der Entwicklung fortschrittlicher Produktivkräfte,
2. die Richtung des Vorwärtsschreitens einer fortschrittlichen Kultur Chinas und
3. die grundlegenden Interessen der überwältigenden Mehrheit des chinesischen Volkes in China vertreten soll.
Giorgos Seferis (1900–1971), griechischer Schriftsteller und Diplomat, Literatur-Nobelpreis 1963.
Sun Jingxuan (1930–2003), chin. Dichter und Herausgeber von Zeitschriften.
Hua Tuo (gest. 208), berühmter chinesischer Arzt.
Hu Wanlin (*1949), Bettler, Sträfling, von vielen verehrter Wunderheiler und wieder Sträfling, im Jahr 2000 zu 15 Jahren Haft verurteilt wegen Amtsanmaßung mit Todesfolge.
Spezielles, gutes »Blatt« beim Mah-Jongg.
Ebenso.
Das Lunyu, die Gespräche des Konfuzius, Lehrgespräche des Konfuzius, einer der wichtigsten Klassiker der konfuzianischen Literatur.
Lunyu, Kapitel 12/1. Übers. v. H. P. Hoffmann.
Shi Kuang (»Musikmeister Kuang«), berühmter Musiker des chinesischen Altertums, Zhou-Dynastie, 6. Jh. v. unserer Zeitrechnung,
Annalen der Ost-Zhou, umfassen den Zeitraum von 789 bis 221 vor unserer Zeitrechnung.
Berühmtes Lied, das Jing Ke, der legendäre, aber erfolglose Attentäter auf den Ersten Kaiser von China gesungen haben soll, als er den Fluss Yi überschritt, sich von den Seinen verabschiedete und an den Hof des Kaisers begab.
Mawangdui, 1972 entdeckter, spektakulärer Fundort von Gräbern der Han-Dynastie in der alten Stadt Changsha.
Dieses Lied gehört zu einem der zehn klassischen alten Lieder Chinas.
Yu Boya ist ein berühmter Meister aus der Frühlings- und Herbstperiode oder der Zeit der Kämpfenden Reiche. Er wird mit dem berühmten Lied »Hohe Berge, Bäche fließen« in Zusammenhang gebracht.
Dantian oder Elexierfeld, nach dem chinesischen Qigong der Ort, an dem der Körper Energie sammelt, etwa in der Gegend des Sonnengeflechts unterhalb des Nabels.
Xi Kang oder Ji Kang (223–262), Philosoph, Dichter und Musiker zur Zeit der Drei Reiche, Verfasser von Texten zur Qin, zur Musik, zur Lebensverlängerung etc.
Protestbewegung von 1911 gegen die Pläne der späten Qing-Regierung, den Bau der Eisenbahn der Regierung zu unterstellen und die Kontrolle ausländischen Banken zu überantworten.
Eine TV-Serie von ABC, 1967/68.
Häufiger Ausdruck für Leute aus Sichuan, Herkunft nicht eindeutig geklärt. Eine Erklärung lautet, dass der alte Ausdruck für »Sichuan« sich genauso spricht wie der Ausdruck für »Ratte/Maus«
Westlicher Name »Berberin«, ein Alkaloid, das u.a. in dem Namen »Berberitze« vorkommt.
Weil Mandarinentenpaare ein Leben lang zusammenbleiben, sind sie in China Symbol und Vorbild für Ehepaare.
Romanfigur, die in den Räubern vom Liang-schan-Moor wie auch im Jin Ping Mei auftritt.
Pan Jinlian, Frau Wu Dalangs im Jin Ping Mei.
Romanfigur, die in den Räubern vom Liang-schan-Moor wie auch im Jin Ping Mei auftritt.
Qiao Dan ist eine chinesische Sportartikelfirma, die unberechtigterweise mit dem Namen des amerikanischen Baseballstars Michael Jordan Reklame gemacht hat und dafür eine hohe Geldstrafe bezahlen musste.
Ich bin am 19. Tag des sechsten Monats nach dem chinesischen Bauernkalender geboren. Nach dem, was die alten Leute sagen, ist das der Tag, an dem Boddhisattva Guanyin, die Retterin aus Kummer und Not, die Erleuchtung erlangt hat. Ein großer Tag. Doch direkt darauf folgte die fürchterliche Hungersnot von 1959 bis 1962, und landesweit verhungerten zig Millionen Menschen. Mein längst verstorbener Vater hat mir einmal erzählt, mit gut einem Jahr sei mein Körper voller Ödeme und mein kleines Glied ganz durchsichtig gewesen, selbst zum Weinen hätte mir die Kraft gefehlt. Zum Glück habe ein alter Arzt der chinesischen Medizin am Niushikou in Chengdu mich von der Schwelle des Todes zurückgeholt und mir mein kleines Leben gerettet. Mein Vater erzählte weiter, durch die Behandlung des alten Arztes seien zuerst die Geschwüre weggegangen und anschließend habe er für ergänzende Nahrung gesorgt. Schließlich habe man mich über mehrere Monate hinweg jeden Morgen und jeden Abend über einen Eisentopf gehalten, in dem alle möglichen Kräuter köchelten, und mir das gelbe Wasser, wie das die chinesische Medizin nennt, Tropfen für Tropfen aus dem Körper gepresst.
Auf diese Weise wurde der Hunger mein erster Lehrmeister, er hat mich meine ganze Kindheit über verfolgt; und obwohl er meine Entwicklung nachhaltig beeinflusste, ich in allem hinterher war und noch mit vier Jahren Schwierigkeiten mit dem Laufen hatte, so hat er doch meinen Geschmack geschärft und schlussendlich die Art und Weise meines Schreibens bestimmt.
Ich war gerade in die Volksschule gekommen, als die Kulturrevolution ausbrach und die Familie auseinandergerissen wurde. Meine Mutter ist mit mir und meiner kleinen Schwester aus Yanting, einer Kleinstadt im Norden von Sichuan, auf eigene Faust nach Chengdu gezogen, wo sie bei einer jüngeren Schwester ihrer Mutter, der Frau eines ehemaligen Bürokraten der Guomindang, unterkam. Darauf folgten unzählige weitere Umzüge und unzählige Überprüfungen – ich erinnere mich, ich war neun Jahre alt, als meine Mutter mitten in der Nacht als angeblich flüchtige Grundbesitzerin zur Polizeistation vor Ort gebracht und verhört wurde. Von da an waren mir diese typisch chinesischen Bezeichnungen »Schwarzwohner« und »Schwarzer Haushalt« in die Seele gebrannt, sie wurden mein zweiter Lehrmeister. Noch viele Jahre später stand ich unter der Kuratel dieses strengen »Zuchtmeisters«. Um die Schande, mit der ich geboren war, abzuwaschen und auch, um diesen Lehrer-Schüler-Komplex, in dem sich alle möglichen Gefühle der verschiedensten Lebensabschnitte vermischten, in Ordnung zu bringen, habe ich mich freiwillig noch viel tiefer sinken lassen und bin noch mit einer Vielzahl von »Schwarzwohnern aus Schwarzen Haushalten« in Kontakt gekommen – die Intelligenz unseres Landes definierte sie oder uns als die »schweigende Mehrheit«.
Ich ernannte mich selbst zum »Aufnahmegerät der Epoche«, schrieb die »Gespräche vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft«[1] und traf damit den Nerv des offiziellen China. Sie kamen gar nicht auf die Idee, den besonderen Hintergrund des Autors als eines »Schwarzwohners aus einem Schwarzen Haushalt« in Rechnung zu stellen, auch wenn ich bereits öffentlich bekannt hatte: Dieses Buch ist ein Buch voller Narben und »ohne jede Scham«. Bei all dem Blut, all dem Leid und all der Schande können Leute wie wir nur überleben, wenn wir jede Scham fallen lassen. Nur so, in der Geschäftigkeit von Kakerlaken, können wir ein normales Leben führen.
Mein dritter Lehrmeister war die Obdachlosigkeit. Unter dem Ansturm der Kulturrevolution wurde meine Familie in alle Himmelsrichtungen zerstreut, ich selbst verkam zu einem Penner, sprang auf Wagen auf, aß, ohne zu zahlen und ohne zu arbeiten, lebte von Kinderarbeit, fälschte Reisepapiere und Behördenstempel, trieb mich auf den Fernstraßen in den Bergen herum, hauste in den Strohhütten von Verwandten, die in ihren Bauerndörfern in bitterster Armut lebten – das Einzige, was ich zum Glück nicht machte, war betteln und stehlen. Da ich meine Zeit mit Nichtstun verbrachte, bin ich nach dem Ende der Kulturrevolution viermal durch die Aufnahmeprüfung für die Universität gefallen. Beim fünften Mal kam ich auf Empfehlung des offiziellen Schriftstellerverbandes ohne Prüfung in die Schreibklasse der Universität Wuhan, doch weil ich mir in jungen Jahren auf meinen Wanderschaften schlechte Angewohnheiten zugelegt hatte, bin ich ständig angeeckt und schließlich von der Schule geflogen – der Stimulus dieser unablässigen »Erziehung im Ausnahmezustand« hatte in mir eine Dichternatur reifen lassen, die etwas von einem streunenden Köter hatte. Während der gesamten 80er Jahre, also während der gesamten Zeit meiner Jugend, habe ich mich im Land herumgetrieben, so wie die modernen Literaten im Westen eine Generation zuvor, ich habe Gedichte geschrieben, Lesungen veranstaltet, mich herumgeprügelt und inoffizielle Publikationen herausgebracht. Dies alles hat auf verschiedenste Weise meinem späteren Leben und Schreiben seinen Stempel aufgedrückt.
Parallel zur Nacht des großen Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens las ich dann das Gedicht »Massaker«, und wie ich in diesem Gedicht ausrief: Chinesen haben kein Haus. Unser Haus ist eine warme Sehnsucht. In diesem Wunsch lasst uns sterben! und mich so gegen die absolute innere wie äußere »Obdachlosigkeit«, die mein dritter Lehrmeister mir aufzwang, auflehnte, zeigte mein vierter Lehrmeister, das Gefängnis, zur rechten Zeit sein blutiges Eisengesicht. Der Ort, an dem ich verhaftet wurde, nannte sich »Rindhornbucht«. Der Staat hatte an den Enden dieser Bucht zuvor zehn bis zwanzig Polizisten in den Hinterhalt platziert, wackere Bullen; aus dem Ganzen hätte man einen Lehrfilm machen können über Einkreisung und Unschädlichmachung von Topkillern. Die großartige Aktion zur Aufnahme eines neuen Schülers des Lehrmeisters Gefängnis übertraf alle meine Erwartungen. Es folgte eine Leibesvisitation, und ich war noch nicht wieder zu mir gekommen, als ich, dieser schlechte, mit literarischen Ambitionen vollgestopfte Student, auch schon auf dem Flur des Untersuchungsgefängnisses zu Boden gedrückt und bis auf die Haut ausgezogen wurde. Der Leser mag nun meinen, ich hätte mir das in Klippschulen übliche Education-Board eingehandelt – dem war nicht so, man fuhr mir mit Essstäbchen im Anus herum und suchte da drin nach etwas, was da nicht hineingehörte.
Was daraufhin geschah, steht in meinem Buch Für ein Lied und hundert Lieder[2]. Um mich meinem vierten Lehrmeister nachhaltig dankbar zu zeigen, der den Dichter in mir zum Zeugen komprimierte, werde ich in alle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses mein »neues Leben« nicht mehr vergessen. Ich bin dem Gefängnis dankbar, es hat mich von morgens bis abends mit so vielen verschiedenen Menschen zusammengesteckt, mit zum Tode Verurteilten, mit Konterrevolutionären, mit Menschenhändlern, mit einem Bauernkaiser, mit großen Räubern und Schwindlern – es sei, so der Rechtsabweichler und Dichter Liu Shahe, eine besondere Fügung, dass die Richtung meines Schreibens auf diese Weise von Grund auf umgekehrt worden sei.
Das Gefängnis war mein letzter Lehrmeister, und obwohl schon viele Jahre seit meiner Entlassung vergangen sind, lebe ich immer noch in einem großen unsichtbaren Gefängnis. In meinen Träumen bin ich immer auf der Flucht, wenn ich aufwache, habe ich Krämpfe. In meinen Träumen schreie ich: Ich will nicht Chinese sein!, aber ich muss doch in diesem Bett schlafen, und das Bett steht in China. Ich bin versessen darauf, anderen gute Ratschläge zu geben und Pläne für ihren illegalen Grenzübertritt zu spinnen, ich selbst aber sitze immer nur da und schwelge in dem Gefühl, ein »ideologischer Verbrecher« zu sein. Die Unbezähmbarkeit meiner Gedanken, die Unbezähmbarkeit meiner Füße und die unausweichlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei haben mir zwei Scheidungen und über zehn Ablehnungen von Ausreiseanträgen eingebracht. Ob mein Vaterland aus übergroßer Liebe so besorgt ist, der streunende Köter könnte nicht wiederkommen, wenn er erst einmal weg ist? Oder sollten die Beamten der Sondereinheit, die mich seinerzeit verhaftet haben, auf einmal für Ein- und Ausreise zuständig sein und tiefere Anhänglichkeiten für ihre ehemaligen Häftlinge empfinden? Ich bin mir da nicht sicher. Ich habe nur das Schreiben, und neben dem Schreiben wieder nur das Schreiben. Wenn ich nicht schreibe, ist mein Leben leer, öde, oberflächlich, ohne Erinnerung und kommt einem langsamen Selbstmord nah; und das Schreiben ist Mühsal, eine endlose Mühsal.
Wieder sind ein paar Jahre im Flug vergangen, die Geschichten vom Bodensatz der Gesellschaft sind eine nach der anderen fertig geworden oder werden gerade fertig. Immer wieder sage ich mir: Hör auf! Willst du kein Zuhause? Selbst ein verdammter streunender Köter hat einen Platz, wo er hingehört. Aber das ist das Leben; dieser Kraft, die einen vorantreibt, dieser von oben kommenden, unsichtbaren Kraft kann man nicht entkommen.
Doch in diesem Augenblick legen sich mir all die Freunde und Feinde, die meinen Werdegang begleitet haben, um die Schultern wie das Licht einer Wintersonne.
Ich danke meinem ersten Lehrmeister, dem Hunger – auch wenn es mir heute an nichts fehlt, ist mit dem Fortschreiten der Zeit meine Sorge um die Welt tiefer geworden, und der Hunger nach Freiheit brennt heftiger als jeder Hunger des Körpers.
Ich danke meinem zweiten Lehrmeister, dem Schwarzwohnen – als »Schwarzwohner« war ich über 20 Jahre von den Behausungen der Menschen abgeschnitten und habe in meinen eigenen vier Wänden oft genug meine »vorläufige Aufenthaltsgenehmigung« vorzeigen müssen. Dieses ohnmächtige Gefühl der Erniedrigung ist immer wieder der Nährboden für mein Schreiben gewesen und hat mich dem Gefühl nach und in Wirklichkeit mit den Massen auf dem Bodensatz der chinesischen Gesellschaft auf die gleiche Stufe gestellt.
Ich danke meinem dritten Lehrmeister, der Obdachlosigkeit – wieder sind ein paar Jahre vorübergerauscht, in denen ich kein festes Dach über dem Kopf hatte, monatelang nicht aus den Kleidern gekommen bin, vor allem nicht aus den Socken, ich durfte die Schuhe gar nicht mehr ausziehen, hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Alter noch mit den Jungen auf der Piste sein würde. Aber auch das ist das Leben – waren denn die alten Grundbesitzer, zu denen ich für ein Interview über Berge und Täler gewandert bin und die viel stärker waren als ich und ein Leben lang nicht aus ihren Bergnestern herausgekommen sind, nicht genauso ausgebeutet und schlechter behandelt worden als Schweine und Hunde?
Und ich danke meinem vierten, letzten Lehrmeister, dem Gefängnis – nach einem halben Leben in der Umerziehung tue ich längst, was die Umerziehungsorgane verlangten, ich habe mich vollständig umgekrempelt und bin von Grund auf ein neuer Mensch geworden. Um mich diesem Lehrmeister erkenntlich zu zeigen, habe ich als nunmehr »berühmter Bauchladenschriftsteller«, der der Polizei eine Menge Kopfzerbrechen bereitet, mit übermenschlicher Energie gut 300 »Unterdrückte« ausfindig gemacht und mit ihnen ein China dokumentiert, das sonst für immer im Dunkeln geblieben wäre.
Am Nachmittag des 13. April 2010 schlendere ich durch den Yu’er-Park in der Altstadt von Dali, wo ich meinem alten Freund Diao Bu’er, den ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe, in die Arme laufe. Ich bin ziemlich überrascht.
Wir verbeugen uns, setzen uns hin und erzählen einander, wie es uns so ergangen ist. Meinen guten Diao Bu’er mit seiner miesen Visage hat der Weg des Glaubens durch alle Höhen und Tiefen geführt. Nach dem ganzen Begrüßungshallo fällt mir ein, dass seine beiden Eltern Professoren waren. Die kultivierten Kreise, in denen sie lebten, haben ihn von klein auf geprägt, Mitte der 90er Jahre hat er die Universität abgeschlossen und die ihm zugewiesene Arbeit bei der Redaktion eines Zeitungsverlags in Chengdu angetreten; im Handumdrehen war er frisch verheiratet und eigentlich am Ziel seiner Wünsche, als er das Foto einer Falun-Gong-Übung mit dem einer normalen Qigong-Übung verwechselte: Es prangte an der linken Ecke der Unterhaltungsseite, übte einen »schlechten gesellschaftlichen Einfluss« aus und brachte ihm natürlich die Suspendierung und eine Untersuchung ein.
Auf dem Tiefpunkt seines Lebens lernte er mich kennen, seinen »reaktionären Saufkumpan«. In dem Sommer damals hat er oft mitten in der Nacht vor den sieben Stockwerken gestanden und mit seiner scheppernden Stimme, die klang wie ein kaputter Gong, geschrien: »Lass uns was essen und trinken gehen!«, was regelmäßig erschrockene Nachbarn auf den Plan rief: »Müsst ihr hier rumgeistern?«
Doch eines Tages stand in aller Herrgottsfrühe nicht er, sondern seine Frau vor dem Haus und erzählte, Diao Bu’er sei nicht nach Hause gekommen, ob ich eine Ahnung hätte, wo er geblieben sei? Ich hatte die Augen noch nicht richtig auf, konnte keinen klaren Gedanken fassen und schlafwandelte noch. Und dann sagt mir viele Jahre später derselbe Diao Bu’er im brandenden Sonnenlicht von Yunnan, er schlafwandle noch immer. Die hastigen Gäste auf dieser Welt seien alle Schlafwandler.
Er war so durcheinander, dass er eine Religion nach der anderen hinter sich ließ, ohne sich wirklich vom Glauben trennen zu können.