Fiona Lorenz

Wozu brauche ich einen Gott?

Gespräche mit Abtrünnigen und Ungläubigen

Mit Illustrationen von Ralf König

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung – Weltanschauung in Deutschland

Warum dieses Buch?

Konfessionslos im Münsterland – ein Erfahrungsbericht

Marion Wirth, Nachhilfelehrerin, verheiratet, zwei Söhne

«Ich genieße den Anblick eines Regenbogens noch genauso wie in der Zeit, bevor ich von der Lichtbrechung erfuhr.»

Tobias Fromme, 28, Doktorand der Biologie, ledig

«Meiner Meinung nach sollten die Menschen ihre Gläubigkeit umwandeln in Naturbewusstsein, in Umweltbewusstsein, in Wertschätzung des Lebensraums.»

Nina Vorbrodt, 36, Schauspielerin, Köln, verheiratet, ein Kind

«Für mich persönlich ist das Leben ohne Religion und Glaube nicht ärmer, sondern erheblich reicher geworden.»

Hans-Georg Rüter, 53, Schulleiter, Horn-Bad Meinberg, verheiratet, drei Kinder

«Sehr religiöse Menschen führen oft ein Leben, das fremdbestimmt zu sein scheint.»

Anonyma, 46, freie Journalistin, verheiratet, zwei Kinder

«Ich habe kein einziges unlösbares Problem.»

Janosch alias Horst Eckert, 76, Illustrator, Kinderbuchautor und Schriftsteller, Teneriffa, ledig

«Fast unmerklich war mir mein früherer Glaube durch die Finger geglitten.»

Irene Nickel, 57, Hausfrau, Braunschweig, verheiratet, zwei Söhne

«In der Welt braucht man die Freiheit nicht zu suchen. Die Freiheit kann man nur bei sich selbst finden.»

Pierre Wallendorf, 49, erwerbslos, Luxemburg, ledig

«Ich sehe mich als atheistische Aktivistin.»

Ruth Hofbauer, 75 Jahre, Wiesbaden, geschieden

«Ich habe mehr persönliche Freiheit, da ich mich nicht mehr vor einem imaginären Wesen für mein Handeln verantworten muss.»

Jonas Fünfgeld, 19, Abiturient, Tettnang

«Ich habe wohl einfach mal das Licht im Dunkeln angemacht – annähernd wusste ich, dass die Kirche nur im Dunkeln leuchtet.»

Luca Blumenthal, 16, Gymnasiast, Duisburg

«In meinem bisherigen Leben habe ich noch nicht fünf Minuten lang an einen persönlichen Gott geglaubt.»

Esther Vilar, 73, Schriftstellerin, Österreich

«Ich trat aus dem Chor aus, weil ich diese kirchlichen Lieder nicht mehr singen konnte. Sie blieben mir im Hals stecken.»

Beate, 39, Informatikerin, Berlin, verheiratet, zwei Kinder

«Es war damals sehr schmerzhaft für mich, erleben zu müssen, wie meine Lebensgrundlage in Stücke zerbrach.»

Christian G. Langenbach, 39, Trauerredner, ledig

«Man erntet meistens Ablehnung bis Hass.»

Michael Heckert, 55 Jahre, Künstler, Köln/Bonn

«Ich habe ein zutiefst zufriedenes Gefühl im Bauch, dass die Welt, wie sie ist, gut ist ...»

Ralf König, 48, Comiczeichner und Autor, Köln, schwul

«Ich werde morgen geweiht. Morgen um neun Uhr.»

Philipp, 14 Jahre, Schüler und Jugendweihling, Dresden

«Ich bin davon überzeugt, dass Religion etwas Schlechtes ist für die Menschen, unabhängig davon, ob sie das selber so sehen oder nicht.»

Assunta Tammelleo, 45, Unternehmerin und Handelsrichterin, Bayern, drei Kinder

«Religion ist überflüssig wie ein Kropf. Oder ein Krebsgeschwür.»

Anonymus, Mitte 30, Jurist, Allgäu, verheiratet

«In den letzten Jahren beschäftigte mich einfach die Frage, warum gebildete, gelehrte und aufgeklärte Menschen im 20. Jahrhundert glauben und Widersprüche ausklammern oder ignorieren.»

Mario Gesiarz, 52, Gewerkschaftsangestellter, Frankfurt/Main, verheiratet, ein Kind

«Anderen mitgeben möchte ich, das Leben zu lieben!»

Max Kruse, 86, Kinderbuchautor, Urmel-Schöpfer und Kulturkritiker, Penzberg in Oberbayern, verheiratet

«Wenn Religion sich in unser Leben einmischt, in unsere Betten und Schlafzimmer, in unseren Geist ... Alles wird durch diesen Schatten irgendwie schwarz.»

Mina Ahadi, 50, weltweit aktivste Kämpferin gegen Steinigung, Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, Autorin, Köln, verheiratet, zwei Töchter

Fazit

Woran glaubt, wer nicht glaubt?

Anhang

Quellennachweise

Leitfaden

Literatur

Danksagung

Vorwort

«Haben Sie in Ihrer Kindheit schlechte Erfahrungen mit der Kirche gemacht?» Ich weiß nicht, wie oft mir diese Frage in den letzten Jahren von Journalisten gestellt worden ist. Offensichtlich glauben viele, die beste Voraussetzung für einen Religionskritiker sei es, als Kind von einem Priester unsittlich berührt worden zu sein, mindestens aber eine schallende Ohrfeige während des Kommunionsunterrichts erhalten zu haben.

Einige Interviewer waren arg enttäuscht darüber, dass ich weder mit dem einen noch mit dem anderen aufwarten konnte. Doch es ist nun einmal so, dass mir kein Kirchenvertreter je irgendetwas getan hat. Die meisten, denen ich in meinem Leben begegnete, wirkten auf mich sogar durchaus sympathisch. Persönlich habe ich also gar keinen Grund, über die Kirche zu klagen. Und so lag es auch nicht an dem vielgescholtenen «Bodenpersonal» der Kirche, sondern vielmehr an den grotesken Geschichten, die über die vermeintliche «Chefetage» verbreitet wurden, dass ich mich als Jugendlicher mehr und mehr von meinem Kinderglauben abwandte.

Das Problem war, dass die christliche Doktrin schlichtweg unverträglich war mit den wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen, mit denen ich mich auseinandersetzte. Mein Verstand rebellierte schon bei der Lektüre der ersten Bibelseite. Denn die Ergebnisse der Evolutionsbiologie führten den Schöpfungsglauben ad absurdum. Wie auch sollte man sich erklären, dass ein angeblich allwissender Gott zunächst a) eine ungeheure Vielfalt von Dinosauriern erschuf, später b) einen riesigen Felsbrocken auf deren Heimatplaneten einschlagen ließ, damit c) die Dinosaurier wieder aussterben, um so d) Platz zu schaffen für die vermeintliche Krönung der Schöpfung, Homo sapiens? Ein Gott, der eine solche Arbeitsweise an den Tag legte, wäre kein «intelligenter Designer», sondern ein Musterbeispiel für Konzeptlosigkeit: «Keine noch so chaotische Grafikagentur», schrieb ich später, «kein Fahrzeughersteller, keine Modefirma, kein Mensch, der halbwegs bei Verstand ist, würde einen Designer mit einer derart verheerenden Kosten-Nutzen-Bilanz einstellen!»

Dass etwas an den christlichen Glaubensvorstellungen nicht stimmen konnte, spürte ich schon als 13-Jähriger. Doch ich wollte es genau wissen. Also kämpfte ich mich nicht nur durch die Bibel, sondern auch durch zahlreiche andere philosophische, theologische und wissenschaftliche Texte hindurch. Mit 16 Jahren hatte ich den Loslösungsprozess weitgehend abgeschlossen. Dabei empfand ich den «Verlust des Glaubens» keineswegs als schmerzlich. Es war einfach nur logisch: Je mehr ich nachdachte, desto weniger konnte ich nachbeten. Irgendwann war mir klar, dass ich keinen Gott brauchte, um Halt im Leben zu finden. Ich machte mir lieber selber meinen Reim. Und wenn ich damit einmal nicht weiterkam, fand ich es klüger, bei Einstein, Marx, Darwin, Nietzsche, Freud oder Fromm Rat zu suchen als bei Moses, Jesus oder Mohammed.

Möglicherweise wäre es bei diesem undramatischen Abschied von der Religion geblieben, wenn ich nicht zufällig einen Vortrag von Karlheinz Deschner gehört hätte. Im Zuge der Beschäftigung mit der «Kriminalgeschichte des Christentums» wurde mir immer stärker bewusst, dass religiöse Dogmen eben nicht nur absurd sind, sondern auch gefährlich. Denn mit dem «Jenseits» lässt sich nicht nur «jede Lüge im Diesseits» rechtfertigen, wie Nietzsche schrieb, sondern auch jede nur erdenkliche Form von Gewalt. So erwachte in mir ein neues Interesse an Religion bzw. Religionskritik, zumal sich Anfang der 90er Jahre abzeichnete, dass sich die Aufklärer in einer Hinsicht gehörig verschätzt hatten: Die Religionen machten nämlich gar keine Anstalten, «vernünftiger» zu werden oder gar «abzusterben», wie man im Zuge der sogenannten Säkularisierungsthese vermutet hatte. Im Gegenteil! Je aufgeklärter sich eine Glaubensgemeinschaft gab, desto eher verlor sie Mitglieder, während fundamentalistische Gruppierungen immer mehr an Einfluss gewannen – nicht nur im Islam. Dieser Trend ist bis heute ungebrochen, und die Gefahren, die daraus erwachsen, darf man nicht unterschätzen. Andererseits sollte man nicht übersehen, dass es auch einen Gegentrend gibt: Nicht nur die Zahl der Fundamentalisten steigt kontinuierlich an, sondern auch die Zahl der religionsfreien Menschen. Von ihnen, ihren Lebenswegen und Überzeugungen handelt das vorliegende Buch.

Wenn ich die hier versammelten Gespräche mit Ungläubigen und Abtrünnigen lese, entdecke ich viele Gemeinsamkeiten mit meiner eigenen Biographie, etwa den großen Einfluss, der von bestimmten religionskritischen Autoren ausging. Es gibt jedoch auch Unterschiede. So war «Gott» für einige Gesprächspartner offensichtlich nie ein Thema, während ich bei meiner «Ersten Heiligen Kommunion» noch lammfromm glaubte, tatsächlich und wahrhaftig den «Leib des Herrn» zu verspeisen (glücklicherweise war ich zu diesem Zeitpunkt noch kein Vegetarier!). Für andere wiederum bedeutete die Befreiung aus religiöser Umklammerung einen schmerzhaften Prozess über Jahrzehnte hinweg. Es ist eine der Stärken des Buchs von Fiona Lorenz, dass es zeigt, wie unterschiedlich die Wege sind, die Menschen zum freien Denken führen.

In Deutschland gibt es mittlerweile mehr Konfessionsfreie als Katholiken oder Protestanten. Es ist an der Zeit, dass dieses konfessionsfreie Drittel der Gesellschaft politisch wie medial stärker wahrgenommen wird. Vielleicht kann dieses Buch hierzu einen Beitrag leisten. Zu hoffen ist auch, dass einige Journalisten den Band nutzen werden, um tradierte Denkklischees zu hinterfragen. Denn eines ist gewiss: Um sich von der Religion abzuwenden, bedarf es keiner Übergriffe pädophiler Priester – ein gesunder Menschenverstand reicht völlig aus 

Michael Schmidt-Salomon

Einleitung – Weltanschauung in Deutschland

Am 20. April 2005, dem Tag nach der Wahl von Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst Benedikt XVI., titelte die Bildzeitung: «Wir sind Papst» – die Gesellschaft für Deutsche Sprache setzte den Ausspruch auf den zweiten Platz unter den zehn Wörtern des Jahres 2005.1

Das Nachrichtenmagazin Spiegel beschrieb im November 2006 noch «Die Rückkehr des Glaubens»2, um im Mai 2007 zu titeln: «Gott ist an allem schuld! Der Kreuzzug der neuen Atheisten»3.

Mehr als 100 Wochen stand Hape Kerkelings «Ich bin dann mal weg» auf Platz 1 der Sachbuch-Bestsellerliste, und das Interesse, seine Leiden und die Suche nach Gott auf dem Jakobsweg zu verfolgen, blieb damit über zwei Jahre auf hohem Niveau. Andererseits befand sich 22 Wochen lang «Der Gotteswahn» von Richard Dawkins unter den ersten zehn der meistverkauften Bücher, mehrere Wochen davon direkt hinter Kerkeling auf Platz 2. Michel Onfray schaffte es 2006 mit «Wir brauchen keinen Gott» für zehn Wochen immerhin unter die besten 50, und kurz nach dem missglückten Indizierungsversuch durch das Familienministerium im März 2008 belegte das Kinderbuch von Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke, «Wo bitte geht’s zu Gott?, fragte das kleine Ferkel», Platz 10 der meistverkauften Bücher in Deutschland.4

Auch in der Politik ist Religion immer wieder ein Thema, nicht nur in Bezug auf die Kopftuchdebatte und das Kruzifix-Urteil: So bezeichnete der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber im Juni 2007 den Kinderbuchautor Janosch als «falschen Propheten», weil in der Trierer Konstantin-Ausstellung «Kunst und Provokation» eine Postkarte Janoschs mit dem Titel «Die Taufe» ausgestellt wurde, auf der einem Baby ein Kreuz in den Bauch getrieben wird.5

Man dürfe nicht zulassen, erklärte Stoiber weiter, dass Janosch mit seinen antireligiösen Zeichnungen und Kommentaren «Zugang zu unseren Kinderzimmern» erlange. Stattdessen müssten Kirche, Gesellschaft und Politik den Kindern «Orientierung, Werte und Religion» vermitteln.

Doch nicht nur Politiker, sondern auch viele Prominente treten immer wieder mit Glaubensbekenntnissen an die Öffentlichkeit.6 Wenige von ihnen bekennen sich dagegen öffentlich, Agnostiker, Atheisten oder Religionskritiker zu sein. Einer dieser wenigen ist Udo Jürgens, der über sich sagte: «Ich bin ein überzeugter Atheist. Immer wieder haben religiöse Fanatiker blutige Kriege ausgelöst. Solchen Menschen darf man nicht trauen.»7

Gleichzeitig treten im gesamten deutschsprachigen Raum, auf Podiumsdiskussionen und in Talkshows, bei Maischberger, Johannes B. Kerner, Gert Scobel und Arabella Kiesbauer, Gläubige gegen Atheisten an.

Allein dieser kurze Blick auf die öffentliche Debatte der letzten Jahre zeigt, dass das Interesse am Thema Religion und Religionskritik in Deutschland sehr groß zu sein scheint und die unterschiedlichen Positionen mit zum Teil großer Heftigkeit ausgetauscht werden. Doch wie sieht es jenseits kontroverser Diskussionen mit den Daten und Fakten zur Weltanschauung in Deutschland aus? Spielen Religion und Kirche eine Rolle im Leben der Deutschen?

Bertelsmann legte im Dezember 2007 den «Religionsmonitor 2008» vor, demnach seien 70 % der Deutschen religiös. Die in der Bertelsmann-Umfrage erhobene «Religiosität» bezieht sich jedoch auf Fragen wie beispielsweise: «Wie oft ging Ihre Mutter/​Ihr Vater mit Ihnen zu spirituellen Handlungen oder Ritualen, als Sie 6  12 Jahre alt waren?»8

Eine Umfrage der Forschungsstelle Weltanschauung in Deutschland (fowid.de) aus dem Jahr 2005 zur Verteilung der Konfessionen in Verbindung mit dem Glauben ergab: 31 % der Deutschen waren römisch-katholisch, 30,8 % evangelisch, 3,9 % muslimisch, und 32 % gehörten keiner Religion an – das macht die Konfessionsfreien mittlerweile zur größten weltanschaulichen Gruppe in Deutschland. Dabei bestehen aufgrund der geschichtlichen Entwicklung sehr große Unterschiede zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland. Der Aussage: «Ich glaube nicht, dass es einen persönlichen Gott, irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt», stimmten insgesamt 25,7 % der Deutschen zu. Aufgeteilt nach den Bundesländern waren es beinahe 19 von hundert Westdeutschen und gut 56 von hundert Ostdeutschen. Das heißt umgekehrt, dass sich einer von fünf Westdeutschen als atheistisch bezeichnet, wohingegen sich mehr als die Hälfte der Ostdeutschen als gottlos definieren.

Allerdings zieht sich die Linie der Atheisten auch durch die Konfessionen: Jede/​r fünfte eingetragene Protestant/​in ist ein Atheist, bei den Katholiken/​innen sind es immerhin 9 %. Auch nach Geschlecht sind Unterschiede festzustellen: Drei- bis viermal (Ost/​West) so viele Männer wie Frauen sind atheistisch.

Gleichzeitig verlieren die zwei großen Kirchen in Deutschland jährlich zehntausende Mitglieder. Insgesamt lag die Zahl der Kirchenaustritte zwischen 1970 und 1989 in Westdeutschland zwischen 120 000 und 150 000 (evangelische Kirche) und zwischen 70 000 und 90 000 (katholische Kirche) jährlich, nachdem sie in den 1950er und 1960er Jahren noch deutlich geringer war. Diese Zahlen stiegen im Verlauf der Wiedervereinigung nochmals stark an und erreichten 1992 ihren Höhepunkt mit ca. 360 000 (evangelische Kirche) bzw. ca. 190 000 Austritten (katholische Kirche) in Gesamtdeutschland.9 Inzwischen pendelten sich die jährlichen Kirchenaustritte der evangelischen Kirche bei mehr als 180 000 Mitgliedern ein, bei den Katholiken sind es ca. 100 000 (2004) bzw. ca. 85 000 (2006). Schätzungen zufolge gehörten 2006 in Deutschland nur noch 62 % der Gesamtbevölkerung einer der beiden Großkirchen an.11

Abbildung 1: Weltanschauung in Deutschland 200510

Der Kirchenaustritt wird von den meisten Menschen damit begründet, dass ihnen die Kirche «gleichgültig» sei bzw. sie die Kirchensteuer sparen wollen. Auch ohne Kirche christlich sein zu können, wird vor allem von Westdeutschen genannt, Ostdeutsche dagegen brauchen nach eigenen Angaben keine Religion, können mit dem Glauben nichts mehr anfangen.

Viele Deutsche orientieren sich stärker an allgemein humanistisch-ethischen Werten als an christlichen, zudem führen Skandale – beispielsweise Kindesmissbrauch durch Pfarrer – sowie die Kritik an einigen der von den Kirchen vertretenen Positionen zu Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch, Gleichberechtigung der Frau oder Empfängnisverhütung zu verstärkten Austrittszahlen. Ein weiterer genannter Grund ist der Konflikt zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der biblischen Geschichte.12

Insgesamt gibt es zwei sichtbare Tendenzen: Die Zahl derer, die sich verstärkt dem Glauben zuwenden, nimmt leicht zu. Die Zahl derer jedoch, die sich gänzlich vom Glauben abwenden, steigt relativ stark an. Gleichzeitig schlägt sich vor allem die erste der beiden Tendenzen medial als erwünschte «Normalität» nieder; Atheisten, Agnostiker, Humanisten werden dagegen häufig undifferenziert dargestellt und als eher skurrile oder gar soziopathische Einlage in Talkshows dargeboten.13

Warum dieses Buch?

Über Christen, ihr Denken und Fühlen, ihre Beweggründe wissen wir einiges. Wie sieht es aber mit den Atheisten aus? Wieso scheint Ungläubigkeit noch immer für viele ein Tabuthema zu sein? Wie denken und fühlen Gottlose? Unterscheiden sie sich von Gläubigen? Wenn ja: worin? Wie leben sie? Weshalb sind sie ungläubig und haben sich von Kirche, Religion und dem Glauben abgewendet? Und welche Erfahrungen haben sie damit gemacht?

Ich verberge nicht, dass ich selbst Atheistin bin. Ich bin in dem Moment aus der Kirche ausgetreten, als ich erstmals Kirchensteuer zahlen sollte, mit Anfang zwanzig. Habe ich jemals an Gott geglaubt? Ich kann mich nicht daran erinnern. Von daher würde ich sagen, ich war schon immer Atheistin. Ich bin sogar der Meinung: Wir kommen alle als Atheisten auf die Welt und werden erst später durch unsere Eltern, durch Erzieher/​innen in den kirchlichen Kindergärten, durch Grundschullehrer/​innen zu Gläubigen gemacht. Als ich etwa 13, 14 Jahre alt war, las ich ein Buch über König David, «Der Goldene Löwe» hieß es. Es ging darin um die Kraft, die Menschen aus dem Glauben ziehen. Also habe ich auch versucht, an Gott zu glauben. Ich hab es einige Wochen lang versucht und dann für mich das Fazit gezogen, dass ich nicht an Gott glauben kann. Seitdem fahre ich auch sehr gut damit, ich kenne es nicht anders. Dennoch würde ich nicht unbedingt darauf beharren, dass es keinen Gott gibt – ich halte es nur für sehr, sehr unwahrscheinlich.

Meine Erfahrungen mit Kirche und Religion bestanden in meiner Jugend darin, dass mein Vater mich allwöchentlich in den Katechismusunterricht und in die Kirche schickte, bevor ich konfirmiert wurde. Nach einigen Monaten konnte ich die meisten Kirchenlieder auswendig mitsingen, wurde konfirmiert, aber nichts davon ist in meinem Bewusstsein hängengeblieben. Ich denke zwar, dass viele meiner Wertvorstellungen auf dem christlichen, sogar protestantischen Wertesystem beruhen – protestantische Arbeitsethik und keine Möglichkeit zu sündigen, da keine Beichte und Buße wie im Katholizismus –, nichtsdestotrotz bin ich nicht im engeren Sinne religiös erzogen worden. Zu Hause haben wir nie gebetet, sind nur zu Weihnachten mal in einen Gottesdienst gegangen. Das heißt, ich war in meiner Kindheit und Jugend relativ wenig religiösen Einflüssen ausgesetzt, die mich zudem meist gelangweilt haben.

Im Gegensatz zu vielen, die durch Schicksalsschläge gläubig werden, habe ich durch mehrere Krebserkrankungen nicht zu Gott gefunden. Mir ist lediglich klargeworden, dass ich sterblich bin und dass ich das Bestmögliche aus meinem Leben machen möchte. Das heißt auch, dass ich die Verpflichtung sehe, alles für mich zu tun, damit es mir gutgeht, sowie der Welt meine Begabungen und Kompetenzen zur Verfügung zu stellen. Religion sehe ich in diesem Zusammenhang als einen Mechanismus, ein System, das die Selbstbestimmung des Menschen eher verhindert als ermöglicht. Selbstbestimmung macht meines Erachtens das Leben zwar schwieriger und anstrengender, da sie mich in die Verantwortung nimmt und ich gelegentlich strampeln muss, um dorthin zu gelangen, wo ich hin will. Dafür ist es dann mein Leben, und meine Zufriedenheit ist der Lohn. Religion und andere festgefügte Systeme bieten dagegen zwar eine Orientierung, sodass man sich nur wenig eigene Gedanken zu machen braucht. Es wird einem bequem serviert, was man zu denken, zu fühlen und zu tun hat, dafür gibt’s Strafen fürs Abweichen. Und verantwortlich für alles ist irgendwie doch Gott, irgendeinen Grund wird er gehabt haben. Es kann tragische Ausmaße bis hin zum Selbstmordattentat annehmen, weil man tatsächlich an die Existenz eines Paradieses glaubt. Religionen enthalten viele lebensverneinende Elemente und vertrösten auf ein illusionäres Jenseits, führen also dazu, dass Menschen ihr Leben in den Dienst einer Illusion stellen und sich viele Freuden des Lebens – ein lebensbejahendes Verhältnis zur Sexualität inklusive – versagen.

Ich merke allerdings, dass es viele, viele Menschen gibt, die nicht begreifen, was ich meine. Für sie scheint ein Leben ohne Gott unvorstellbar, genauso wie für mich ein Leben mit Gott unvorstellbar ist. Wozu brauche ich einen Gott? Ich hab ja mich als sichere Instanz. Ich habe ein Gehirn, ich fühle, denke, tausche mich mit anderen Menschen aus. Das brauche ich.

Ich brauche auch keine Ventilsitten wie Fastnacht oder Weihnachten, weil ich mein Leben nicht nach einem vorgefertigten Schema lebe und Feste feiere, wie sie fallen. Über die freien Tage bin ich allerdings froh.

Zudem hat die Religionszugehörigkeit Auswirkungen auf beinahe jeden Beruf im sozialen und medizinischen Bereich. In meinem Wohnort Trier gibt es zum Beispiel nur zwei Kindertagesstätten, die nicht in kirchlicher Hand sind, es gibt fünf Krankenhäuser, alle kirchlich. Beinahe alle sozialen Einrichtungen sind an die (katholische) Kirche angebunden. Sie stellen keine Mitarbeiter/​innen ein, die nicht katholisch oder wenigstens protestantisch sind, und dürfen Leute entlassen, die gegen die Grundsätze der Kirche verstoßen. Bezahlt werden diese Stellen allerdings vom Staat. Das finde ich unfassbar! Es gibt demnach viele Menschen, die nur deshalb in der Kirche sind, weil sie sonst keine Arbeitsstelle bekämen. Und die ihre privaten Lebensumstände geheim halten, weil sie Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes haben, zum Beispiel eine Anästhesistin, die geschieden ist und verheimlicht, dass sie einen neuen Lebenspartner hat, weil das ein Kündigungsgrund wäre.

Ein Motiv, dieses Buch zu schreiben, ist daher die Hoffnung, wenn genügend Menschen die Geschichte ihres kirchen-, religions- und gottlosen, dafür aber erfüllten, humanistischen Lebens erzählen, dass Zweifler am Glauben dazu ermutigt werden, sich mit den Widersprüchen im System Religion oder mit der Angst vor dem Verlust eines Gottes zu konfrontieren und eventuell davon Abschied nehmen können. Daher ist dieses Buch auch wenig theoretisch. Es gibt bereits sehr viele theoretische und philosophische Abhandlungen zum Thema Religionskritik,14 mein Anliegen ist es jedoch, Beispiele zu geben vom wundervollen gottlosen und am Menschen orientierten, humanistischen Leben.

Mein Antrieb ist außerdem, Menschen zu zeigen, dass es viele gibt, die denken und fühlen wie sie.

Ich selbst war völlig überrascht über die Resonanz, die ich auf meine Inserate und auf meine Homepage www.wozubiegott.de bekam. Insgesamt ließen sich 70 Personen zu ihrem Glauben bzw. Nichtglauben befragen. Aus den geplanten 12  15 Interviews waren schnell fünfmal so viele geworden!

Gemeldet hatten sich weitaus mehr Männer (56) als Frauen (14), was in etwa die Verteilung der Gottlosen nach Geschlecht in der Bevölkerung widerspiegelt. Die Befragten waren zwischen 9 und 86 Jahren alt und lebten überwiegend in Deutschland, aber auch aus Luxemburg, der Schweiz, Teneriffa und Österreich meldeten sich Interessierte. Mehrere Befragte stammten aus dem Iran und Afghanistan oder ihre Eltern waren Migranten aus dem Iran oder Italien. Nur elf der Befragten waren nie Mitglied einer Weltanschauungsgemeinschaft gewesen, die meisten von ihnen stammten aus dem Osten Deutschlands. Ein vormaliger Baptist, der später Mormone und dann Atheist wurde, drei Ex-Muslime, 19 (ehemalige) Protestanten und 25 (ehemalige) Katholiken beteiligten sich. Einige der Befragten sind der säkularen Szene zuzurechnen, d. h., sie sind in irgendeiner Form in einer der religionskritischen Vereinigungen wie der Giordano-Bruno-Stiftung, dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und AtheistInnen (IBKA), dem Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) oder dem Bund für Geistesfreiheit (BfG) organisiert und aktiv.

Die meisten Befragten sind jedoch einfach Privatmenschen, die sich zwar als kirchen- und/​oder religionskritisch, als atheistisch, agnostisch und/​oder humanistisch bezeichnen, aber dieses Faktum nicht als so wichtig ansehen, dass sie sich in diesem Bereich engagieren würden.

Unter den Interviewten sind allerdings auch einige Prominente wie z. B. der Kinderbuchautor Janosch, der Comiczeichner Ralf König, der Urmel-Schöpfer und Kulturhistoriker Max Kruse und Mina Ahadi, Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, die Schriftstellerin Esther Vilar sowie die Schauspielerin Nina Vorbrodt.

Meine Annahme: Wenn sie sich als areligiös outen würden, hätte dies wahrscheinlich eine größere Beispielwirkung als bei «normalen» Sterblichen.

Leider konnten nicht alle Interviews ins Buch aufgenommen werden, die Erkenntnisse, die sie mir beschert haben, werden jedoch im Buch deutlich. Ich habe versucht, eine möglichst repräsentative Auswahl in Hinblick auf Geschlecht, Alter, Selbsteinschätzung – Atheist, Agnostiker, Humanist, Aktivisten – und Region zu treffen. Die anderen Interviews werden ab Frühjahr 2009 auf meiner Homepage zu finden sein.

Ich hoffe, ich kann mit diesem Buch einen vielschichtigen Beitrag zu mehr Selbstbestimmung, zum Selber-Denken und zum Erforschen der Widersprüche in Kirche und Religion leisten!

Ein letzter Grund, dieses Buch zu publizieren, ist der folgende Erfahrungsbericht aus dem Münsterland. Er zeigt auf erschreckende Weise, welche Blüten fundamentalistische Religiosität heute, im 21. Jahrhundert!, in Deutschland treiben kann.