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Lucy van Tessel

TRAUM VON AMSTERDAM

Roman

© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-049-3

Coverillustration:
© Scott Frangos – Fotolia.com

Kapitel 1

Dilettantisch hatte man sie genannt.

Nichtskönnerin.

Möchtegern-Malerin.

Lenka drehte ihr Weinglas am Stiel hin und her und sah geistesabwesend dabei zu, wie der Inhalt zuerst in sanfte und dann in immer heftigere Bewegung geriet. Der Wein hatte eine helle, zartgrüne Farbe, die je nach Lichteinfall auch mal ein bisschen ins Gelbliche spielte. Lenka betrachtete Glas und Flüssigkeit mit kundigem Auge. Vielleicht, dachte sie, sollte sie sich in Zukunft lieber auf einfache Motive beschränken. Auf ein Weinglas wie dieses hier. Nur so als Beispiel.

Doch dann ging ihr auf, dass die Sache gar nicht so einfach war, wie man auf den ersten Blick annehmen konnte. Vielmehr war ein volles Weinglas eine echte Herausforderung: die Farbe, das Licht, der Brechungswinkel, die Spiegelungen . . .

Das würde sie nie hinkriegen, so viel war sicher.

Neues Motiv.

Gleicher Anspruch.

Dieselbe Sache im neuen Gewand.

Nein, dachte Lenka. Das löste ihr Problem auch nicht.

Also packte sie das Glas und leerte es in einem Zug. Wobei sie dachte: Und das hier, das erst recht nicht. Alkohol hatte noch nie ein Problem gelöst, und jeder vernünftige Mensch wusste das auch. Aber sei’s drum. Heute war Lenka nicht nach Vernunft. Heute war ihr danach, sich im Selbstmitleid zu suhlen.

Sie winkte den Mann hinter der Bar heran, schob ihm das leere Glas zu und verlangte: »Noch einen!« Kaum eine Sekunde später bereute sie es schon wieder. Da saß sie direkt an der Bar, gebärdete sich wie ein rauer Cowboy – und bekam dann ein zierliches Weinglas serviert. Das war kein Stilbruch im Sinne eines exzentrischen Auftritts, den man sich als Künstlerin leisten konnte, ja, der sogar von ihr als Vertreterin der kreativen Zunft erwartet wurde. Nein: Das hier, gestand Lenka sich ein, war einfach nur peinlich.

Sie zog das Glas heran, nahm diesmal nur einen kleinen Schluck und versuchte, unsichtbar zu werden. Was ihr natürlich auch nicht gelang. Aber wenigstens war die Kneipe voll genug und der Barkeeper viel zu beschäftigt, als dass irgendjemand der großen, mageren und ganz offensichtlich richtig mies gelaunten Frau an der Bar mehr Aufmerksamkeit als nötig geschenkt hätte.

Trotzdem – schlechte Laune hin oder her: Lenka liebte diesen Laden. Er trug den verheißungsvollen Namen Touchdown, war eine Mischung aus Pub und Hardrock-Café und setzte dementsprechend eher auf ein alternatives Publikum. Ja, er verweigerte sich sogar ziemlich vehement allem, was man als trendy und stylisch bezeichnen konnte: Wuchtige Eichentische und eine allgemein eher in dunklen Farben gehaltene Einrichtung erzeugten auf zwei Stockwerken eine urige Atmosphäre. Oben gab es eine kleine Galerie, von der aus man ins Erdgeschoss hinunterblicken konnte. Und hinter der Bar führte eine Wendeltreppe nach mehreren Umdrehungen in den Toilettenbereich unten im Keller.

Lenka fühlte sich hier uneingeschränkt wohl. Ebenso wie sie das Touchdown liebte, so hasste sie diese sogenannten Lounge-Bars, in denen es eine eigene Cocktail-Karte gab und hippe Studenten und Jungunternehmer – oder solche, die es gern noch wären – angetan mit der aktuellsten H&M-Mode auf weißen Ledermöbeln herumlungerten und die Börsenkurse diskutierten, während lauschige Musik eine noch viel lauschigere Stimmung verbreitete. Im Touchdown fuhr die Musik zwar eine etwas härtere Gangart – bevorzugt AC/DC und Guano Apes – und spielte auch nicht gerade auf Zimmerlautstärke. Doch wer hier den Mund aufmachte, der hatte in der Regel auch etwas zu sagen.

Den heutigen Abend verbrachte Lenka allerdings weitgehend stumm. Was nicht zuletzt daran lag, dass es niemanden gab, der ihr zugehört hätte. Sie war zum ersten Mal allein hier. Und das war, angesichts der Umstände, keine wirklich angenehme Erfahrung.

Aus dem Augenwinkel bekam Lenka mit, wie die Frau neben ihr von ihrem Hocker glitt und ein allgemeines »Tschüss« in die Runde warf. Lenka murmelte eine Antwort, obwohl sie nicht wusste, ob sie überhaupt gemeint war. Anschließend versuchte sie zu verdrängen, dass der leere Stuhl neben ihr die Situation nun für jedermann noch offensichtlicher machte.

Mesdames et Messieurs, wir präsentieren: Lenka, mutterseelenallein in ihrer Lieblingskneipe, versucht ihren Kummer in Alkohol zu ertränken, und selbst dabei stellt sie sich blöde an.

Klischeehafter ging es wohl kaum noch.

Lenka nippte an ihrem Weißwein und spielte dann weiter am Stiel des Glases herum, drehte es wieder und wieder und wieder. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch den Tresen zerkratzen. Aber wieso nicht? Auch zerstörerische Energie war schließlich eine Form von Energie. Und sogar Nägelkauen, so hatte ihr mal ein schlauer Mensch erzählt, sei letztendlich nichts anderes als ein Versuch, zumindest ein kleines Erfolgserlebnis zu erzielen.

Lenka neigte nicht zum Nägelkauen. Das hatte man ihr schon in frühester Kindheit abgewöhnt, wobei das Uralt-Buch »Der Struwwelpeter« eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte. Die Geschichte vom Daumenlutscher, der auch nach mehrfacher Warnung nicht von seiner schlechten Gewohnheit ablassen konnte und dem am Ende vom Schneider mit der großen Schere beide Daumen abgeschnitten wurden, hatte bleibenden Eindruck hinterlassen. Und Nägelkauen, hatten ihre Eltern gesagt, sei praktisch dasselbe wie Daumenlutschen. Nur hätte der besagte Schneider am Ende eben ein klein wenig mehr zu tun, weil er ja mehr als zwei Finger abschneiden musste.

Lenka lächelte bei dem Gedanken. Besser gesagt: Ihre Lippen zogen sich auseinander, während ihre Augen dabei völlig ausdruckslos blieben.

Wenn man einem Psychologen von der Struwwelpeter-Geschichte erzählte und welche Wirkung sie auf Lenka gehabt hatte, dann hätte der dazu bestimmt einiges zu sagen. Wahrscheinlich, spekulierte Lenka, lieferte ihr dann endlich jemand eine Erklärung für ihre gesamte verkorkste Existenz.

Wobei man einen kleinen Psychoknacks ja so ziemlich jedem Künstler nachsagte, auch den erfolgreichen. Denen sogar noch am allermeisten.

Aber wie man es auch drehte und wendete: Wenn es in diesem Universum einen Punkt namens »Erfolgserlebnis« gab, dann befand sich Lenka genau am entgegengesetzten Ende des Universums, also so weit vom Erfolg entfernt wie nur möglich. Sie lag sogar noch hinter denen zurück, die vielleicht genauso verkorkst waren wie sie, die aber dafür nie den Struwwelpeter hatten lesen müssen.

Denn denen – blieb ja immerhin noch das Nägelkauen.

»Tschuldigung? Hey, du! Ich rede mit dir!«

Lenka schreckte hoch, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie damit unvermittelt aus ihren Gedanken gerissen wurde. Sie hob den Blick und schaute in ein schmales Gesicht, umrahmt von haselnussbraunen Haaren.

»Was . . .?«, fragte sie verwirrt.

»Ich hab gefragt, ob der Hocker neben dir noch frei ist«, wiederholte die junge Frau vor ihr. Eigentlich war sie fast noch ein Mädchen. Gerade mal dem Teenageralter entwachsen, wenn überhaupt.

Sie war zierlich.

Zerbrechlich.

Und derart süß, dass einem ganz schlecht davon werden konnte.

Die, dachte Lenka grimmig, war bestimmt ein echtes Glückskind: bildhübsch, blutjung und obendrein garantiert total erfolgsverwöhnt.

»Also?« Eine schmale Braue schoss in die Höhe, die dunklen Augen unter einem dichten Wimpernkranz fixierten Lenka, schlanke Finger trommelten ungeduldig auf den Tresen. »Frei oder nicht frei?«

»Mensch, was fragst du denn so blöd?«, schnappte Lenka ungnädig und kanalisierte in diesem Moment alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, auf dieses niedliche Mädchen. »Setz dich!«, fuhr sie im selben Tonfall fort und klopfte auf den Hocker. »Breite dich aus! Mach, was du willst, Kleine, ist mir doch egal! Aber wenn du dich unbedingt schon hierhersetzen musst, dann tu mir bitte den Gefallen und quatsch mich nicht voll, okay?«

»Wow!« Der jungen Frau klappte die Kinnlade herunter. »Wie bist du denn drauf? Besten Dank, die Sache hat sich erledigt.« Sie drehte sich brüsk um. Ihre langen Haarsträhnen flogen dabei wie dünne Peitschen durch die Luft und verfehlten nur knapp Lenkas Nasenspitze. Das wirkte wie ein Weckruf, und Lenka ging auf, dass ihr Benehmen ziemlich daneben gewesen war.

»Hey!«, rief sie dem Mädchen nach und streckte die Hand aus, um das junge Ding an der Schulter festzuhalten. »Jetzt warte doch mal, das war nicht so –« . . . gemeint, hatte sie noch hinzufügen wollen. Doch just in diesem Moment glitt ihr nicht nur das Mädchen unter der Hand weg, sondern sie stieß auch noch mit dem Ellbogen unglücklich gegen ihr Weinglas. Das fing an zu schwanken – und kippte dann um. Der Stiel brach genau in der Mitte durch, klare Flüssigkeit ergoss sich über die gesamte Bar, und weil diese ziemlich abschüssig war, landete ein guter Teil davon in Lenkas Schoß.

»Scheiße!«, fluchte sie und sprang auf.

Der Barkeeper, der die gesamte Szene inklusive des hitzigen Wortwechsels aus dem Augenwinkel beobachtet hatte, seufzte leise, zog ein paar Servietten hervor und reichte sie wortlos an Lenka weiter. Dann ging er in die Küche, um noch ein paar Lappen zu holen.

Derweil hatte das Mädchen sich natürlich prompt noch mal umgedreht: gerade rechtzeitig, um Lenkas Missgeschick mitzubekommen, live aus allernächster Nähe.

»Na, schau einer an«, bemerkte sie, und ihr Mundwinkel zuckte spöttisch. »Das hab ich auch noch nicht erlebt, dass eine Frau so schnell ein feuchtes Höschen kriegt, wenn ich nur in ihre Nähe komme.« Dann lächelte sie Lenka an, boshaft und honigsüß. »Tut mir echt leid, Schätzchen. Du hattest deine Chance.« Sie musterte, schon halb im Weggehen, das zerbrochene Weinglas. »Tja, Scherben bringen wohl nicht immer Glück, was?«

Scheint so, dachte Lenka. Seufzend machte sie sich an die Schadensbegrenzung.

Auf der Toilette im Kellergeschoss riss Lenka gleich einen ganzen Stoß Wegwerfhandtücher aus dem Spender neben dem Waschbecken und rieb damit an ihrer nassen Jeans herum. Wahrscheinlich konnte sie von Glück reden, dass es nur Weißwein gewesen war; so würden wenigstens keine Verfärbungen zurückbleiben. Trotzdem hatte sie auf dem Weg zum Damenklo so manchen neugierig-amüsierten Blick aufgefangen. Immerhin sah es glatt so aus, als handle es sich bei ihrem Malheur nicht um verschütteten Wein, sondern – nun, um das Phänomen, das ein Mediziner als Inkontinenz bezeichnet hätte.

Verdammt, heute war wirklich nicht ihr Tag.

Lenka stützte sich auf das Waschbecken und musterte ihr Spiegelbild. Die hellen Haare hingen ihr in schlappen Strähnen über die Schultern und machten ihr Gesicht noch blasser als sonst. Sie hatte schon tausendmal daran gedacht, eine dunklere Tönung auszuprobieren, war aber irgendwie nie über den bloßen Gedanken hinausgekommen. Außerdem würde sie in Brünett wahrscheinlich noch viel mehr aussehen wie eine Leiche auf Freigang, als es jetzt schon der Fall war. Ihr Gesicht wirkte eingefallen, sie hatte Augenringe so blau wie der Ozean (und mindestens auch genauso tief), und die ohnehin hohen Wangenknochen traten deutlicher hervor als sonst. Und auch ihr Outfit war nicht unbedingt ein Glanzstück: Der graue Pulli schlackerte formlos um ihren mageren Oberkörper – Brüste praktisch nicht vorhanden –, ihre halbhohen Stiefeletten hatten ganz dringend mal wieder eine Ladung Schuhcreme nötig, und darüber trug Lenka eine Schlabberjeans, die jetzt obendrein noch bekleckert war. Boyfriend-Jeans nannte sich dieser Stil. Das war an sich zwar eine witzige Idee, aber nicht konsequent zu Ende gedacht. Der Clou an diesen Hosen war ja, dass es sich um Frauenhosen handelte, die aussehen sollten, als hätte die Trägerin sie ihrem Freund stibitzt. Was zumindest in Lenkas Fall wenig glaubwürdig war, denn sie hatte keinen Boyfriend, den sie hätte beklauen können, und sie würde auch niemals einen haben. Eher würden die Flüsse aufwärts fließen und die Sonne im Westen aufgehen. Lenka ging deshalb zwar nicht so weit, der Modeindustrie Intoleranz und Diskriminierung vorzuwerfen und besagte Hosen vollständig zu boykottieren – dafür waren die Dinger einfach zu bequem –, aber sie nannte sie einfach Girlfriend-Jeans.

Doch ob nun Boyfriend, Girlfriend oder was auch immer: Im Moment konnte Lenka auf diesem Gebiet so oder so keinen Blumentopf gewinnen. Ihr Aussehen spiegelte ziemlich gut wider, wie sie sich gerade fühlte – nämlich wie ausgekotzt.

Sonst wäre sie das arme Mädchen von eben auch nicht so grob angegangen. Was platzte dieses Gör auch mitten in Lenkas wunderbar schlechte Laune und störte sie bei dem ungemein wichtigen Vorgang, sich selbst leidzutun?

Na ja – ein bisschen ärgerlich war es schon. Die Kleine war fraglos niedlich gewesen. Nur vielleicht nicht ganz Lenkas Typ und außerdem mindestens zehn Jahre zu jung.

Trotzdem niedlich.

Und geistreich. Wäre der Spruch mit dem feuchten Höschen nicht ein Scherz auf Lenkas Kosten gewesen, dann hätte sie ihn sogar ziemlich witzig gefunden.

Tja, die Kleine hatte es selbst gesagt: Lenka hatte ihre Chance gehabt. Und sie hatte sie gehörig vermasselt. Aber was sollte man machen? Wenn man auf jemanden sauer war und diese eigentlichen Schuldigen nicht zu packen bekam, dann ließ man den Frust eben an jemand anders aus. So lief das nun mal.

In Ordnung war das nicht, zugegeben. Aber menschlich.

Die eigentlichen Schuldigen, das waren immer noch diese Idioten, diese Möchtegernkritiker. Dilettantisch hatten sie Lenka genannt. Allein beim Gedanken daran kochte der Frust erneut in ihr hoch, und sie fing an, neue Einweghandtücher abzureißen und so heftig über Shirt und Jeans zu reiben, dass lauter kleine Papierkrümel an dem Stoff hängen blieben. Dass ihre Klamotten davon wirklich trockener wurden, bezweifelte sie zwar, doch das war ihr im Moment egal. Zerstörerische Energie war auch eine Energie. Und wenn dabei ein Papiertuch in Fetzen ging, dann war das wenigstens ein Teilerfolg.

Dilettantisch, hatten sie gesagt. Aber wer waren sie denn schon? Nur ein paar Mitglieder von you.and.meART.com, ein paar namenlose Leute in einer Internetcommunity für Hobbykünstler.

Im Grunde war you.and.meART, um es einfach auszudrücken, eine Seite für Leute mit zu viel Zeit und zu viel Kreativität. Für Leute mit Ambitionen im Kunstgewerbe, die noch keinen Agenten in ihren Diensten hielten und es noch nicht zu einer Vernissage gebracht hatten. Mit anderen Worten: Leute wie Lenka. Viel Talent (oder was immer sie dafür hielten), aber noch kein Publikum. Nicht die richtigen Kontakte. Keine Gönner, keine Sugar Daddys mit einer Menge Kohle. Wobei es in Lenkas Fall ja ohnehin niemals einen Sugar Daddy geben würde. Bestenfalls eine Sugar Mommy, und selbst die nur im äußersten Notfall. Lenka wollte es aus eigener Kraft schaffen, und zwar nicht nur mit Hilfe der richtigen Kontakte zu Leuten, die ebenfalls . . . nun ja, Kontakte hatten. Dementsprechend beschränkte sich ihr Wirkungskreis bis auf Weiteres auf das häusliche Atelier, bestehend aus Skizzenblock, Laptop und Gehirnschmalz.

Und eben you.and.meART: eine Website, wo jeder seine Werke online stellen konnte. Egal ob in Form von Fotos, als Grafikdatei oder Photoshop-Bearbeitung. Die Musiker unter den Mitgliedern lieferten Klänge im MP3-Format. Hier bekam jeder ein Forum, egal, ob man Profi, semiprofessionell oder Laie war, egal, ob es sich um Musik, Bilder oder Konzeptkunst handelte.

Lenka selbst definierte ihre Werke als eine Mischung aus digitaler Pop-Art und Konzeptkunst. Doch eigentlich hatte sie gar keine Lust, sich in irgendeine Schublade stecken zu lassen.

Sie war Lenka, Künstlerin. Fertig.

Auf einer Website, wo jeder Kunstbegeisterte sich verewigen durfte, da durfte natürlich auch jedermann kritisieren. Auch dafür brauchte man lediglich ein Mitgliedsprofil. In der Regel hinterließ man die Kommentare einfach offen auf der Pinnwand, wo sie für jeden einsehbar waren. Hier konnte man nach Lust und Laune rezensieren, kritisieren, Verbesserungsvorschläge geben, über den grünen Klee loben oder auch mal nach Herzenslust herumnörgeln. Außerdem gab es noch die Mail-Funktion, mittels derer die Mitglieder einander private Nachrichten zukommen lassen konnten: Da gab es dann Diskurse oder Streitgespräche (und manchmal Flirts) unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Natürlich war die Kritik der Mitglieder nicht gleichzusetzen mit der Meinung von echten Kennern. Doch es war die ehrliche, unverfälschte Meinung eines Publikums, das praktisch die ganze Welt repräsentierte. Nach Lenkas Ansicht war es sogar das einzige Publikum, auf das es am Ende tatsächlich ankam, wenn die Kunst nicht nur Berufung, sondern Beruf mit entsprechendem Einkommen sein sollte.

Deshalb stießen ihr die Reaktionen auf ihr letztes Projekt auch so übel auf. Die waren mehr als niederschmetternd gewesen. So etwas kam nicht oft vor: In der Regel war jede Kritik freundlich formuliert, und selbst harsche Wahrheiten wurden in den Deckmantel des Wohlwollens gekleidet und meist gekoppelt mit Vorschlägen, wie man es besser machen könnte. So war es auch in Lenkas Fall losgegangen.

Doch dann hatte ein Mitglied namens Mia93 sich in die Diskussion eingeklinkt und gleich richtig losgelegt: Die Idee für Lenkas Bild sei nicht neu, sei vielmehr schon tausendfach da gewesen. Was an sich ja noch zu verzeihen wäre. Doch Mia93 hielt sich nicht bloß bei dem Motiv auf. Das Problem, meinte sie, sei die Ausführung, die sei total dilettantisch. Die Konturen seien zu schwammig, die Pinselführung unsauber, die Farbcombo viel zu schrill und täte richtiggehend in den Augen weh. Besagtes Bild, so ihr Fazit, sei ganz offensichtlich das Werk eines Anfängers.

Als Lenka das las, hätte sie am liebsten den Laptop aus dem Fenster geworfen – und hatte eigentlich nur deshalb davon Abstand genommen, weil ihr das nötige Kleingeld fehlte, um sich einen neuen zu leisten.

Zugegeben: Bei ihrer Anmeldung auf you.and.meART war Lenka bewusst gewesen, was auf sie zukommen konnte. Wenn man seine Werke der Öffentlichkeit präsentierte, musste man mit Kritik rechnen. Lenka hatte auch nicht erwartet, mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Und natürlich war ihr auch klar, dass – trotz des freundlichen Tenors bei you.and.meART – der Ton in einem Internetforum ziemlich rau werden konnte. In der Anonymität des World Wide Web vergaß manch einer seine gute Kinderstube: Worte wie »Anfänger«, »Nichtskönner« oder »Tintenkleckser« schrieben sich nun mal leichter, als dass sie ausgesprochen wurden. Mia93 hämmerte das Wort »Anfänger« eben viel lässiger in eine Tastatur, als ihr wahres Ich es Lenka direkt ins Gesicht gesagt hätte. Und vielleicht war sie auch nur deshalb so grob, weil sie gerade richtig schlecht drauf war und einen Sündenbock zum Abreagieren brauchte – genau wie Lenka die Kleine mit den haselnussbraunen Haaren als solchen missbraucht hatte.

Lenka wusste also, dass sie sich eigentlich keinen Kopf darüber machen sollte. Mia93 war nicht das Maß aller Dinge. Nicht einmal you.and.meART war das Maß aller Dinge.

Und ganz davon abgesehen: Kunst polarisierte nun mal. Was der eine toll fand, das fand der andere abgrundtief schrecklich. Das war einfach so.

Und wenn sie jemals ein Bein auf den Boden der Kunstszene bekommen wollte, dann musste sie mit Kritik umgehen können. Mit positiver, konstruktiver – und auch mit dem, was man einen niederschmetternden Verriss nennen musste.

Außerdem war das hier ein freies Land. Hier durfte jeder seine Meinung haben. Und jeder durfte sie äußern.

Nur – und das war der Knackpunkt – hörte sich das, was diese Mia geschrieben hatte, allzu sehr nach dem an, was Lenka sich auch von Corinna hatte anhören dürfen.

Corinna, 31, Sprachtherapeutin, Exfreundin.

Corinna hatte praktisch dasselbe gesagt. Nicht wortwörtlich, aber sinngemäß. Sozusagen als Abschiedsgeschenk. Und auch wenn es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bloßer Zufall war, auch wenn sich Corinna und diese Mia nicht einmal kannten, sah Lenka doch jedes Mal, wenn sie Mias Worte las, Corinnas Gesicht vor sich und hörte ihre Stimme.

War es in Anbetracht dessen dann ein Wunder, dass Lenka jetzt so gereizt war? War es ein Wunder, dass sie sich nach diesem völlig missglückten Abend jetzt hier im Toilettenraum wiederfand, immer noch mit einer fürchterlichen Wut im Bauch, und sich anstatt mit Ruhm bloß mit Weißwein bekleckert hatte?

Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse.

Gestatten: Lenka, 29, Single wider Willen, Künstlerin ohne Kontakte und vielleicht auch ohne Talent.

Kein Sex mehr seit geschlagenen drei Monaten.

Und kaum ergab sich mal wieder eine Gelegenheit, kaum sprach sie unverhofft ein süßes Mädchen an, wodurch sich zumindest das Sexproblem hätte lösen lassen, wenigstens für heute Nacht – da hatte Lenka sie vergrault.

Gestatten: Lenka. Versagerin auf der ganzen Linie.

Sie streckte ihrem Spiegelbild erneut die Zunge heraus und ging wieder zu ihrem Platz zurück. Die Girlfriend-Jeans war zwar immer noch nicht ganz trocken, aber das war ihr jetzt auch egal.

Zu fortgeschrittener Stunde musste Lenka auch das ehrgeizige Vorhaben, ihren Kummer in Alkohol zu ertränken, endgültig als gescheitert betrachten. Als sie mit dem Inhalt ihres Portemonnaies an ihr Limit kam, war nämlich noch jede Menge schlechte Laune übrig. Dennoch saß sie noch eine Weile stumm da und schaute ins Leere, um den Moment des Nachhausegehens, vor allem aber den Augenblick des Heimkommens noch ein bisschen vor sich herzuschieben.

Was sollte sie denn zu Hause? Sie hatte keinen Job, der sie am nächsten Tag früh aus den Federn zwang. Und sie hatte auch niemanden mehr, der darauf wartete, ihren Schritt auf der Treppe zu hören, darauf, dass sie den Kopf durch die Tür steckte und leise rief: »Bin wieder da!«

Es gab nur noch ihr leeres Bett, ihren PC, ihre Skizzenblöcke und ihren iPod, dessen Kopfhörer sie sich in die Ohren steckte, um die Stille zu übertönen.

Als Corinna ausgezogen war, hatte sie einen guten Teil der Möbel mitgenommen. Seitdem hallten Lenkas Schritte viel lauter durch die Wohnung, eine stetige Erinnerung daran, dass es nur noch eine halbe Wohnung war, nur noch eine halbe Inneneinrichtung, bewohnt von der einen Hälfte eines Pärchens, die sich seit der Trennung auch nur noch wie ein halber Mensch fühlte.

Nachdem Lenka die Frage des Barkeepers, ob sie noch etwas trinken wolle, zum zweiten Mal verneint hatte oder vielmehr aus Geldmangel hatte verneinen müssen, entschloss sie sich dennoch widerwillig, den Heimweg anzutreten.

Sie blickte nach der Uhr: halb zwei.

Früh oder spät – diese Begriffe waren relativ. Es war vielleicht spät, um eine Kneipe zu verlassen, noch dazu mitten in der Woche. Aber es war zugleich viel zu früh für eine leere Wohnung.

Doch was blieb ihr anderes übrig?

Während Lenka ihre Siebensachen zusammenpackte und ihre Jacke anzog, blickte sie zu dem Tisch drüben am Fenster. Dort hatte sich das Mädchen von vorhin niedergelassen, nachdem Lenka sie versehentlich, aber erfolgreich von der Bar vertrieben hatte. Lenka hatte die schmale Gestalt dort sitzen sehen, als sie von der Toilette zurückkam – und hatte seitdem aus unerfindlichen Gründen immer wieder zu ihr hingeschielt. Die Kleine hatte nichts weiter getan, als abwechselnd aus dem Fenster und in ihren Drink zu starren. In ziemlich viele Drinks sogar, wie Lenka im Laufe des Abends feststellte – was wiederum mit der Erkenntnis einherging, dass sie ziemlich oft zu dem Mädchen hinübersah.

Entschieden zu oft, hatte sie sich schließlich gesagt und beschlossen, diese heimlichen Blicke sein zu lassen. Doch irgendwie war ihr das nicht gelungen.

Ein, zwei Mal hatte Lenka sogar überlegt, ob sie noch mal zu der Kleinen hinübergehen sollte. Nicht, um sie auf ihren erhöhten Alkoholkonsum hinzuweisen, sondern um sich zu entschuldigen. Doch als sie die Sache aktiv angehen wollte, sogar schon im Begriff war, ihren Hintern vom Barhocker hochzuhieven, hatte das Mädchen den Blick gehoben und Lenka ihrerseits angesehen. Zufall oder nicht: Lenka spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, woraufhin sie von ihrem Vorhaben – Mission Entschuldigung – wieder Abstand nahm.

Und irgendwann, als sie erneut hingesehen hatte, war der Tisch am Fenster plötzlich leer.

Eine leise Enttäuschung hatte sich in Lenka ausgebreitet, warum auch immer. Wahrscheinlich, weil jetzt die Chance, sich zu entschuldigen, definitiv vertan war.

Sich zu entschuldigen?

Oder um zu schauen, ob sie vielleicht doch eine zweite Chance bekam?

Ein bisschen Sex?

Ein kleiner Flirt?

Vielleicht auch nur ein winziges Quäntchen Aufmerksamkeit, das hätte ihr schon gereicht.

Doch jetzt war es müßig, weiter darüber nachzudenken. Lenka hatte es vermasselt. Zum zweiten Mal.

Also bezahlte sie, ohne Trinkgeld zu geben, und verließ die Kneipe. Draußen schlug ihr ein kalter Wind ins Gesicht, außerdem hatte es zu nieseln begonnen.

Na toll, das also auch noch. Lenka klappte den Mantelkragen hoch, zog den Kopf ein und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Ein Taxi konnte sie sich nicht mehr leisten.

Natürlich nicht.

Lenka war keine zehn Meter gelaufen, als sie das Mädchen entdeckte.

Um ein Haar hätte sie die Kleine übersehen. Sie hockte halb verborgen im Schatten eines Hauseingangs, hatte die Arme um die Knie geschlungen und den Kopf auf den Ellbogen gestützt. Die haselnussbraunen Haare fielen ihr übers Gesicht, so dass Lenka sie nicht sofort erkannte. Aber bei genauerem Hinsehen bestand kein Zweifel, immerhin hatte Lenka sie den ganzen Abend lang heimlich beobachtet: Das hier war das Mädchen aus der Kneipe. Irrtum ausgeschlossen.

»Hallo?« Lenka blieb in anderthalb Metern Abstand stehen.

Keine Reaktion.

Lenka sah sich um, zögerte kurz, trat dann aber entschlossen näher. Vor der reglosen Gestalt ging sie in die Hocke. »Hey! Alles okay mit dir?«

»Geh weg . . .!«

Diese Antwort erklärte so einiges, denn das Gelalle war kaum zu verstehen und obendrein begleitet von einer Schnapsfahne, die sich gewaschen hatte. Das Mädchen roch wie eine ganze Schankauslage. Lenka drehte angewidert den Kopf weg und musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen.

Na toll. Da hatte sie selbst nicht einmal genügend Geld, um sich einen gepflegten Schwips zu leisten – aber dafür nun eine Betrunkene am Hals. Das Leben war heute wirklich nicht fair zu ihr.

Jetzt hob das Mädchen den Kopf und versuchte ihrerseits, Lenka mit einem unsteten Blick zu fixieren. Ihr rechtes Auge wollte dabei nicht ganz so wie das linke, und einen Moment lang rollten ihre Augäpfel hilflos hin und her, bevor sie wieder einigermaßen geradeaus gucken konnte.

»Wie jetzt . . .?«, fragte sie dann. »Du schon wieder?«

»Ja, ich schon wieder! Man sieht sich eben immer zweimal im Leben, hm?«

»Weiß nich’ . . .«, lallte die Kleine. »Is’ mir auch egal.« Sie wedelte mit dem Arm, als wolle sie eine lästige Fliege verscheuchen. »Und jetzt zieh Leine! Hau ab! Jetzt will ich nämlich nix mehr von dir wissen, klar? Jetzt verscheuche ich dich!«

»Keine Ahnung, wovon du redest«, knurrte Lenka und fing den Arm ab, der – absichtlich oder nicht – nur haarscharf ihr Gesicht verfehlte.

Das Mädchen zappelte. »Lass mich los!«

»Du kannst hier nicht sitzen bleiben.«

»Kann ich wohl!«

»Von wegen!« Lenka sah sich erneut um, in der Hoffnung, dass irgendwo noch ein verspäteter Passant auftauchte. Was natürlich nicht der Fall war. Aber was erwartete man auch um zwei Uhr morgens? »Hör zu«, versuchte sie erneut an die Vernunft des Mädchens zu appellieren, besser gesagt an jeden Teil ihres Gehirns, den die Kleine noch nicht in Alkohol eingelegt hatte. »Es ist mitten in der Nacht, es ist schweinekalt, und es regnet. Wenn du hier sitzen bleibst, dann holst du dir eine Lungenentzündung. Willst du das?«

»Mir doch egal.« Das Mädchen verschränkte trotzig die Arme und schob die Unterlippe vor. »Mir is’ alles egal . . .!«

»Aber mir nicht! Und jetzt hoch mit dir!« Lenka überlegte kurz, wie es es am besten anstellen sollte. Dann schob sie ihren Arm unter die Achselhöhle des Mädchens und zog.

»Nein!«, quengelte die Kleine.

»Und ob!«, schnaubte Lenka. »Los jetzt. Hilf gefälligst ein bisschen mit!«

Es dauerte eine Weile, doch schließlich standen sie beide aufrecht. Das Mädchen schwankte und hielt sich immer wieder an Lenka fest. Ihre Stiefel mit den hohen Absätzen machten das Unterfangen nicht unbedingt einfacher.

»Na also«, murmelte Lenka in einem Moment, in dem sie gerade mal nicht ihrer beider Gewicht halten musste. »Tja, dann: Hallo erst mal!«

»Hallo noch mal«, versetzte das Mädchen – erstaunlich schlagfertig für jemanden, der voll war wie eine Haubitze. Lenka musste unwillkürlich grinsen.

»Ich bin Lenka«, stellte sie sich dann vor. »Und du?«

»Weiß nich’ . . . is’ egal . . .«

»Du meine Güte!« Lenka wusste nicht, ob sie lachen oder sich ernsthaft Sorgen machen sollte. Sie stieß das Mädchen an. »Jetzt mal im Ernst: Wie heißt du?«

Wanken.

Kopfschütteln.

»Naomi . . .«, kam es schließlich halblaut zwischen den Haaren hervor, die ihr schon wieder ins Gesicht gefallen waren.

»Okay, Naomi«, erklärte Lenka. »Wir besorgen dir jetzt ein Taxi.« Sie selbst hatte zwar nur noch ein paar Centstücke im Portemonnaie, aber sie hatte ja auch nicht vor, die Taxe zu bezahlen. »Einverstanden, Naomi?«, fragte sie.

»Einverstanden . . . Lena.«

»Lenka.«

»Hab ich doch gesagt!«

Gemeinsam schafften sie es die Gasse hinunter bis zur Hauptstraße. Lenka leistete dabei den Löwenanteil, während Naomi sich mehr oder weniger tragen ließ und nur gelegentlich und eher auf gut Glück die Füße aufsetzte. Zu Lenkas großer Erleichterung war sie klein und ein Fliegengewicht, sonst wäre das Ganze in ziemliche Schwerstarbeit ausgeartet.

Auf der Hauptstraße waren noch einige Autos unterwegs. Sie warteten eine Weile, bis Lenka schließlich ein Taxi heranwinken konnte. Der Wagen fuhr auf den Seitenstreifen, und ein müde aussehender Mann um die Vierzig kurbelte das Fenster herunter.

»Na, Mädels? Wo soll’s hingehen?«

Lenka stieß ihre Begleiterin fragend an, woraufhin Naomis Kopf ihr auf die Brust sackte. Dazu murmelte sie etwas Unverständliches.

Prompt veränderte sich der Gesichtsausdruck des Fahrers. »Vergesst es!«, erklärte er. »Die Kleine ist ja total dicht. Die kotzt mir am Ende noch den Wagen voll. Nee, nee, ihr Süßen, ihr geht mal schön brav zu Fuß.« Sprach’s, kurbelte das Fenster hoch und brauste davon.

»Blödmann!«, rief Lenka ihm nach, und auch Naomi reckte die Faust.

»Genau! Blödmann!«, echote sie, wesentlich lauter als Lenka – und auf einmal funktionierte ihre Aussprache wieder erstaunlich gut. »Alles Blödmänner hier! Überall . . .!«

»Hey!« Lenka schüttelte sie. »Bist du bescheuert? Du hetzt uns noch die Bullen auf den Hals.«

»Ist egal«, winselte Naomi. »Ist doch jetzt alles egal, verdammt! Gott, ist mir schlecht . . .!«

Lenka seufzte. Dann ließ sie Naomi probehalber los, um zu schauen, ob diese aus eigener Kraft stehen konnte.

Sie konnte es nicht.

Doch immerhin begriff sie, was Lenka von ihr wollte, als diese ihr ein Pfefferminzkaugummi reichte. Sie wickelte es aus, wenn auch ein bisschen ungeschickt, steckte es in den Mund und begann, brav zu kauen. Das war bereits eine erhebliche Verbesserung, vor allem in Sachen Atemfrische.

»Danke«, murmelte sie und lächelte schwach. »Du bist anscheinend doch nicht so übel, wie ich dachte, Lena . . .«

»Lenka.«

»Hab ich doch gesagt – oder nicht . . .?«

Lenka blies die Wangen auf und ließ die Luft dann ganz langsam entweichen. »Und jetzt?«, fragte sie. »Was mache ich denn jetzt nur mit dir?«

»Kannst gehen«, kam die trotzige Antwort. »Sie is’ auch gegangen. Is’ einfach weggegangen und hat mich hier ganz allein gelassen.«

Sie, hm? Wer immer diese ominöse »sie« auch sein mochte.

Das klang beinahe auch nach einer Exfreundin – und würde möglicherweise erklären, warum Naomi sich heute Abend derart abgeschossen hatte.

Andererseits war es sinnlos, darüber zu spekulieren. Es ging Lenka nichts an. Und außerdem half es ihnen nicht weiter.

»Weißt du was?«, fragte Lenka. »Ich hab immer noch keinen blassen Schimmer, wovon du da redest. Aber dass ich dich hier einfach stehen lasse, damit du am nächsten Morgen mit der Nase im Rinnstein und vierzig Grad Fieber aufwachst, das kannst du gleich mal vergessen, klar?«

Naomi musterte sie misstrauisch. Doch dann sagte sie: »Klar.«

»Tja, dann . . .« Lenka hob die Schultern. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als zu laufen.« Sie nahm Naomi am Arm. »Also? Wohin?«

Zwei große, rehbraune Augen starrten sie verständnislos an.

Lenka stöhnte. »Wo – wohnst – du?«, fragte sie langsam und deutlich, als spräche sie mit einem Kind.

In Naomis Gesicht arbeitete es. Ihre Hand deutete geradeaus.

»Da lang«, sagte sie, wenn auch ein bisschen unsicher.

»Okay.« Lenka hakte sie unter und führte sie in die entsprechende Richtung. »Also hier lang, ja? Ich hoffe, du weißt, was du tust, Kleine!«

Es war natürlich ein recht gewagtes Unterfangen, einfach auf gut Glück loszulaufen, mit einer betrunkenen jungen Frau im Arm, die immer noch ziemlich neben sich stand. Naomi stützte sich weiterhin mehr auf Lenka, als dass sie aus eigener Kraft lief, und steuerte nur gelegentlich ein »rechts« oder »links« bei, ab und zu auch ein: »Jetzt hier lang!«, gefolgt von einem »Nein, vielleicht doch lieber da drüben . . .?« Ab und zu war Naomi auch felsenfest von einer bestimmten Richtung überzeugt, und Lenka konnte ihr nur mit Mühe klarmachen, dass der von ihr angestrebte Weg geradewegs in einen Kellerschacht führte.

Es grenzte fast an ein Wunder, doch irgendwann standen sie vor einem vierstöckigen Wohnhaus, und Naomi verkündete: »Hier wohne ich.« Das sagte sie nicht ohne einen gewissen Entdeckerstolz.

»Ist nicht wahr.« Lenka hatte schon fast nicht mehr daran geglaubt.

Nun war es noch mal ein ziemlicher Akt, Naomi in ihre Wohnung hinaufzubugsieren. Die natürlich im vierten Stock lag. Wo denn auch sonst . . .?

»Ein Königreich für einen Fahrstuhl«, knurrte Lenka bereits nach der Hälfte.

»Wieso?«, fragte Naomi. »Bin ich dir etwa zu schwer?«

Himmel, Arsch und Zwirn, fluchte Lenka in Gedanken. Sturzbesoffen, aber nach wie vor in der Lage, nach Komplimenten zu fischen. Das musste der Kleinen erst mal einer nachmachen.

»Nein, du bist nicht zu schwer«, murrte sie. »Aber du könntest echt mal ein bisschen mithelfen.«

»Tu ich ja . . .«

»Tust du nicht!«

»Hör mal, du musst das hier nicht machen. Kannst jederzeit gehen, ist schließlich –«

»– ein freies Land«, murmelte Lenka. »Ich weiß. Und außerdem ist das mein Spruch, klar?«

Sie waren beide erleichtert, als sie schließlich die Wohnung betraten – die Lenka persönlich hatte aufschließen müssen, denn einen Schlüssel ins passende Loch zu stecken, war in Naomis Zustand ebenfalls ein Ding der Unmöglichkeit. Gemeinsam schwankten sie in Naomis Schlafzimmer, wo diese sofort auf das Bett sank und wie ein Stein zur Seite kippte.

»Nichts da!«, erklärte Lenka und zog das Mädchen wieder hoch.

Sie waren zwar nicht direkt nass geworden, doch der Nieselregen hatte sich hartnäckig in ihren Mänteln festgesetzt und dort eine klamme Feuchtigkeit hinterlassen. So konnte Naomi auf keinen Fall liegen bleiben. Sonst fing sie sich am Ende doch noch etwas ein, wenn auch vielleicht keine Lungenentzündung, aber zumindest eine saftige Erkältung. Dann wiederum wären Lenkas Bemühungen umsonst gewesen – und das wäre angesichts der investierten Energie mehr als ärgerlich.

Und davon abgesehen: Man schlief einfach nicht in Klamotten ein. So was machte man nun mal nicht.

»Komm! Hoch mit dir! Ein letztes Mal noch, okay? Tu mir den Gefallen.«

»Okay . . .« Naomi stemmte sich mühsam in die Höhe und ließ artig zu, dass Lenka ihr den Mantel auszog. »Du?«, fragte sie plötzlich und mit unerwartet klarer Aussprache. »Kann ich dich mal was fragen?«

»Klar«, meinte Lenka und hockte sich hin, um sich an Naomis Stiefeln zu schaffen zu machen.

»Findest du mich hübsch?«

Lenkas Finger glitten von Naomis nassen Absätzen ab, und sie sah überrascht zu ihr auf. »Wie bitte?«

»Ich hab gefragt, ob du mich hübsch findest.« Naomi wackelte mit dem Fuß, als wolle sie verhindern, dass Lenka sich wieder über ihre Schuhe beugte und ihrem Blick auswich. »Ich meine: So schwer ist diese Frage doch nicht zu beantworten, oder?«

»Also, ich –«

Naomi stieß Lenka mit der Stiefelspitze vor die Brust: »Ja oder nein?«

»Ja«, sagte Lenka schnell.

Erstens, damit Naomi Ruhe gab.

Zweitens, weil es die Wahrheit war.

Naomi nickte. Nicht stolz, nicht auf eine eingebildete Art und Weise, aber dennoch so, als hätte sie genau diese Antwort erwartet. Diese Einstellung war Lenka sympathisch: jemand, der um die eigene Schönheit wusste, aber das Kunststück fertigbrachte, dabei nicht abzuheben, sondern die optischen Vorzüge als bloße Tatsache hinzunehmen. Mit allen positiven und negativen Konsequenzen.

Naomi ließ es zu, dass Lenka ihr aus der Jeans half. Sie hatte lange, schlanke Beine. Fast schon ein bisschen zu schlank, wenn man es genau nahm, doch Lenka gestattete sich trotzdem einen wohlgefälligen Blick darauf. Natürlich nur einen sehr kurzen, denn schließlich wollte sie Naomis Zustand nicht ausnutzen. Als Lenka sich danach auf die Bettkante setzte und sich vorbeugte, um Naomi das klamme Shirt auszuziehen, stieg ihr ein sanfter Geruch nach Parfum in die Nase. Vielleicht auch bloß ein Deodorant.

Etwas Zartes.

Dezentes.

Verwirrendes . . .

Naomi saß jetzt nur noch in Slip und einem kurzen Hemdchen neben ihr. Einen BH trug sie nicht, doch ihre Brüste waren so zart, dass sie sich das auch getrost sparen konnte.

Lenka wurde plötzlich warm. Sie schluckte einmal schwer und bemühte sich, nicht allzu genau hinzuschauen.

»Und findest du mich nett?«, fragte Naomi unvermittelt.

Lenka zuckte zusammen, fühlte sich ertappt. Rasch wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem zu, was wohl eine Unterhaltung werden sollte.

»Nett?« Sie hob skeptisch eine Braue. »Woher soll ich denn das wissen? Frag mich das noch mal, wenn du nüchtern bist, okay? Bis dahin: kein Kommentar.«

Naomi nickte erneut, diesmal jedoch ein bisschen unsicher. »Ich meine ja nur«, begann sie zaghaft. »Weißt du, ich frage mich nämlich Folgendes: Ist irgendwas komisch an mir? Ist irgendwas an mir nicht in Ordnung?« Ihre Unterlippe bebte. »Denn wenn ich einigermaßen hübsch bin, wenn ich vielleicht auch nur ein bisschen nett bin – wieso hat sie dann Schluss gemacht? Ich versteh’s nicht. Wir beide hatten doch noch so viel vor, wir hatten uns alles genau überlegt, und jetzt . . . Was stimmt denn nicht mit mir . . .?«

Herrje, jetzt ging das wieder los! Lenka war inzwischen fast sicher, dass Naomi an einer Trennung herumknabberte, die augenscheinlich noch ziemlich frisch war. Aber mal ganz ehrlich: Was sollte sie, Lenka, dazu sagen? Davon abgesehen war es ohnehin egal. Was immer sie jetzt Schlaues von sich gab – Naomi war so betrunken, dass sie bis morgen früh ohnehin wieder alles vergessen hätte.

Lenka war gerade dabei, sich eine Floskel zurechtzulegen. Etwas im Stil von: »Komm, halt die Ohren steif, Tiger!« Oder: »Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«

Da spürte sie plötzlich kleine, weiße Finger auf ihrer Hand. Und Naomis Gesicht war auf einmal ganz nah an ihrem.

»Du findest mich hübsch?«

Lenka starrte Naomi an und brachte nur ein »Hm-hm« heraus.

»Würdest du mich küssen wollen?«

»Was?« Lenka fiel fast rückwärts vom Bett. Automatisch wich sie einen halben Meter zurück, doch Naomi rutschte ihr sofort hinterher und ließ auch ihre Hand nicht los. Ihre Augen waren fiebrig, und ihre Stimme zitterte.

»Würdest du mit mir schlafen wollen?«

Lenka klappte den Mund auf. Und sofort wieder zu.

Naomi rückte noch näher, kletterte schnell wie ein Äffchen auf Lenkas Schoß und umschlang sie mit den Beinen.

»Nur heute«, flüsterte sie, und ein Schauder durchfuhr Lenka, als sie Naomis Atem an ihrem Ohr spürte. »Nur heute, nur du und ich. Keine Regeln, keine Verpflichtungen. Was ist denn schon dabei?«

Lenka schloss die Augen und gestattete es sich einen winzigen Moment lang, Naomis Lippen auf ihrem Hals zu genießen. Diese arbeitete sich mit kleinen, fast hingehauchten Küssen zu ihrer Schulter hinunter, zog das Shirt beiseite und küsste die freigelegte Haut. Mit der einen Hand hielt sie immer noch Lenkas Rechte fest, die sie nun langsam an ihren eigenen Oberkörper heranführte und gegen ihre Brust drückte. Nur das hauchdünne Hemdchen trennte Lenkas Finger jetzt noch vom direkten Hautkontakt.

Lenka konnte nicht anders: Sie griff zu und konnte förmlich spüren, wie sich Naomis Brustwarze unter ihren Fingern aufrichtete. Naomi stieß einen kehligen Laut aus und warf den Kopf zurück. Fahrig glitten ihre Finger zu den Trägern ihres Hemdes und streiften es von den Schultern. Lenka keuchte, als sie Naomis Brüste nun völlig nackt sehen konnte, sanft beleuchtet vom Licht der Nachttischlampe.

Naomi packte Lenkas Hände, diesmal alle beide, und presste sie erneut an ihren Oberkörper. Dann griff sie Lenka in die Haare und zerrte sie über sich. Ehe Lenka sich versah, lag Naomi auf dem Rücken und sie selbst über ihr, an einer Brustwarze saugend und mit ihren Fingern an der anderen spielend. Naomi wand sich und keuchte. Dann schob sie die Finger unter den Saum von Lenkas Pullover und begann ihn hochzuschieben.

Da endlich erwachte Lenka aus ihrer Trance. »Nein!«

Naomi hatte sie entweder nicht gehört – oder absichtlich überhört, denn sie machte einfach weiter.

»Nein!«, wiederholte Lenka etwas lauter, packte Naomis Hände und schob sie weg. Es fiel ihr selbst unglaublich schwer, sich von Naomis warmem, duftenden Körper zu lösen.

Naomi blieb liegen, ihre Brüste hoben sich schnell und heftig. »Was ist denn?«

»Es geht nicht«, flüsterte Lenka und stemmte sich mühsam wieder in eine aufrechte Position. »Tut mir leid, ich . . .«

Naomi sah zu ihr auf. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Brustwarzen nach wie vor steil aufgerichtet. Und wenn Lenka nicht alles täuschte, erkannte sie auf ihrem Höschen einen kleinen, feuchten Fleck. Aber vielleicht war das auch nur das Schattenspiel der Lampe.

»Ich würde wirklich gern«, flüsterte Lenka, die in der Tat am liebsten alle Bedenken über Bord geworfen hätte und über Naomi hergefallen wäre. »Aber ich . . . ich denke . . . es wäre einfach keine gute Idee, verstehst du?«

Auf Naomis Gesicht wechselten sich verschiedene Gefühle ab. Lenka befürchtete schon, die Kleine würde entweder in Tränen ausbrechen oder sie wutentbrannt wegjagen. Schon wieder . . .

Aber sie hatte sich getäuscht.

»Ich verstehe.« Naomi setzte sich auf, und inzwischen klang ihre Aussprache schon fast wieder normal. »Und ich glaube, du hast recht.« Sie nickte, als wolle sie ihre eigenen Worte bestätigen. Dann ergriff sie erneut Lenkas Hand. »Danke.«

»Keine Ursache«, murmelte Lenka, die sich bemühte, nicht weiter auf Naomis Brüste zu starren.

»Oh!« Naomi kreuzte die Arme vor der Brust. »Sorry . . .!« Sie angelte nach ihrer Decke und knüllte sie vor ihrem Körper zusammen. Anschließend sank sie in die Kissen zurück, kuschelte sich dort ein und lächelte Lenka an. »Du bist echt lieb.«

»Hm . . .«, machte Lenka und rieb unauffällig die Oberschenkel aneinander, um zumindest ein bisschen von dem Druck loszuwerden, der dort unten immer noch herrschte. Sie klopfte unbeholfen auf die Stelle, an der sie Naomis Schulter unter der Decke vermutete, und machte dann Anstalten aufzustehen. »Ich sollte dann wohl mal lieber –«

»Nein!« Naomis Finger schlossen sich blitzschnell wie ein Schraubstock um Lenkas Handgelenk. »Bitte nicht! Bitte bleib bei mir!« Sie zögerte, presste die Lippen zusammen. »Ich mag heute Nacht nicht allein sein. Bitte . . .!«

Lenka zögerte.

Dann sagte sie: »Okay.«

Naomi grinste selig. »Du bist echt schwer in Ordnung.« Damit schmiegte sie sich in die Kissen und schloss die Augen, ohne dabei Lenkas Hand loszulassen. »Schwer in Ordnung bist du . . .«

Lenka wartete noch einen Augenblick, unentschlossen und etwas verwirrt über ihre spontane Bereitschaft, die Nacht bei Naomi zu verbringen.

Bei ihr. Nicht mit ihr. Da musste man eindeutig unterscheiden.

Sie war sich immer noch nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Denn man konnte den Tatsachen ruhig ins Auge sehen: Naomi war scharf.

Scharf im Sinne von »niedlich, anziehend und sexy«.

Und Lenka war jetzt – dummerweise ebenfalls scharf.

Scharf im Sinne von »feucht im Höschen«.

Deshalb wäre sie am liebsten nach Hause gegangen. Entweder hätte sich ihr erhitztes Gemüt im Regen abgekühlt, oder sie hätte in ihrem eigenen Bett . . . nun ja, geeignete Mittel und Wege zur Abhilfe gefunden.

Nervös bewegte Lenka erneut die Beine und konnte dabei deutlich spüren, wie sich die Nässe dazwischen weiter ausbreitete.