Robert Louis Stevenson


Der Schatz von Franchard

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-129-9


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Achtes Kapitel - Der Lohn des Philosophie



Am nächsten Morgen wurde der Doktor, nur noch ein Schatten seines alten Ichs, unter Casimirs Obhut zurückgebracht. Sie fanden Anastasie und den Jungen zusammen am Feuer sitzend. Desprez, der seine Toilette gegen eine billige, fertig gekaufte Ausrüstung eingetauscht hatte, winkte ihnen beim Eintritt mit der Hand zu und sank dann, der Rede nicht mächtig, in den nächsten Stuhl. Madame wandte sich direkt an Casimir.

"Was ist geschehen?" rief sie.

"Ja," sagte Casimir, "was habe ich euch die ganze Zeit über gepredigt? Es ist jetzt eingetroffen. Diesmal ist radikal Schluß. Also ist’s am gescheitesten, ihr nehmt euch zusammen und tragt es, so gut ihr könnt. Das Haus gleichfalls futsch, was? Pech, das muß ich sagen."

"Sind ... sind ... wir ruiniert?" stammelte sie.

Der Doktor streckte ihr die Arme entgegen. "Ruiniert," entgegnete er, "ruiniert durch deinen unglückseligen Gatten."

Casimir beobachtete die darauf folgende Umarmung durch das Einglas und wandte sich dann an Jean-Marie. "Hörst du?" sagte er. "Sie sind ruiniert; keine einträglichen Geschäftchen mehr, kein Haus, keine fetten Koteletts. Es scheint mir, mein Freund, daß du jetzt am besten dein Bündel schnürst; die gegenwärtige Spekulation hat sich so ziemlich erschöpft." Und er nickte ihm vielsagend zu.

"Niemals!" rief Desprez, aufspringend. "Jean-Marie, wenn du es vorziehst, mich jetzt, wo ich arm bin, zu verlassen, kannst du gehen. Du wirst deine hundert Francs erhalten, falls mir so viel noch bleibt. Wenn du aber bei uns bleiben willst," der Doktor vergoß ein paar Tränen "Casimir bietet mir eine Stellung an, als Buchhalter", fuhr er fort. "Das Gehalt ist zwar kärglich, aber es reicht für drei. Es ist schon zu viel, mein ganzes Vermögen verloren zu haben; muß ich auch noch meinen Sohn verlieren?"

Jean-Marie schluchzte bitterlich, ohne indes eine Silbe von sich zu geben.

"Ich kann Jungen, die ewig weinen, nicht leiden", bemerkte Casimir. "Dieser hier weint ununterbrochen. Hör mal, du da, verdufte jetzt auf ein Weilchen; ich habe mit deinem Herrn und deiner Herrin Geschäftliches zu besprechen, und diese Familiengefühle können, wenn ich fort bin, ihre Erledigung finden. Marsch!" und er hielt ihm die Tür auf.

Jean-Marie schlich davon, wie ein überführter Dieb. Um zwölf saßen, mit Ausnahme von Jean-Marie, alle bei Tisch.

"He!" sagte Casimir. "Fort, wie du siehst. Hat sich sofort den Wink gemerkt."

"Ich gestehe," sagte Desprez, "ich gestehe, daß ich seine Abwesenheit nicht zu entschuldigen suche. Sie bezeugt einen Mangel an Herz, der mich schwer enttäuscht."

"Mangel an Manieren", verbesserte Casimir. "Herz hat er niemals gehabt. Wirklich, Desprez, für einen klugen Menschen bist du so leicht hereinzulegen wie kein anderer auf der Welt. Dein Unverständnis der menschlichen Natur und menschlicher Geschäfte übersteigt alle Begriffe. Erst wirst du von heidnischen Türken beschwindelt, dann von vagabundierenden Kindern, beschwindelt von oben bis unten, von rechts nach links. Ich glaube, deine Phantasie ist schuld. Dem Himmel sei Dank, daß ich keine habe."

"Verzeihung," erwiderte Desprez demütig, aber dennoch mit einigem Temperament, da es hier einen Unterschied zu ziehen galt, "Verzeihung, Casimir. Du besitzt in hohem Maße geschäftliche Phantasie, während der Mangel daran, es scheint, das ist mein schwacher Punkt, mir alle diese Schläge verursacht hat. Dank der geschäftlichen Phantasie sieht der Financier das Schicksal seiner Investierungen voraus, erkennt er das Fallissement ... ."

"Donnerwetter," unterbrach ihn Casimir; "unser Freund, der Stalljunge, scheint seinen Teil davon abbekommen zu haben."

Der Doktor verstummte, und das Mahl wurde begleitet in der Hauptsache von dem nicht gerade sehr trostreichen Gespräch des Schwagers. Die beiden jungen englischen Maler ignorierte er vollständig, indem er allen ihren Grüßen ein vollständig blindes Einglas entgegenkehrte, und setzte seine Bemerkungen fort, als befände er sich allein im Schoße der Familie. Mit jedem zweiten Wort versetzte er dem Ballon der Eitelkeit seines Schwagers einen neuen Riss. Als der Kaffee zu Ende war, war der arme Desprez so schlaff wie eine Serviette.

"Nun wollen wir gehn und die Ruinen besichtigen", sagte Casimir.

Sie schlenderten zusammen auf die Straße. Der Sturz des Hauses hatte, ähnlich wie eine Zahnlücke einem menschlichen Antlitz, dem Dorfe ein gänzlich verändertes Aussehen gegeben. Durch den so entstandenen Spalt gewann man einen weiten Blick über eine große Strecke freien, schneebedeckten Landes, und der Ort selbst schien durch den Vergleich zusammenzuschrumpfen. Er glich einem Raum mit einer offenen Tür. Die Schildwache stand neben dem grünen Tor und sah sehr rot und verfroren aus, hatte aber ein freundliches Wort für den Doktor und seinen reichen Verwandten.

Casimir blickte auf den Trümmerhaufen und prüfte die Qualität des Öltuches. "Hm," sagte er, "hoffentlich hat das Kellergewölbe standgehalten. Ist das der Fall, mein guter Bruder, so bin ich bereit, dir für deine Weine einen anständigen Preis zu zahlen."

"Wir werden morgen zu graben anfangen", sagte die Schildwache. "Schneegefahr ist ja nicht mehr vorhanden."

"Lieber Freund," entgegnete Casimir bedeutungsvoll, "warten Sie lieber, bis Sie Ihr Geld bekommen haben." Der Doktor zuckte zusammen und begann, seinen unmöglichen Schwager zu Tentaillons zurückzuschleppen. Im Hause würde es weniger Lauscher geben, außerdem waren sie ja bereits in das Geheimnis seines Falls eingeweiht.

"Hallo!" rief Casimir, "da geht der Stalljunge mitsamt seinem Gepäck. Nein, bei Gott, er bringt es ins Wirtshaus zurück."

Wahrhaftig, Jean-Marie überquerte gerade den schneeigen Fahrdamm und ging, unter einem großen Korb fast zusammenbrechend, zu Tentaillons hinein. Der Doktor hielt, von einer plötzlichen, wilden Hoffnung gepackt, inne.

"Was kann er da nur haben?" fragte er. "Wir wollen gehn und nachsehn." Und er hastete weiter.

"Sein Gepäck, natürlich", spottete Casimir. "Er befindet sich auf der Wanderschaft, dank seiner geschäftlichen Phantasie."

"Ich habe den Korb dort seit, seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen", bemerkte der Doktor.

"Und du wirst ihn auch in Ewigkeiten nicht wiedersehen", lachte Casimir höhnisch; "das heißt, wenn wir uns nicht einmischen. Übrigens bestehe ich auf einer Untersuchung."

"Das wird nicht nötig sein", sagte der Doktor, tatsächlich schluchzend, und einen feuchten, triumphierenden Blick auf Casimir werfend,fing er zu laufen an. "Was zum Teufel ist in ihn hineingefahren?" überlegte sich Casimir; und als seine Neugierde siegte, folgte er dem Beispiele des Doktors und setzte sich in Trab. Der Korb war so schwer und groß und Jean-Marie selbst so klein und müde, daß er eine lange Zeit gebraucht hatte, um ihn die Treppe hinauf in Desprez’ Privatzimmer zu befördern. Eben hatte er ihn vor Anastasie niedergesetzt, als der Doktor, dicht gefolgt von dem Mann der Geschäfte, erschien. Knabe und Korb waren beide in einem traurigen Zustand, denn der eine hatte vier Monate unter der Erde in einer gewissen Höhle in der Richtung von Achères zugebracht, und der andere war etwa fünf Meilen gelaufen, so schnell seine Beine ihn nur tragen konnten, die Hälfte der Strecke dazu unter einer erdrückenden Last.

"Jean-Marie," rief der Doktor mit einer Stimme, die allzu seraphisch war, um hysterisch zu sein, "ist das ...? Er ist es!" schrie er. "Oh, mein Sohn, mein Sohn!" Und er setzte sich auf den Korb und weinte wie ein kleines Kind.

"Jetzt werden Sie doch nicht nach Paris ziehen", sagte Jean-Marie halb zuversichtlich, halb fragend.

"Casimir," sagte Desprez, sein nasses Gesicht erhebend, "siehst du den Jungen da, jenen Engel von einem Jungen? Er ist der Dieb; er nahm den Schatz einem Manne fort, dem man seinen Gebrauch nicht anvertrauen konnte. Er bringt ihn mir zurück, nachdem ich ernüchtert und gedemütigt worden bin. Dies, Casimir, sind die Früchte meiner Lehren und dieser Augenblick der Lohn meines Lebens."

"Tiens", sagte Casimir.

 

 

Inhalt




Erstes Kapitel - Bei dem sterbenden Gaukler

Zweites Kapitel - Eine Morgenunterhaltung

Drittes Kapitel - Die Adoption

Viertes Kapitel - Die Erziehung zum Philosophen

Fünftes Kapitel - Der Schatz wird gefunden

Sechstes Kapitel - Eine Kriminaluntersuchung in zwei Teilen

Siebentes Kapitel - Der Fall des Hauses Desprez

Achtes Kapitel - Der Lohn des Philosophie

 

 

 

Erstes Kapitel - Bei dem sterbenden Gaukler



Kurz vor sechs hatte man nach dem Bourroner Arzt geschickt. Um acht fanden sieh die Dorfbewohner zur Vorstellung ein, und man sagte ihnen, wie es stünde. Daß ein Gaukler ganz wie ein richtiger Mensch zu erkranken wagte, erschien ihnen als Dreistigkeit, und sie gingen murrend wieder fort. Um zehn begann Madame Tentaillon ernstlich besorgt zu werden und schickte die Straße hinunter zu Doktor Desprez. Der Bote traf den Doktor zu Hause in der einen Ecke des kleinen Speisezimmers über seinen Manuskripten, während seine Frau in der anderen Ecke neben dem Feuer ihr Nickerchen machte.

"Sapristi!" sagte der Doktor, "Ihr hättet mich früher rufen sollen. Der Fall scheint eilig." Und er folgte dem Boten, ohne sich umzuziehen, in Pantoffeln und Hauskäppchen.

Der Gasthof lag keine dreißig Meter entfernt, aber der Bote machte dort nicht halt. Er ging zur einen Tür hinein und zur anderen hinaus in den Hof und schritt voran eine kurze Treppe hinauf, die neben dem Stall auf den Heuboden führte, wo der kranke Gaukler lag. Und wenn Doktor Desprez tausend Jahre alt werden sollte, wird er seinen Eintritt in den Raum nicht vergessen. Die Szene, die sich ihm bot, war nicht nur äußerst malerisch, sondern der Moment sollte ein Markstein in seinem Leben werden. Wir pflegen unser Leben, warum, weiß ich nicht, von unserem ersten kläglichen Auftreten in der menschlichen Gesellschaft, also von unserer ersten Niederlage an, zu datieren, denn mit üblerem Anstande betritt wohl kein Schauspieler die Bühne. Um jedoch nicht zu weit zurückzugreifen und uns überflüssiger Neugierde schuldig zu machen, wollen wir lieber feststellen, daß es in unser aller Leben später noch zahlreiche rührende und einschneidende Ereignisse gibt, die mit ganz dem gleichen Recht wie der Tag der Geburt eine Periode eröffnen. Da war zum Beispiel Doktor Desprez, ein Mann in den Vierzigern, der, wie man es wohl nennt, im Leben gescheitert und überdies noch verheiratet war, und der sich hier vor einem neuen Lebensabschnitt befand im Augenblick, da er die Tür öffnete, die zu dem Heuschober über Tentaillons Stall führte.

Es war ein großer Raum, den nur eine einzige Kerze vom Fußboden her erhellte. Der Gaukler lag aus einer Matratze auf dem Rücken; er war von massigem Körperbau mit einer Nase à la Don Quichotte, die vom Trinken gerötet war. Madame Tentaillon beugte sich über ihn mit einer feuchten, heißen Senfpackung für seine Füße; dicht daneben auf einem Stuhl baumelte ein Bürschchen von elf, zwölf Jahren mit den Beinen. Diese drei waren, die Schatten ausgenommen, die einzigen Bewohner des Schuppens. Allein die Schatten bildeten an sich schon eine ganze Gesellschaft; der große Raum verzerrte sie ins Riesenhafte, und von unten her traf das Licht der Kerze nach oben und schaffte groteske und verunstaltende Verkürzungen. Das Profil des Gauklers war an der Wand zur Karikatur vergrößert, und es war seltsam anzusehen, wie seine Nase im Luftzug der Flamme sich verlängerte und zusammenschrumpfte. Was Madame Tentaillon anbetrifft, so glich ihr Schatten einem einzigen Riesenhöcker, den von Zeit zu Zeit an Stelle eines Kopfes eine Halbkugel krönte. Die Stuhlbeine waren zu spindeldürren Stelzen verlängert, und der Junge hockte über ihnen wie eine Wolke dicht unter der einen Dachecke.

Der Junge vor allem nahm den Doktor gefangen. Er hatte einen großen gewölbten Schädel, Stirn und Hände eines Musikers und ein Paar Augen, die einen nie wieder losließen. Es kam nicht daher, daß sie groß waren, von sanftestem, rötlichem Braun und sehr fest blickten. Daneben war noch etwas an ihnen, das den Doktor bis ins Innerste berührte und ihn fast mit Unruhe erfüllte. Er wußte, daß er diesem Blick schon vorher begegnet war, konnte sich aber des Wie und Wo nicht erinnern. Es war, als hätte dieser Junge, den er noch nie zuvor gesehen hatte, die Augen eines alten Freundes oder vielleicht auch eines Feindes. Und der Junge ließ ihn nicht zur Ruhe kommen; er schien in höchstem Maße gleichgültig gegen alles, was um ihn her vorging, vielmehr durch eine überlegene Ruhe von ihm getrennt. Da saß er mit über dem Schoße gefalteten Händen und baumelte sanft mit den Beinen gegen die Querleisten des Stuhles. Und trotzdem folgten seine Augen dem Doktor auf Schritt und Tritt mit gedankenvoller Beharrlichkeit. Desprez wußte nicht, ob er den Jungen faszinierte oder der Junge ihn. Er machte sich mit dem Kranken zu schaffen, stellte Fragen, fühlte den Puls, scherzte, ereiferte sich ein wenig und fluchte: und dennoch! Wenn er sich umblickte, da waren die braunen Augen und warteten auf ihn mit dem gleichen fragenden, melancholischen Blick.