Simona Ryser

Der Froschkönig

Roman

Limmat Verlag

Zürich

für E. R.

… frogs come out of the sky like rain.

Anne Sexton, Wildwood

Prolog

Als Leo sich auf den Mann zubewegte, hörte sie das leise Plitsch Platsch, Plitsch Platsch in ihrem Rücken. Es sind unanständige Geräusche, die ein Frosch macht, wenn er auf dem blanken Boden hüpft. Er klatschte mehrmals deutlich auf das Parkett. Als Leo die Augen schloss, erstarrte er. Der Frosch musste einen, vielleicht zwei Meter hinter ihr sitzen. Bestimmt machte er einen kleinen, feuchten Fleck auf das Holz. Vielleicht bebte er innerlich, der Frosch, ein winziges, hüpfendes Amphibienherz. Sein kleiner, grüner Körper zitterte still vor sich hin, während Leo nun einen Geruch einsog von Kaffee und Erde und mit ihrer Wange eine andere Wange berührte, wo sich eine Wärme ausbreitete.

Einen Moment lang verharrte sie. Sie stand schief. Etwas irritierte sie, der Name, ihr Name, der unscharf wurde und sich plötzlich fremd anfühlte. Sie überlegte kurz und fügte ein n an, doch Leon ging nicht. Mit so einem Namen konnte sie unmöglich küssen. Sie war kein Mann, kein Kind, kein Löwe und so fügte sie noch ein langes i an, was sich besser anfühlte. Jedenfalls stand sie nun wieder ganz gut. Leonie. So konnte sie den Kopf senken, in diesen Duft von Erde und in diese Wärme. Sie blies mit ihrem Atem in ein feines Ohr, das sich spitzte. So wollte sie bleiben, an diesem Körper und an diesem Mann, der ihr nun so nahe stand, in diesem Moment, der noch unentschieden war, in dieser Nähe, noch vor der Bewegung, noch vor der Drehung, bevor sich die beiden Köpfe einander zuneigen würden.

Der Frosch aber verdrückte sich in die Ecke, denn, auch wenn er nicht denken konnte, wusste er genau, wer hier Prinz war und wer Frosch.

1
Sonntag, 20. April 2014, abends

Leo nieste. Was war das nur für ein Geruch. Sie klappte den Laptop zu und stand vom Schreibtisch auf. Etwas gebückt ging sie im Halbdunkel durch das Appartement. Es roch abgestanden und fremd. Nach Reinigungsmitteln, die sie nicht kannte. Im Teppich und in den Möbeln sammelten sich die Gerüche der Vormieter. Leo ließ sich aufs Sofa fallen und sank tief. Ausgeses­senes Polster. Sie musste an die Körper denken, die hier schon geruht und gelegen hatten. Jeder Leib, jedes Gewicht hatte die Sitzkissen ein Stück zusammengepresst, einige Millimeter tiefer gedrückt, die Rückenlehne flach gemacht. Leo strich über den Manchesterstoff und versuchte, die Farbe zu eruieren. Etwas Fahles, eine Art Braun, Braungrau, eine leergesessene Farbe. Sie ließ die Beine über die Armlehne hängen und schloss die Augen. Noch verspürte sie ein leises Wanken, einen Schwindel im Kopf. Die Zugfahrt Zürich – Frankfurt, dann mit dem Regio­nalzug hierher. Leo atmete tief und blinzelte. Dann setzte sie sich aufrecht hin, in die Mitte des Sofas. Hier saß sie tief, die Knie ragten in die Höhe. An dem Punkt hatten wohl alle geses­sen. Die Vormieter. Sie waren vorübergehend hier, vielleicht ein paar Monate, höchstens ein Jahr, vielleicht nur eine Woche. Wie Leo.

Eine Woche würde reichen für die Studie. Eine Bestandesaufnahme. Die Situation vor Ort anschauen, Fotos schießen, mit ein paar Leuten sprechen, der Workshop mit den Anwohnern. Ende Woche würde sie zurück nach Zürich fahren. Sie rechnete mit zwei Monaten für die Auswertung. So hatte sie es der Projektleiterin versprochen.

Leo stand auf und streckte sich. Wieder nieste sie. Sie ging in die Hocke, auf die Knie, dann legte sie den Kopf auf den Teppich und schnupperte. Mit dem Zeigefinger pulte sie in den Teppichflusen. Hausstaub. Sie zerrieb kleinste Partikel zwischen den Fingern. Grauer Sand. Zermahlene Körperreste, Haut­stücke, In­sektenteile, Spinnenbeine, Staubmilben, Kleider- und Mö­­­bel­abrieb, Straßenabrieb, Schadstoffe, die im Teppich endlagerten. Leo legte sich auf den Rücken. Unter ihr die Essenz der Vormieter in den Flusen. An der Decke entdeckte sie ein paar ein­ge­trocknete Wasserflecken. Dann hörte sie ein fernes Geräusch. Ein Quietschen, ein Quaken.

Leo atmete tief, aktivierte das Powerhouse und machte ein Roll-up. Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und schloss ihn mit einem heftigen Stoß. Dann war es still. Dann ratterte das Gerät kurz und fiepte wieder leise, aber regelmäßig.

Leo ging zurück ins Wohnzimmer. Stadtentwicklung City West. Die Projektleiterin war begeistert von der Industriebrache hinter dem Fluss. Leo kannte die Geschichte der lokalen Industrie. Unterdessen standen die meisten Fabriken leer, in einigen stillgelegten Hallen hatten sich Büros zur Zwischennutzung eingerichtet. Eine Leimfabrik war noch in Betrieb.

Sie öffnete das Fenster. Das Rauschen der Stadtautobahn schlug ihr entgegen. Sofort dachte sie ans Einhausen, Begrünen. Da war einiges Potenzial vorhanden.

Sie wendete den Kopf langsam nach links, langsam nach rechts, sie atmete ein, aus. Die Autos kreuzten. Stau und Fluss, ankommende und wegfahrende Bevölkerung. Auch am Sonntag. Frankfurt war dicht und teuer. Die Leute wichen in die kleineren Städte aus, wo die Mieten noch günstiger waren. Die Pendeldistanz zumutbar. Hier hatte man die Entwicklung verschlafen. Nun wollte man aufholen. Die Projektleiterin hatte sie bei dem letzten Treffen vorgewarnt. Sie habe es vorwiegend mit älteren Herren zu tun, die am liebsten alle Aufträge an ihre Freunde weitergeben würden.

Leo ging ein paar Schritte. Unter dem Teppich knarrte der Boden. Man müsste das Holz hervorholen. Auch in diesem Appartementhaus war noch Potenzial. Das Klirren aus der Küche schien ihr nun lauter.

Sie strich mit den Fingerspitzen über den Fenstersims und das Sideboard. Eine helle Staubschicht blieb haften. Sie klatschte in die Hände, der Staub flog auf, Leo nieste. Vielleicht hatte hier jemand Abendkurse gegeben. In Mathematik, in Astrophysik, in Kryptologie. Vielleicht ließ sich auf der Schreibmatte der Abdruck einer schnell notierten Formel finden. Vergessene Notizen, kleine Einritzungen auf dem Holztisch.

Zögern Sie nicht, rufen Sie an, stand auf einem plastifizierten Zettel neben dem Telefon. Die Nummer des Hausdienstes und des Notarztes, der Feuerwehr, der Polizei. Leo überleg­­te kurz. Sie könnte den Hausdienst anrufen. Würden Sie bitte die­sen Geruch wegmachen. Verwenden Sie bitte ein anderes Reinigungsmittel. Wer war vor mir hier gewesen? Er hat hier etwas vergessen. Ich habe ein Barthaar gefunden.

Im Schlafzimmer öffnete sie den Kleiderschrank. Der Geruch von Mottenkugeln strömte ihr entgegen. Die Tablare waren mit einer hellbraunen Folie überzogen. So ließen sie sich leicht reinigen, zur Not auch neu überziehen. Leo hätte wünschen können. Zögern Sie nicht.

Ich hätte gerne eine andere Schrankablagenfarbe. Orange. Lieber blau.

Leo schaute auf die Uhr. Die Projektleiterin hatte morgen früh ein Treffen angesagt mit dem Stadtbaumeister, dem Statistiker, einem von den Finanzen und ein paar weiteren Leuten. Sie schloss das Fenster im Wohnzimmer. Die Lichter zogen geräuschlos vorbei. Die Fenster waren neu. Schalldicht.

Zurück im Schlafzimmer, setzte sie sich wieder an den Schreibtisch. Sie notierte ein paar Stichworte für die Sitzung, dann blinkte der Laptop leise. Nebenan saß der Frosch. Sein Körper zitterte ein wenig. Es war spät geworden. Sie schaute aus dem Fenster ins Dunkel. Ein flacher, schwarzer Bergrücken hob sich schwach vom dunklen Abendhimmel ab. Der Hügel musste bewaldet sein. Da wohnte keiner.

Leo machte die kleine Lampe an und sah ihr Spiegelbild im Fenster. Ein bleiches Gesicht, die dunklen Haare hochgesteckt, senfgelbe Strickjacke. Leo schaute zum Koffer, der un­aus­geräumt neben dem Bett stand. Dann schaute sie zurück zum Fensterbild, öffnete die Spange und ließ das Haar auf die Schultern fallen.

Spieglein, Spieglein an der Wand, sagte sie mit lauter, singender Stimme. Der Frosch schaute sie mit großen Augen an. Leo schaute zurück. Dann machte sie die Pultlampe aus und ging ins Badezimmer. Endlich duschen.

Montag, 21. April 2014, morgens

Die Fingernägel der Projektleiterin leuchteten rot. Sie klap­perte mit den Armreifen und griff zur Kaffeetasse. Neben ihr saßen der Stadtbaumeister, seine Assistentin, einer von den Finanzen und einer von den Verkehrsbetrieben. Der Statisti­ker fehlte. Leo warf einen Blick in ihr Notizheft, Stärken und Schwä­chen des Quartiers. Weitere Informationen?

Muss ich noch was wissen?, fragte sie.

Draußen war es feucht und warm. Viel zu warm für die Jahreszeit. Sie hatte das braune Hemdkleid angezogen, zum Glück keine Strümpfe. Die Assistentin tippte fortwährend in ihren Laptop, ohne den Blick von Leo abzuwenden. Die Projektleiterin rutschte auf dem Stuhl hin und her.

Ich denke, wir sind jetzt auf demselben Stand.

Der Stadtbaumeister fragte nach der Westtangente. Leo sprach von der unterirdischen Verkehrsführung und machte eine rasche Skizze. Er beugte sich über die Zeichnung. Die grau­en Haare stießen steif auf dem Kragen auf. Helle Schuppen sprenkelten das dunkle Jackett.

Leo sah aus dem Fenster. Grüne, nasse Blätter, die von der Birke hingen und vom Regen leuchteten. Kein Vogel zu sehen. Eine kleine Bewegung nur, ein Zittern von den Regentropfen, die auf die Blätter fielen. Es roch. Leo konnte das Grün riechen, das frische Grün und die feuchte Erde, den dampfenden Asphalt. Es war so warm, dass sich Gerüche entwickeln und durch das gekippte Fenster dringen konnten.

Das Wasser fiel schätzungsweise mit einer Niederschlagsmenge von 0,2 bis 0,5 mm pro Stunde vom Himmel, was ei­­nem leichten Regen entspricht, sodass man zur Not auch ohne Schirm gehen konnte, vielleicht den Kragen hochstellte. Ein feiner Regen, von bloßem Auge kaum wahrnehmbar. Jemand nieste. Leo senkte den Blick. Sie sah den Frosch. Lautlos blähte er die beiden Schallblasen.

Leo schaute auf die Uhr. Sie erklärte, wie sie vorgehen würde und was sie für die Woche geplant hatte. Dann kam sie noch auf den Zustand des Bodens zu sprechen. Sie hatte eine ungefähre Schadstoffbilanz vorliegen. Man musste ein sinnvolles und realistisches Szenarium finden, um den kontaminierten Boden zu sanieren. Das Treffen mit den Fachleuten für die Bodensanierung war für Mittwoch geplant. Der Stadtbaumeister schob ihr eine Visitenkarte hin.

Halten Sie sich am besten an diese Leute, sagte er mit gedämpfter Stimme, dann verließ er den Raum.

Leo warf der Projektleiterin einen fragenden Blick zu. Diese zuckte mit den Schultern, warf die Visitenkarte in den Pa­pier­korb und lächelte Leo mit leuchtenden Augen zu. Leo fragte die Assistentin nach den Anmeldungen für den Workshop mit den Bewohnern, dann erhob sie sich. Mit einem Nicken verabschiedete sie sich und trug ihre Unterlagen ins Großraumbüro, wo ein Arbeitsplatz für sie leer geräumt worden war.

An die Arbeit, sagte sie halblaut und versuchte, sich an dem fremden Pult einzurichten. Telefonkritzeleien auf einem Notizblock. Zwei Ansichtskarten, eine mit Meer und eingezeichneter Palme, eine mit Schneebergen. In der Schublade allerlei Zettel, Stifte und Papier. Einer war in unbezahltem Urlaub. Oder im Burn-out. Der Frosch jedenfalls quakte jämmer­lich.

Zwei Wochen früher

Sie hatte das Buch zufällig entdeckt, als sie für die Vorbesprechung hier gewesen war. Sie wollte sich mit der Projektleiterin den Flächennutzungsplan vor Ort anschauen. Leo war vom Bahnhof losgegangen, da fing es an zu regnen, sie musste sich irgendwo unterstellen. Ein Buchantiquariat.

Sie schaute zu, wie die Straße allmählich nass wurde. Auf dem Asphalt bildeten sich dünne, lange Wasserlachen. Die Wolken am Himmel hatten sich zu einer dunklen Masse geballt und hingen schwer über der Stadt. Die Autos fuhren langsamer, es waren kaum noch Leute auf der Straße. Leo schaute sich um. Hinter ihr waren einige Bücherkisten aufgestellt. Gedankenverloren ging sie die alten, staubigen Titel durch. Schulliteratur. Mengenlehre, Astronomie, Biologie.

Sie hatte das Buch sofort erkannt. Ihr Vater hatte es jahrelang herumgetragen. Es lag auf seinem Pult, auf dem Sofatisch, dem Küchentisch, manchmal im Badezimmer. Ein eigentümlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Alter, konservierter Staub und Feuchtigkeit, ein Kellergeruch, Dreck, Moder und Spor. Der Lack blätterte. Wasserflecken bedeckten das Bild und die Schrift. Ein Wasserfrosch, dazu die Aufschrift: Rettet die Amphibien! Ein eigenartiger Titel.

Sie schlug das Erscheinungsjahr nach, 1975, herausgege­ben von einer Interessengemeinschaft, die sich für den Schutz bedrohter Amphibien einsetzte und neben der Auflistung des Bedrohungsgrades der einzelnen Tiere Tipps für die Ansiedlung von Lurchen gab, Biotopbauanleitungen, und wie den Frö­schen in der Paarungszeit über die Straße zu helfen sei.

Der Regen wurde dichter. Leo fror. Sie betrat das Antiquariat, bezahlte, ohne das weitere Sortiment zu beachten, und trat in den strömenden Regen, um nach einem Taxi zu rufen.

Der Geruch des Buches blieb ihr in der Nase haften, auch wenn sie es nun eingetütet in der Handtasche trug. Es war der Geruch des Vaters. Oft hing der Geruch in seinen Kleidern, wenn er vom Büro im Untergeschoss in die Wohnung hochgestiegen war. Sie sah das kleine Metallschild, das an der Tür angebracht war, vor sich: Bureau.

Die Projektleiterin hatte die Hände verworfen, als sie Leo mit dem feuchten Haar sah.

Kommen Sie, Sie kriegen gleich eine Tasse heißen Tee, hat­­te sie mit hoher Stimme gerufen. Auf dem Pult lag der Flächennutzungsplan. Leo winkte ab und startete den Laptop.

Sie war noch am selben Abend zurückgefahren. Sie hatte sich eine Zeitung gekauft, doch ließ sie ungelesen in der Tasche ­stecken. Sie hatte sich in den Sessel gelehnt und die hochge­zogenen Schallschutzwände vorbeiziehen lassen. Häuser, bald vereinzelte Gebäude, zerfallene Fabrikareale, Felder. Ihr Körper wurde schwer. Sie saß tief in den Sessel gedrückt. Durch das Fenster sah sie aufs Land. Felder zogen vorbei, gelbe, grüne, braune Rechtecke. Ein paar Häuser, eine Fabrik, dann wieder Wald, Feld, Wiese. Lang gezogene Straßen, parallel zur Zug­linie. Die Autos auf der Landstraße standen still. Der Zug fuhr Höchstgeschwindigkeit.

Leo schloss die Augen und hatte den Geruch in der Nase. Den Geruch des Vaters. Papier, Bleistift, feuchter Staub, Zement. Sie dachte an das Bureau, das Reißbrett, an dem der Vater ­stundenlang gestanden hatte und, die Brille auf der Nasen­spitze, lange Linien zog, die sich im rechten Winkel schnitten. Zwischendurch fuhr er weg, auf Baustellenbesuch.

Leo blinzelte. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Grauer Bo­­den, dunkles Land, schwarzer Wald. Der Himmel war schon dunkelrot verfärbt, die Wolken bildeten blauschwarze Schlieren am Horizont.

Leo fror. Sie zog sich die Strickjacke über. Eines Tages hatte ihr Vater das Buch nach Hause gebracht. Er hatte es herum­liegen lassen. Zunächst im Bureau. Später brachte er es in das Wohnzimmer. Dort lag es auf dem Sofatisch. Neben den Vogelbüchern. Leo hatte nie nachgefragt. Auch Mutter nicht. Aber wenn der Vater weg war, hatte Leo in dem Buch geblättert.

Sie öffnete die Augen und zog es aus der Tasche. Auf dem Umschlag war ein Frosch abgebildet. Grün, mit dunklen Flecken und einem hellen Strich auf dem Rücken. Sie blätterte ein paar Seiten um. Das Papier war trocken, die Farben etwas ausgeblichen.

Amphibien oder Lurche gehören zu den Wirbeltieren. Sie leben zunächst im Wasser, nach einer Metamorphose ist ihnen das Leben an Land oder im Wasser möglich. Es gibt Froschlurche (Scheibenzüngler, Frösche und Kröten), Schwanzlurche (Molche und Salamander) und Schleichenlurche.

Sie legte das Buch weg. Draußen war es nun dunkel. Im Fenster sah sie sich gespiegelt. Das Haar zerzaust. Sie schloss die Augen und schlief ein.

2
1975

Vor langer Zeit, als man noch dachte, dass das Wünschen helfen würde, hatte Leo einmal beobachtet, wie Herr Meister regungslos im Garten am Teich gestanden hatte. Mit krummem Rücken, den Kopf vorgereckt, den Arm ausgestreckt. In der Hand hielt er eine Pinzette, und an der Spitze der Pinzette konnte man winzig klein einen sich windenden Mehlwurm ­erkennen. Herr Meister verharrte ohne Bewegung. Er fixierte ein Tier, das sich erst nach längerem Hinsehen vom Hintergrund abhob. Ein fetter, grün melierter Frosch saß ihm zwischen Schilf und Sumpfpflanzen genauso regungslos gegenüber. Leo schlich sich an wie eine Katze. Sie wollte nachsehen, was für ein Froschkönig hier am Teich hockte. Sanft rollte sie die nackten Füße auf dem feuchten Wiesenboden ab. Sie ging geduckt, der Vater konnte sie nicht sehen. Vorsichtig bewegte sie sich vorwärts, während Herr Meister seinen Arm noch länger streckte. Er schob die Pinzette noch ein Stück vor. Er hielt sie so, dass er mit den Fingerkuppen gerade noch genug Druck geben konnte, dass der Mehlwurm eingeklemmt blieb. Der Wurm rotierte. Der Frosch blinzelte. Herr Meister blinzelte. Gleich würde er das Maul aufklappen, die Zunge vorschnellen, gleich würde der Frosch den Wurm schnappen. Herr Meister atmete unhörbar aus und duckte sich noch tiefer. Leo kam ­näher. Dicht am Boden, in unendlicher Langsamkeit und geräuschlos näherte sie sich Herrn Meisters Rücken. Auch sie hatte den Frosch im Auge. Schön schillerte er am anderen Ende des Teichs. Leo hob den Fuß in Zeitlupe, sie streckte das Bein, schob den Oberkörper vor, hob den andern Fuß und streckte das andere Bein. Wie eine zarte Königstochter glitt sie lautlos durchs Gras. Herr Meister war nun tief in der Hocke. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Gleich würde der Frosch zuschnappen. Herr Meister öffnete den Mund.

Dann knackte ein Ast unter Leos Fuß. Ein Donner fuhr in die Erde. Der Frosch sprang in den Teich, der Wurm fiel ins Wasser, Herr Meister ließ die Pinzette fallen, schnellte auf und drehte sich. Leo sprang auf, stand stockstill und presste die Beine aneinander. Die Röte war in Herr Meisters Schädel gefahren. Seine Augen blitzten wie Feuer. Leo war kein Königskind mehr.

3
Montag, 21. April 2014, morgens

Im Großraumbüro wollte der Frosch nicht sein. Leo saß wieder im Appartement am Schreibtisch und sortierte das Material. Einige Statistiken waren veraltet. Einwohner pro Hek­tar Wohnzone, das demografische Wachstum nach Alter, die Flä­­chen Wohnzone, Industriezone, Grünzone. Alles da. Die Zahl der Neuzuzüger allerdings musste in den letzten fünf Jahren um ein Mehrfaches gestiegen sein. Und die Verkehrsfrequenz auf der großen Brücke fehlte. Auch auf der Website des Stadtamts fand sie nichts. Da musste etwas vorhanden sein. Leo ging nochmals die Mails durch. Der Statistiker hatte in umständlichen Worten geantwortet. Leo packte die Unter­lagen in eine Mappe und klemmte sie unter den Arm. Der Fall schien etwas komplizierter. Sie ging wohl am besten persönlich vorbei.

Es hatte aufgehört zu regnen. Leo ging rasch die Tramtrasse entlang. Die Absätze schlugen auf den unebenen Boden auf. Die Füße taten weh, aber die frische, feuchte Luft tat gut. Eine Mischung von Abgasen und Morgenluft stieg ihr in die Nase. Nach einer Weile zog sie die Schuhe aus. Die bloßen Füße klatschten auf den nassen Asphalt. Sie ging schnell. Keiner sonst ging auf dem schmalen Gehweg. Alle fuhren. Autos, Lieferwagen, Fahrräder, die Straßenbahn. Allmählich wurde ihr warm. Sie bog in die Taunusstraße ein. Hier war es etwas ruhiger.

Leo betrat ein Café. Sie stellte sich an die Theke und zog das Telefon aus der Tasche. Die Projektleiterin wollte ein Treffen mit einem möglichen Investor organisieren. Dann trank sie einen kurzen Kaffee.

Als sie aufschaute, sah sie sich im Spiegelbild. Die Haare lose hochgesteckt, das Gesicht verwischt. Ne­ben ihr standen Männer. Lauter Männer, den Blick auf dem Smartphone. Sie trugen dunkle Anzüge, manche dunkle Jeans, alle trugen Hemden. Blaue Hemden, braune Hemden, schwarze Hemden, wenige weiße Hemden. Sie bewegten sich kaum, die Oberkörper fast regungslos, die Oberarme am Körper, die Unterarme hoben und senkten sich, die Hände gestikulierten. Wie eine heimliche Choreografie. Leo stieg auf den Bar­­hocker und richtete sich auf. Dann schaute sie auf den Boden. Turnschuhe. Einige Herrenschuhe. Der eine Fuß gerade, der andere angewinkelt, aufgestellt. Ab und zu Gewichtverlagern. Leo versuchte, die Schuhpaare zu zählen, sechs Turnschuhe, sieben Herrenschuhe. Zwei hochhackige Schuhe. Erst jetzt bemerkte Leo, dass sie noch immer barfuß war. Sie sank etwas zusammen und bestellte einen zweiten Kaffee.

Dann trat sie auf die Straße. Unterdessen schien die Sonne. Bald war der Boden trocken. Sie ging noch ein Stück barfuß, dann schlüpfte sie in die Schuhe und betrat das Rathaus. Mit dem Lift fuhr sie in den 3. Stock. Statistisches Amt. Amtsleiter.

Mit dem Fuß schob Leo den Frosch zur Seite, dann klopfte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie ein. Der Mann saß am Schreibtisch und zuckte zusammen. Tatsächlich war er fortgeschrittenen Alters. Leo lächelte.

Ich hätte gerne die aktuelle Statistik zu den Neuzuzügern.

Der Mann schaute sie fragend an.

Außerdem brauche ich die Verkehrsfrequenz auf der großen Brücke, bitte schön.

Er schob die Brille zurück und zog die Nase kraus.

Die Verkehrsnutzung haben wir. Die muss hier sein.

Er wühlte in einem der Papierstapel auf seinem Bürotisch.

Leo räusperte sich.

Die Neuzuzüger fehlen, die aktuellen Zahlen, wie gesagt.

Er griff zum Telefon. Leo ging ein paar Schritte, dann stellte sie sich ans Fenster. Auch von hier sah man auf den flachen Bergrücken. Von Wald überwachsen. Leo roch das saftige Grün. Am Waldrand konnte man einige vereinzelt stehende Wohnhäuser erkennen. Die Tür ging auf.

Die aktuellen Zahlen.

Sie schaute auf die makellosen Diagramme, die nun auf dem Pult lagen, und griff nach den Papieren.

Schön, sagte sie freundlich, und der alte Herr nickte.

Sag ich ja.

Dann hielt sie inne. Da war etwas, etwas hing noch in der Luft. Da war doch jemand. Gerade war doch da jemand im Raum gewesen. Eben hatte Leo jemandem zugenickt und gelächelt, sie hatte sich schon wieder weggedreht, obwohl sie noch etwas länger hätte. Da war etwas zurückgeblieben. Obwohl die Tür längst wieder zugefallen. Etwas war zurückgeblieben. Eine kleine Spannung. In ihrem Körper steckte noch der Reflex, hinstrecken und zuneigen.

Einen Moment lang stand sie so, den Blick zur Tür gewandt. Aber sie sah nur noch den Staub, der im Sonnenlicht schwebte, und der Chefstatistiker sagte in diesem Moment, der ihm wohl schon etwas zu lange dauerte, ob das dann alles sei.

Ja, sagte Leo und ging auf die Zehen, auf die Ferse, auf die Zehen, auf die Fersen. Ja, alles, für den Moment.

Dann machte sie auf dem Absatz kehrt. Bei der Tür hielt sie inne und wandte den Kopf nochmals zu dem Chefstatistiker.

Da war doch … da hatte doch gerade eben jemand die Diagramme gebracht … wie heißt noch mal …

Braun, Sie meinen Braun. Paul Braun, zuständig für Visualisierung und Darstellung. Aber, noch immer bin ich. Wenden Sie sich einfach an mich. Vorläufig bin immer noch ich derjenige, der zuständig ist.

Leo nickte und winkte mit den fliegenden Papieren, und als sie die Tür öffnete, dachte sie, sie müsste ihn vielleicht auf­suchen, diesen Paul Braun. Danke für die Zahlen, ich brauche noch weitere Daten. Über das Ökosystem, Stadttiere, Anzahl Amphibien, Lurche, Frösche. Sie nickte dem älteren Herrn zu.

Alles klar, sagte sie.

Als die Tür ins Schloss fiel, hörte sie ein leises Quaken. Sie schob den Frosch zur Seite, und unvermittelt dachte sie an ihren Vater.

4
1954–1957

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hatte, hatte Herr Meister einmal mit schmutzigen Fingern und blauem fleckigem Überkleid im Büro gestanden, und das Fräulein am Schreibtisch hatte ihm einen kurzen, überraschten Moment zugelächelt. Dem Herrn Meister hatten die Worte gefehlt. Plötzlich schienen ihm seine Arme zu lang. Sie hingen ungelenk an ihm hinunter wie lange, schwere Ranken, die seine Schultern rund machten und hinunterzogen. Was sollte
er mit seinen Armen tun, mit den Händen. Sie müssten sich ­bewegen, gestikulieren, sprechen. Verlegen steckte er sie in die Hosentaschen und verlagerte das Gewicht ein wenig. Nun stand er schräg. So war ihm besser.