Hans-Joachim Löwer

Die Stunde der

Kurden

Wie sie den Nahen Osten verändern

Inhalt

Cover

Titel

Vorwort

1 Sulaimania
„EINE UN-ORIENTALISCHE FREIHEIT“

Wie eine Fürsten-Dynastie das Tor zur Welt aufstieß

2 Barsan
„WIR STRECKEN DIE HÄNDE AUS“

Woher der Geist der Versöhnung weht

3 Halabdscha
„WIR HATTEN KEINE AHNUNG, WAS DAS WAR“

Wie ein Kurde das Giftgas-Massaker überlebte

4 Sulaimania
„DAS HIER WAR WIRKLICH DIE HÖLLE“

Wie ein Foltergefängnis zu einem Museum wurde

5 Halabdscha
„NUR ALTER UND TOD KÖNNEN MICH STOPPEN“

Weshalb ein verkrüppelter Minenräumer weitermacht

6 Erbil
„DU MUSST NUR DEIN HIRN EINSCHALTEN“

Wie ein junger Peschmerga zum Top-Businessman aufstieg

7 Sulaimania
„MEIN HERZ SCHLÄGT NOCH IMMER LINKS“

Wie ein Kommunist zum Milliardär wurde

8 Erbil
„WIR SIND AUF DEM RICHTIGEN WEG“

Was sich der Bürgermeister von dem Boom in der Hauptstadt erhofft

9 Sulaimania
„MACHT GIBT ES NUR AUF ZEIT“

Was ein 36-jähriger Parlamentspräsident ändern will

10 Koya
„ICH BIN IMMER NOCH TAPFER“

Wie eine unverheiratete Kurdin für ein neues Frauenbild kämpft

11 Kubaschi
„ICH STEHE HIER FÜR MEINE KINDER“

Wie die Kämpfer an der Front ihr Land verteidigen

12 Qala Tschuwalan
„ZUSAMMEN SIND DIE STÜCKE STARK“

Wie ein Brigadegeneral Drill und Kunst verbindet

13 Bahirka
„WIE SOLL MAN DA ZUSAMMENLEBEN?“

Was Kurden für eineinhalb Millionen Flüchtlinge tun – und was nicht

14 Scheichan
„SIE SCHAUEN NACH WESTEN“

Wo die verfolgten Jesiden ihre letzten Kräfte mobilisieren

15 Sulaimania
„ICH WÄRE NUR NOCH EIN KNECHT GEWESEN“

Weshalb ein arabischer Stammesführer zu den Kurden floh

16 Kirkuk
„SIE HABEN VOR SICH SELBER ANGST“

Wie ein Neurochirurg als Gouverneur zwischen den Fronten laviert

17 Kirkuk
 „WIR HAUEN EBEN NICHT AB“

Wie eine Polizeitruppe die heiß begehrten Ölfelder schützt

18 Erbil
 „WIR WERDEN BESSER ALS ISRAEL“

Weshalb ein Wissenschaftler an einen Staat Kurdistan glaubt

19 Dohuk
„ICH MUSS ALLEN DIENEN“

Was ein christlicher Bischof mit seiner Eliteschule bewirkt

20 Suseh
 „ICH BIN IMMER AUFSEITEN DER HÄFTLINGE“

Wie sich eine Kultur in einem Gefängnis spiegeln kann

EIN TRAUM VON 100 JAHREN

Chronik des Kampfes der Kurden im Irak

Dank

Bildnachweis

Anmerkung zur Schreibweise von kurdischen und arabischen Namen und Begriffen

Übersichtskarte Autonome Region Kurdistan

Weitere Bücher

Impressum

Vorwort

Nachrichten aus dem Nahen Osten verheißen üblicherweise nichts Gutes. Die Schlagzeilen in den gedruckten und die Videoblogs in den elektronischen Medien sind beherrscht von Krieg und Grausamkeiten. Doch im Schatten dieser Gewaltorgien, fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, reift im Norden des Irak ein Modell für ein Staatswesen heran, das so ganz anders ist als die Systeme der Nachbarländer. Hundert Jahre lang hat das Bergvolk der Kurden mit der Waffe in der Hand um seine Eigenständigkeit gekämpft. In der Türkei und im Iran sind sie damit bis heute nicht sehr weit gekommen. Im zerfallenden Syrien haben sie sich 2014 an der Nordgrenze immerhin eine Freizone erstritten.

Ausgerechnet aber in dem Land, in dem sie am brutalsten unterdrückt worden sind, stehen sie vermutlich vor der Verwirklichung ihres großen Traums. Seit mehr als zwanzig Jahren gibt es im Nordirak die Autonome Region Kurdistan. Sie entstand aus einer Flugverbotszone, die 1991 auf Druck der USA eingerichtet wurde, um die Kurden vor weiteren Angriffen der Streitkräfte des Diktators Saddam Hussein zu schützen.

Nach ein paar Jahren turbulenter interner Auseinandersetzungen begann in dieser Region eine erstaunliche, für viele fast unerklärliche Entwicklung. Die Kurden, einst nur als tapfere Kämpfer bekannt, lernten die Spielregeln einer parlamentarischen Demokratie, lösten einen Wirtschaftsboom aus und demonstrieren eine Toleranz für politische, ethnische und religiöse Minderheiten, die im Nahen Osten sonst kaum zu finden ist. Was ist das Geheimnis dieses geradezu sensationellen Prozesses? Wie kann eine Insel des Friedens in einem Meer von Gewalt entstehen? Aus welchen Quellen schöpfen diese Kurden? Ich bin einen Monat lang durch das milde und nicht mehr wilde Kurdistan im Norden des Irak gereist, um nach den geistigen Spuren dieser Entwicklung zu suchen. Was ich gefunden habe, müsste eigentlich Stoff für ganz neue Schlagzeilen aus dem Orient liefern – denn es sind endlich einmal Nachrichten, die Hoffnung machen.

Hans-Joachim Löwer

KAPITEL 1

SULAIMANIA

„Eine un-orientalische Freiheit“


Wie eine Fürsten-Dynastie das Tor zur Welt auf­stieß

Der Weg zu den Wurzeln eines Volkes ist voll von Windungen. Drei Leute helfen mir in Sulaimania, der „Kulturhauptstadt der Kurden“, bei meiner Spurensuche.

Der Erste heißt Fuad Baban. Er ist praktischer Arzt und hat seine eigene Klinik. Er saß zwei Jahre im Gefängnis, weil er für den Widerstand gegen Bagdad arbeitete, und vier Jahre im kurdischen Regionalparlament, als Bagdad seinen Einfluss zu verlieren begann. Seine Familie war vor 200 Jahren die Dynastie, die Sulaimania beherrschte – und den Kurden das Tor zu einer neuen Epoche aufstieß. Der Zweite heißt Sadik Ahmad. Er sitzt im einzigen großen Archiv der Kurden, „Jien“ genannt. Dort hütet er 500 Originalmanuskripte, Tausende von Dokumenten und 20.000 Bücher. Der Dritte heißt Scheich Salar al-Hafis. Er stammt ebenfalls aus einer angesehenen Familie, ist Rechtsanwalt und kämpft seit Jahren auf internationaler Ebene mit einer Flut von Papieren für die Sache dieses Volkes ohne Staat.

„In der Geschichte finden Sie die Antwort auf Ihre Fragen“, so oder ähnlich haben alle drei zu mir gesagt. „Lesen Sie doch einmal nach, was damals dieser Engländer über die Kurden schrieb.“ Ich stöbere in einem detaillierten Reisebericht von Claudius James Rich. Der Altertumsforscher reiste 1820 von Bagdad nach Ninive und streifte dabei durch die Heimat von Stämmen, die der Rest der Welt – wenn überhaupt – nur als kriegerische Nomaden kannte. Rich traf in Sulaimania ein – das war zu jener Zeit eine junge, kaum vierzig Jahre alte Stadt mit 10.000 Einwohnern – und notierte über sie erstaunliche Dinge.

„Mein Bad fand ich bemerkenswert hübsch, hell erleuchtet und gut in Schuss”, schreibt Rich. „Es sah besser aus als alle Bäder, die ich bislang im Osmanischen Reich gesehen hatte.“ „Ich war überrascht über die ganz un-orientalische Freiheit, die Söhne sich gegenüber ihrem Vater herausnahmen“, schreibt Rich. Er staunte, als er Mahmud Pascha Baban, den Herrscher über das kurdische Fürstentum, und dessen Sprösslinge besuchte. „Sie machten es sich vor ihm bequem und rauchten ihre Wasserpfeifen ohne die geringsten Umstände. So wie ich die Türken und Araber kenne – kein Sohn würde sich da vor seinem Vater einfach auf den Boden setzen.“ „In den Häusern laufen die Frauen ganz unbefangen mit den Männern herum“, schreibt Rich, „und ihre Hausarbeit verrichten sie ohne Schleier.“

Er traute seinen Augen nicht, als er vom Herrscher um zehn Uhr morgens zum Frühstück eingeladen war. Was da zum Verzehr zubereitet war, „hätte gereicht für ein üppiges Dinner“: ein ganzes Lamm, gegrillt und gefüllt, alle möglichen Sorten von anderem Fleisch, dazu die üblichen orientalischen Delikatessen, „serviert in persischem Stil“, aber „viel weniger fett und viel schmackhafter als alles, was ich je in Bagdad gegessen habe“.

Meine drei Führer durch die Geschichte der Stadt werden nicht müde, mir darzulegen, was für einen Sprung die Kurden schon vor 200 Jahren gemacht hätten. „Wir waren eben nicht nur Bergbewohner. Wir hatten auch schon eine Stadtkultur.“ Fuad Baban lädt mich in sein Haus ein. Es gibt frische Früchte, Nüsse und Tee und dazu Geschichten aus der Vergangenheit. Einer seiner großen Ahnen, Ibrahim Pascha Baban, tat schon im 18. Jahrhundert einen Schritt aus den Bergen heraus. Seine bisherige Residenzstadt Qala Tschuwalan lag zu weit abseits der Welt, deshalb ließ er zehn Kilometer entfernt eine neue Hauptstadt aus der Ebene stampfen. Sie wurde nach dem Gründer der Baban-Dynastie benannt. „Er hatte Bagdad gesehen“, erklärt mein Gastgeber, „so sollte auch Sulaimania aussehen, es war zu seiner Zeit die einzige größere Stadt in Kurdistan. Dafür holte er Baumeister und Künstler von überallher, die meisten kamen aus Persien.“ Sulaimania war 1784 fertig gebaut. Es hatte nicht nur Moscheen, sondern auch Märkte und öffentliche Bäder. „Und die Abwasserkanäle von einst“, sagt Baban, „sind heute noch intakt.“

„Die kurdischen Emirate waren eingezwängt zwischen Persien und dem Osmanischen Reich“, fährt der 74-Jährige fort. „Mal lagen sie mit einem der Nachbarn im Streit, mal hatten sie mit ihm eine Allianz. Aber immer gab es Verbindungen, kulturelle Beeinflussungen, Austausch von Ideen. Sulaimania war eine multikulturelle Stadt.“

Sadik Ahmad führt mich durch das Jien-Archiv. Wir schreiten an Bücherregalen und an einer Porträtgalerie mit berühmten Kurden entlang, dann stehen wir in einem Raum, wo all das gesammelte Material auf Mikrofilmen gespeichert wird. „Sulaimania hatte damals eine Bibliothek und eine islamische Schule“, teilt er mit. „Hier wurden die ersten Bücher in kurdischer Sprache verfasst.“ Ich nicke und spüre allmählich, was diese Herren mir mit all dem sagen wollen.

Sulaimania wurde das geistige Zentrum für eine kurdische Nationalbewegung. Hier rief 1922 Scheich Mahmud Barsindschi, den die Briten zum Gouverneur ernannt hatten, ein Königreich Kurdistan aus. Hier erschien 1920 das erste Schulbuch in kurdischer Sprache. Hier wurden, zumindest für die Oberschicht, die ersten Mädchenschulen der Region eingerichtet, wenn auch noch versteckt in privaten Häusern. Sulaimania war nicht von einer Schutzmauer umgeben – es war ein Symbol, dass die Stadt offen zur Welt sein wollte.

Die Große Moschee wurde nach der Gründung Sulaimanias in zwölf Jahren erbaut und 2012 restauriert. Hier treffe ich Scheich Salar, den Vorsteher der Moschee. Er hat dicke Wälzer über die Geschichte der Stadt und der Kurden geschrieben und ist so etwas wie der Hüter der Erbes seiner geistigen und geistlichen Vorfahren. „Es gab einmal einen Scheich Mohammed, der hat demonstrativ eine assyrische Christin geheiratet“, erzählt er. „Er war der Führer der Muslim-Gemeinschaft – und trotzdem wollte er deutlich machen, dass in dieser Stadt auch Christen unter seinem Schutz stehen. Den Sohn, den die Frau ihm gebar, nannte er gar Isa – das ist der arabische Name für Jesus.“

Man mag es kaum glauben, was dieser Mann da sagt. Nur hundert Kilometer entfernt von hier käme heute kein Muslim auf die Idee, eine Christin zu heiraten, ohne dass sie vorher zum Islam konvertiert. Es würde ihn nämlich ganz schnell den Kopf kosten – im 21., nicht im 19. Jahrhundert!

Wir gehen zu den Gräbern von Kurden, die Grundsteine für das gelegt haben, was heute in diesem Land heranwächst. Am Rand des großen Gebetssaals liegen elf Mitglieder der Baban-Dynastie begraben. In einem anderen Teil der Moschee steht der Sarkophag von Scheich Mahmud, dem ersten kurdischen Nationalhelden. Hohe, reich verzierte Gitter säumen die Ruhestätte. Besucher strömen in Scharen herein. Männer erheben stehend ihre Hände, Frauen drücken kniend ihre Köpfe gegen die metallenen Stäbe. Feierlich verharren die Menschen vor diesem Grab. Ein Volk, so scheint es, verneigt sich hier vor seinem ersten großen Führer.

Scheich Mahmud, 1881 geboren, läutete das blutigste Jahrhundert in der Geschichte der Kurden ein. Er entstammte einer Familie, der die geistige Führung der Region oblag. Die Weltmacht Großbritannien, die nach dem Ersten Weltkrieg das Gebiet beherrschte, setzte ihn als Gouverneur ein, um so die Region indirekt regieren zu können. Barsindschi aber weigerte sich, als bloßer Befehlsempfänger zu fungieren. Er ließ Sulaimania von kurdischen Kämpfern besetzen, kurdische Briefmarken drucken und eine kurdische Flagge mit einem Mond auf grünem Untergrund aufziehen. Er wollte auf den Trümmern des untergegangenen Osmanischen Reiches seinen eigenen Staat gründen.

Barsindschi kämpfte, so war es Tradition, selber mit der Waffe in der Hand an der Front. Die heranrückenden britischen Truppen nahmen ihn, schon schwer verwundet, 1919 am Pass von Basian gefangen. Sie verbannten ihn auf die indischen Andaman-Inseln und nahmen in Kurdistan das Zepter nun direkt in die Hand. Damit hatten sie bald fast alle kurdischen Stämme gegen sich, die noch nie zuvor in der Geschichte eine Zentralgewalt akzeptiert hatten. 62 Würdenträger aus den Gebieten um Mossul, Erbil und Sulaimania forderten in einem Memorandum die Unabhängigkeit, und es hagelte Petitionen, in denen die Rückkehr Barsindschis verlangt wurde.

Einmal Peschmerga, immer Peschmerga:

Mohammed Sahid steht mit 85 Jahren noch an der Front.

Die Engländer gerieten ins Schwanken. 1922 holten sie, um des lieben Friedens willen, den Scheich aus der Verbannung zurück. Kaum zwei Monate später rief Scheich Mahmud sich zum König der Kurden aus. Zwei Jahre lang wehrten sich die mit ihm verbündeten Stämme gegen die Briten. Die setzten wiederum Truppen in Bewegung und auf Sulaimania regneten Brandbomben nieder. 1924 brach der erste große Kurdenaufstand zusammen.

„Unser Nationalismus war immer defensiv“, sagt Scheich Salar, der mich um das Grab herumführt. „Er war und ist nie gegen andere gerichtet. Wir lassen nur nicht zu, dass man uns das Recht auf Selbstbestimmung nimmt.“

SULAIMANIA

„Schlafen verboten“ steht auf den Schildern im Innenhof der Großen Moschee. Was aber tun all die Männer, die sich da auf dem Boden ausgestreckt haben? Sie schlafen, ausnahmslos. Die Mittagssonne brennt, wo sonst gibt es vor ihr einen so guten Schutz? Selbst im Schatten sind es fast 40 Grad.

Ich schaue Scheich Salar al-Hafis, der mich begleitet, fragend an. Er winkt ab und lächelt milde. Allah ist in Kurdistan eben nicht so streng.

KAPITEL 2

BARSAN

„Wir strecken die Hände aus“


Woher der Geist der Versöhnung weht

Noch einmal stehe ich vor einem Grab. Es liegt ganz unscheinbar, fast versteckt, an einem Hang des Berges Schirin. Seit gut deißig Jahren ruht hier der größte Sohn des Landes, der Übervater der Kurden. Wäre ein Stück dahinter nicht eine Gedenkstätte gebaut worden, so liefe man Gefahr, ganz achtlos an diesem Grab vorbeizugehen. Keine Tafel mit irgendeiner Inschrift. Keine Kerze, die feierlich flackert. Nur eine kleine, rechteckige Anhäufung von Erde. Nichts, absolut nichts verrät dem Besucher, wer dieser Tote ist. So wollte es Mustafa Barsani. Schlicht, wie er sein Leben führte, wollte er auch bestattet sein.

Zwei hochkant aufgestellte Steinplatten markieren die Lage des Toten, das ist islamischer Brauch. Sohn Idris, der nur acht Jahre später starb, wurde neben seinen Vater gebettet. Eine hüfthohe Steinmauer grenzt das sechs mal sechs Meter große Geviert ein, man kann sich mit den Händen auf sie stützen. Besucher stehen stumm und andächtig an diesem historischen Platz.

Ein Stück weiter unten liegen fast hundert Männer begraben, die an Barsanis Seite gekämpft haben. „Peschmerga“ nennen die Kurden bis heute all jene, die für die Freiheit ihres Volkes zu den Waffen greifen. Die Bezeichnung bedeutet auf Deutsch: „Die dem Tod ins Auge Sehenden.“ Wer seinen Einsatz mit dem Leben bezahlt, der gilt als „Märtyrer“. Das, aber wirklich nur das, haben sie mit den Islamisten gemein, die heute das Land der Kurden bedrohen.

Der Wind säuselt durch die Blätter der Bäume, die ein wenig Schutz vor der stechenden Sonne bieten. Sanft weht die Brise über die herrliche Landschaft, so als wolle sie alle Wunden streicheln, die sie in den vergangenen hundert Jahren erlitten hat.

Barsanis Erben kamen vor ein paar Jahren zu dem Entschluss, dass sie sich in einem einzigen Punkt über den letzten Willen ihres toten Helden hinwegsetzen müssten. Sein Grab durfte einfach nicht länger einfach so vor sich hin dümpeln. Sie ließen auf einer terrassierten Fläche ein mächtiges Halbrund aus Beton errichten – eine Art Kulturzentrum mit Museum und Veranstaltungsräumen.

Wieder suche ich, diesmal tief in den Bergen, nach den geistigen Wurzeln dieses Volkes. Woher kommt es, dass die irakischen Kurden so ganz anders „ticken“ als ihre Nachbarn? Warum glaubt heute jeder, der in ihr Land kommt, plötzlich in einer anderen Welt zu sein, obwohl sie auf der Landkarte schier eisern umschlossen scheint von Arabern, Türken und Persern?

„Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen“, sagt Mebaschar Hado. Kurden lieben Geschichten, das haben sie aus den Zeiten mitgenommen, in denen es noch kein Fernsehen gab. Da saßen sie in ihren einsamen Dörfern tagsüber vor dem Haus beim Tee, abends drinnen auf dem Teppich bei Huhn und Reis und tauschten die neuesten Nachrichten aus. Mebaschar gehört zum „Gastfreundschaftskomitee“ dieser Gedenkstätte und hat sich für mich ein paar Stunden freigenommen. Denn er will mir erklären, welcher Geist vom Grab des Mustafa Barsani ausgeht.

Er berichtet von einer der vielen Schlachten, die zu Marksteinen in der Geschichte der Kurden wurden. 1932 war es, bei Dola Waje, gar nicht weit entfernt von hier. Die Kurden hatten sich wieder einmal gegen die Zentralregierung in Bagdad erhoben. Eine irakische Spezialeinheit, aus der Luft unterstützt von britischen Flugzeugen, rückte gegen sie vor. Die Peschmerga leisteten zunächst keinen Widerstand, lockten die Soldaten immer tiefer ins Tal von Barsan hinein. Sie hatten beiderseits die Höhen besetzt, von dort nahmen sie dann den Feind unter Feuer. Am Ende war es ein Kampf Mann gegen Mann und ein irakischer Soldat schoss dem jungen Barsani, der einen Rebellentrupp kommandierte, eine Kugel in den linken Arm. Die Peschmerga überwältigten ihn und wollten ihn auf der Stelle töten. Barsani aber, gerade einmal 29, fiel ihnen in die Arme. „Lasst ihn leben!“, befahl er. „Er ist ein tapferer Mann.“ Der gefangene Schütze traute seinen Ohren nicht. „Ich bin Kurde“, brach es aus ihm heraus. Von nun an wollte er nicht mehr für Bagdad kämpfen und wurde sozusagen undercover ein wertvoller Informant für die Aufständischen. Die Kurden, so endet diese Geschichte, gewannen die Schlacht. Sie erlaubten, dass alle verwundeten Feinde zu ihren Einheiten zurückgebracht wurden – und halfen in vielen Fällen sogar beim Transport.

Mebaschar macht eine Pause und denkt nach. Dann fällt ihm eine zweite Geschichte ein. Sie spielt 1947, kurz bevor Mustafa Barsani, nunmehr 44, ins Exil in die Sowjetunion aufbrach, das letztlich zehn Jahre dauern sollte. Seine Peschmerga zogen ausgezehrt durch kurdische Dörfer. „Er hat ihnen trotzdem streng verboten, von den Einwohnern Essen zu fordern. ‚Verlangt von ihnen nie etwas mit Gewalt‘, hat er ihnen eingehämmert. ‚Wie wollt ihr sonst ihre Sympathien gewinnen?‘“ Die Folge sei gewesen, dass die Dörfler den Kämpfern aus freien Stücken Nahrung angeboten hätten.

Dann ist da noch eine dritte Geschichte. Sie habe sich Ende der 1960er-Jahre ereignet, sagt Mebaschar. Da war Barsani schon ein alter Kämpe, die Kurden fochten noch immer für ihren eigenen Staat, und Bagdad war so wie eh und je entschlossen, sie lieber zu vernichten als zu verstehen. Ein Mann namens Nasim Kasas war damals Chef des irakischen Geheimdienstes, und er war aus nachvollziehbaren Gründen bei den Kurden besonders verhasst. Zwei junge Peschmerga traten vor Barsani und behaupteten, sie würden es schaffen, ihn umzubringen – mit einem Bombenanschlag auf sein Haus.

„Könnt ihr mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass dabei auch noch andere ums Leben kommen?“, fragte sie der Kurdenführer.

„Nein, natürlich nicht“, antworteten sie. „Wie können wir so etwas garantieren?“

„Dann dürft ihr diesen Anschlag nicht machen“, entschied Barsani. „Merkt euch für immer: Nie dürft ihr Unschuldige töten!“ Mebaschar schweigt und lässt die Anekdoten wirken. „Mitkämpfer, die heute noch leben, brechen in Tränen aus, wenn von Mustafa Barsani die Rede ist“, fährt er fort. „Niemand war so gut zu den Leuten wie er.“ Noch eine Pause und dann fügt er hinzu: „Wenn er mit seinen Peschmerga einen Fluss durchqueren musste, stieg er immer als Letzter ins Wasser.“

Wir streifen über den seltsamen Friedhof, auf dem so gar nichts heroisch wirkt. Nur über unseren Köpfen, in 36 Meter Höhe, flattert die kurdische Flagge, wie sie von der autonomen Regionalregierung verwendet wird. Sie hat drei horizontale Streifen: Rot steht für das vergossene Blut, Weiß steht für den Frieden und Grün für die gebirgige Natur. Im Zentrum der Flagge scheint eine Sonne mit 21 Strahlen – eine uralte Glückszahl dieses Volkes.

Der Boden rund um das Dorf Barsan ist mit besonders viel Blut getränkt. Um den Peschmerga die Unterstützung zu entziehen, ließ Saddam Hussein ab 1983 Siedlungen in diesem Gebiet zerstören und Tausende von Männern hinrichten. Aber heute, dreißig Jahre danach, sind nicht einmal mehr Narben zu sehen. 59 Dörfer sind neu errichtet worden, teils mithilfe internationaler Organisationen, so wirkt die ganze Gegend wie ein einziges Neubauprojekt. Anfangs waren es Witwen, die mit ihren Kindern ein neues Leben begannen, mittlerweile gibt es in diesem Tal jedoch auch wieder tatkräftige Männer. „Wir haben Regenfälle von Oktober bis Mai“, sagt Mebaschar. „Viele Früchte wachsen hier ohne jede Bewässerung: Mandeln und Melonen, Trauben, Feigen und wilde Birnen.“

Ich treffe mit ihm den ersten, aber lange nicht den letzten erstaunlichen Menschen in Kurdistan. Er ist der lokale Chef des kurdischen Geheimdienstes Asaisch, wurde 1973 geboren und offenbart mir, dass er philosophische Werke von Locke, Descartes und Spinoza gelesen habe. „Schon als kleines Kind wollte ich immer Bücher haben“, erzählt er. „Ich wuchs im Iran auf, weil meine Eltern dorthin geflüchtet waren. Dort las ich viel über die kurdische, persische und europäische Geschichte.“ Nach seiner

Rückkehr, als erwachsener Mann, brachte er sich ganz alleine Englisch bei, mit Kopfhörer und Computer.

„Die Leute von Barsan haben schon an Umweltschutz gedacht, als es dieses Wort noch gar nicht gab“, sagt er. „Hier wurden die Bäume nie großflächig abgeholzt. Sie sehen ja, alles ist hier voller Bäume, daher ist die Landschaft besonders grün. Wissen Sie, was hier passiert ist? Eine echte Kulturrevolution!“

„Wie bitte?“, sage ich.

„Ja, das war das Werk von Scheich Abd al-Salam. Sie werden es nicht glauben, aber der setzte von 1885 an bahnbrechende Reformen durch.“ Er zählt sie der Reihe nach auf: Privater Großgrundbesitz wurde abgeschafft, der Boden unter den Bauern verteilt. Zwangsehen, von Eltern arrangiert, wurden ebenso verboten wie die damit verbundene Mitgift. Jedermann wurde vor dem Gesetz gleich. Die Moschee war nicht mehr nur eine Gebetsstätte, sondern auch ein Raum für Diskussionen und Schlichtung von Streitereien. In jedem Dorf wurde ein Komitee gegründet, das sich um die Belange der Allgemeinheit zu kümmern hatte. Es war wie ein Urkommunismus, noch ehe die Oktoberrevolution ausbrach, und wie ein republikanischer Minikosmos, während große Teile Europas noch von Kaisern und Königen regiert wurden.

„Humanität war das Topthema jener Zeit“, findet Mebaschar. „Die lokalen Scheichs gingen in die Städte und saugten sich dort mit Informationen voll. Die neuen Ideen wurden zu einem Motto, unter dem sich sieben Stämme zu einer Art Konföderation zusammenschlossen: die Schiwani und Dolameri, die Misuri und Baroschi, die Nisari, Gardi und Harki Binadscheh – sie alle wollten von nun an nur noch Barsanis sein.“

Die ungestümen Demokraten von Barsan schickten 1907 ein Telegramm an die Hohe Pforte in Konstantinopel. Sie stellten an den Herrscher des Osmanischen Reiches, dem sie formell untertan waren, unerhörte Forderungen: In den Kurdengebieten sollte Kurdisch die Amts- und Schulsprache sein, der Gouverneur und seine Beamten Kurdisch sprechen müssen, ein Teil der Steuern für den Bau von Straßen und Schulen in den Kurdengebieten verwendet werden. Für den Sultan war das nichts anderes als Aufruhr und Abtrünnigkeit. Sieben Jahre später wurden Abd al-Salam und dessen drei Leibwächter von einem kurdischen Scheich, der heimlich mit den Türken paktierte, verraten: Sie waren eingeladen, bei ihm zu übernachten, und wurden von seinen Leuten im Tiefschlaf überwältigt. Alle vier wurden in Mossul erschossen. „Das waren“, meint Mebaschar, „unsere ersten Märtyrer.“

Der Geist von Barsan ist die zweite große Quelle, aus der die heutigen Kurden schöpfen.

„Wir haben nie andere Völker angegriffen, sondern immer nur uns selbst verteidigt“, sagt Mebaschar. „Aber wir lassen auch nie zu, dass man uns unsere Rechte nimmt. Wenn wir kämpfen, schauen wir dem Gegner ins Auge – wir schießen ihm nie in den Rücken.“

Ich trinke meinen letzten Tee und wir sprechen über die Kraft zur Versöhnung. Etwa 200.000 Kurden haben, aus welchen Gründen auch immer, unter Saddam Hussein dem Regime in Bagdad gedient, meist als Polizisten und Soldaten. Sie trugen die Uniform des Feindes und wurden daher dschasch genannt, auf Deutsch etwa „Arschlöcher“. Als Saddam stürzte, wurde kein Einziger von ihnen bestraft. Die dschasch zogen ihre Uniformen aus, gingen nach Hause zu Frau und Kind, erlebten keinerlei Vergeltung.

Mebaschar reicht mir zum Abschied die Hand. „Wir sind es gewohnt“, sagt er, „die Hand auszustrecken.“ Für ein paar Stunden habe ich fast vergessen, dass ich im Nahen Osten bin.

„Wir sind halt irgendwie anders“, meint der Geheimdienstmann mit den philosophischen Werken im Regal. „Anders als die Araber – aber auch anders als ihr im Westen.“

ERBIL

„In Bagdad haben sie Mauern errichtet“, sagt Massud Abdul Khalek, Chef der Wochenzeitung „Standard“ und einer der bekanntesten kurdischen Intellektuellen. „So groß ist inzwischen der Hass zwischen Sunniten und Schiiten. Wie soll da jemals noch ein einheitlicher Staat funktionieren? Ihr Deutschen habt doch selber einmal eine Mauer gehabt. Ihr wisst, was das bedeutet.“

  UN-Angaben