„Well, you wonder why I always dress in black,
Why you never see bright colors on my back,
And why does my appearance seem to have a somber tone.
Well, there‘s a reason for the things that I have on.
I wear the black for the poor and the beaten down,
Livin’in the hopeless, hungry side of town,
I wear it for the prisoner who has long paid for his crime,
But is there because he’s a victim of the times.“

(Johnny Cash)



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Michael Schweßinger

Michael Schweßinger wurde 1977 geboren, lebte in Tansania, Irland und vielen anderen Orten, aber meistens in seinem Kopf. Manchmal kommt er raus und schaut sich die Welt an, schreibt Geschichten darüber und liest diese dann vor. Daneben studierte er Afrikanistik und Ethnologie, buk als Bäcker unzählige Brote, verlegte Bücher und machte tausend andere Dinge, die man teilweise in seinen Büchern nachlesen kann.

Er ist Gründungsmitglied der Leipziger Lesebühne Schkeuditzer Kreuz, die sich monatlich im Kulturcafe Plan B trifft und er ist seit Sommer 2013 Autor bei Subkultur/ Periplaneta. Bisher sind hier von ihm folgende Kurzgeschichtensammlungen erschienen: „Gedanken an die Dämmerung“, „In Darkest Leipzig“, „Von Seemännern und anderen Gestrandeten“ und „Vaterland ist abgebrannt“.

Michael Schweßinger




VON SEEMÄNNERN UND ANDEREN GESTRANDETEN




Geschichten aus Lindenau und Anderswo




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MICHAEL SCHWESSINGER: „Von Seemännern und anderen Gestrandeten
Geschichten aus Lindenau und Anderswo“

Redigierte & überarbeitete Auflage, März 2014, Edition Subkultur Berlin

© 2014 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin, www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Sarah Strehle

Cover: Corwin von Kuhwede (www.vonkuhwede.de)
Autorenbild: Christian Haubold (www.christianhaubold.com)

Satz & Layout: Thomas Manegold (www.manegold.de)


print ISBN: 978-3-943412-14-7

epub ISBN: 978-3-943412-63-5
E-Book-Version: 1.2

Wenn die Gewissheiten erodieren …

Wenn man mich in 20 Jahren, wenn ich den wilden Leipziger Westen hinter mir gelassen und mich der Nachzucht kongolesischer Zwergzebras verschrieben haben werde, fragen wird, wie es so weit kommen konnte, dass mein Versuch, die sesshaften Lindenauer zu erforschen, nach vielversprechendem Beginn so grandios scheitern konnte, werde ich meinen Bericht vermutlich mit einem stöhnenden Ach und diesem Satz beginnen: „Alles begann mit einem unvorhersehbaren Lächeln an einem sehr milden Herbsttag …“

Vielleicht werden einige, die meinen Ausführungen weiter folgen werden, dies am Ende in Zweifel ziehen und mir vorwerfen, ich würde dieses eine, lächerliche Lächeln überbewerten und andere mögliche Gründe vernachlässigen. Doch ich werde mit dem Kopf schütteln und darauf beharren, dass es nicht an der Launenhaftigkeit der Wahrnehmung oder einer zunehmenden Sinnflutung lag, sondern einzig an dieser einen, ungewohnten Gesichtsregung, die mich und mein Forschungskonzept gänzlich aus der Bahn warf.

Eher noch wird sich dieses Lächeln mit zeitlicher und räumlicher Entfernung traumatisch verstärken und mir die Sonnenuntergänge auf meinen afrikanischen Latifundien gänzlich vergällen.

Zugegeben: Das wäre schlimm, denn nirgendwo sind Sonnenuntergänge romantischer als im ländlichen Afrika. Zumindest, wenn man in den Bildern schwelgt, die der populären Afrikaliteratur der Buchhandlungen entsteigen. Doch selbst Sansibar war trotz seiner bezaubernden Schönheit eine einzige Enttäuschung. Die Wirklichkeit vermischt reiseführertaugliche Swahiliarchitektur mit nie fotografierten, sozialistischen Plattenbauten im Grünau-Stil. Das vielgerühmte tropische Abendrot, eine Angelegenheit von wenigen Augenblicken. (Man lebt zu sehr in erwartungsschweren Illusionen.)

Mein schönster Sonnenuntergang war unerwartet und mächtig, mitten im Herbst. Nur 20 Schritte von meiner Haustüre entfernt. Minutenlanges Feuer am Ende der Merseburger Straße. Rötliche Apokalypse eines degenerierten Sunset Boulevard.

Würde man kulturelle Postkarten des Leipziger Westens entwerfen, so wären die romantischen Motive sicherlich für Plagwitz reserviert. Zwar gibt es dort keine Affenbrotbäume, Elefanten und andere Wildtiere im Abendrot, dafür aber jede Menge Kunst und Kultur. Sucht man in der Realität nach dem Zentrum malerischer Kreativität, gelangt man jedoch nicht nach Plagwitz, sondern in die Leipziger Baumwollspinnerei in Lindenau. Dieses Viertel passt in der Vorstellung ebenso wenig zu Kunst wie Plattenbauten zu Sansibar. Dort hausen höchstens wilde Hartz IV Barbaren, hochprozentige Straßenbewohner und natürlich Nazis, keinesfalls aber kunstschaffende Menschen. Auf seinen Visitenkarten schreibt man darum lieber Leipziger Westen, mit Vorliebe aber Plagwitz. Imaginäre Landkarten, die mehr über kulturelle Identifikationen als geographische Grenzziehungen verraten. Dies mag aus Künstlerperspektive gewiss verständlich sein; zumindest, wenn man „L’art pour l’art“ betreibt.

Als traditioneller Ethnologe muss man sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen, wenn auch gegensätzlicher Natur, denn man widmet sich gewissermaßen der kulturellen Antithese: den Wilden. Ebenso wie es einen fröhlich in seinem Atelier dahinmalenden Künstler bis ins Mark erschüttern mag, wenn ihm plötzlich ein betrunkener Straßen-Lindenauer ins Ohr flüstern würde, dass sie, wenn auch nicht Brüder im Geiste, so doch wenigstens Viertel-Kumpanen wären, er also eigentlich in Lindenau und nicht in Plagwitz von Weltruhm träumt, zerrütten diese unerwartet auftauchenden kulturellen Zivilisationsmerkmale bei den Eingeborenen einen Ethnologen.

Und so rief ich an diesem verhängnisvollen Tag, an dem ein Hauch von Plagwitz durch unseren Hinterhof wehte, mehrmals halbfragend, halbtrauernd, in meine aufgewühlte Ethnologenseele: „Lindenau, du wunderbares Eiland. Land des Ursprungs. Von Bitternis und Sternburg umflossen, degenerierst du etwa zu banaler Zivilisation?“

Es war, wie gesagt, ein viel zu milder Herbsttag. Nach meinem Geschmack mindestens zehn Grad zu mild. Ich spürte diese eigenartige Schwüle, die nicht so recht zu einem Oktobertag passen wollte, schon am Morgen nach dem Erwachen auf meinen Gedankengängen lasten. Vielleicht hätte ich das Bett nicht verlassen dürfen. Manchmal ist es besser, wenn man einfach nicht aufsteht. Man bleibt liegen und der Tag vergeht schon irgendwie. In letzter Zeit bleibe ich oft liegen. Lausche mit geschlossenen Augen in meiner kleinen Dachkammer über Stunden dem Gezwitscher der Vögel, höre dieses Rattern zu mir emporsteigen, wenn der kleine Junge aus dem Hinterhaus mit seinem Bobby Car den Innenhof durchquert, oder versuche, das Stimmengeschrei der polyphonen Frau im Erdgeschoss ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten zuzuordnen.

An diesem Morgen tat ich es jedoch nicht. Ich stand auf – trotz dieser Schwüle – trank Kaffee und beschloss, ein bisschen durchs Viertel zu streifen. Ich tue dies gerne, denn die besten Inspirationen kommen mir immer beim Gehen. Ich hatte bereits einen großen Teil meiner Forschungsarbeit fertiggestellt und auch genügend Argumente gefunden, um diese wissenschaftlich zu untermauern. Ich war also eigentlich guter Dinge. In den letzten Monaten war alles zu meiner Zufriedenheit verlaufen. Meine Kollegen hatten mich beglückwünscht und interessiert, wenn auch leicht neidisch, auf meine Lindenauer Forschung geblickt. Während sie sich am Ende der Welt, ausgezehrt von Tropenkrankheiten und anderen Imponderabilien des Lebens, herumschlugen, saß ich in meiner Lindenauer Dachwohnung und alles war klar. Die Sebalds, die mit ihrem exotischen Spießerkult und ihren ausgefeilten Reinheitsgeboten den Schwerpunkt meiner Forschungsarbeit bilden sollten, waren so wie immer. Sie waren unfreundlich, wortkarg, zutiefst xenophob und ich beschrieb sie genau so. Klare Sache. Keine Eventualitäten. Keine Ratlosigkeit.

Und dann plötzlich diese Begegnung im Innenhof. Ich spürte, dass etwas an ihrem Verhalten anders war, als ich die Haustüre hinter mir schloss und sie aus dem Schatten der Toreinfahrt in den sonnenbeschienenen Innenhof schreiten sah.

Seit meiner Ankunft hatte mich das Wesen der Sebalds über Monate hinweg nachhaltig beeindruckt und mich schließlich dazu bewogen, ihren ausgefeilten Reinheitsritus in den Mittelpunkt meiner Forschung zu stellen. Sie waren nicht die Einzigen, die diesem Kult angehörten, aber doch in ihrer Schmutzverachtung am konsequentesten. Beide verfügten zudem über zwei andere weitverbreitete Lindenauer Tugenden, nämlich ein unerschöpfliches Potential an Unfreundlichkeit und eine ausgewachsene Sprachfaulheit. In keinem Winkel der Welt war ich bis dato auf ein nur annähernd ähnliches Phänomen gestoßen.

Gewiss, ich hätte es spätestens wissen müssen, als sie langsam näher kam, ihre Grübchen verräterisch in der Herbstsonne glänzten und ihre ungewöhnliche Mimik mich zunächst verwirrte, dann aber keinen Zweifel mehr zuließ. Vielleicht hätte ich sogar an diesem Punkt einfach noch umkehren können. Ja, vielleicht hätte ich mich auch da noch umwenden und die zwei Stockwerke zu meiner Wohnungstür hochhasten können. Dort hätte ich dann gewartet, dass dieser viel zu milde Herbsttag an mir vorübergehen möge. Ich hätte diese schon angedeutete ungewohnte Gesichtsbewegung noch als visuellen Irrtum oder Fieberphantasie abgetan. Hätte meine Arbeit zu Ende geschrieben und wäre dann für immer aus Lindenau verschwunden.

Aber ich blieb stehen.

Mitten im Innenhof.

Sah sie langsam auf mich zukommen.

Schritt für Schritt.

Noch heute sehe ich diesen Augenblick in aller Deutlichkeit vor meinen Augen aufleuchten: Ich sehe ihre schwarze Steghose mit Bügelfalte und den lila Rollkragenpulli. Ich stehe nur da, blicke in ihr von der Herbstsonne beschienenes Gesicht. Bemerke, dass sich ihre Mundwinkel eigentümlich nach oben verziehen.

‚Ist das ein Lächeln?‘, schießt es mir durch den Kopf, während sie langsam näher kommt. Die Logik in mir sagt: ‚Nein, vollkommen ausgeschlossen. Hier im Haus hat noch niemand gelächelt, geschweige denn gelacht.‘ Meine Erfahrung aus anderen Winkeln der Welt sagt mir: ‚Ja, gewiss, diese verzogene Mimik deutet man allerorts als Lächeln.

Frau Sebald lächelt also.

Unfassbar!

Doch diese Gesichtsregung ist nicht anders zu deuten.

Und dann höre ich sie auch noch sprechen: „Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich Sie nicht grüße, aber ich bin auf dem linken Auge blind.“ Spricht sie, geht weiter, öffnet die Haustür und verschwindet wenig später in ihrer Wohnung. Man hört nur noch die Sicherheitsschlösser einrasten.

Ich jedoch blieb zurück. Blieb zurück in der Mitte dieses gepflasterten Innenhofes. In der Mitte eines viel zu milden Herbsttages und mochte immer noch nicht glauben, was ich da soeben gesehen und gehört hatte. Seit Beginn meiner ethnographischen Forschungsarbeit hatte sie noch nie gelächelt. Keiner der Hausbewohner hatte dies bisher getan. Ein Lächeln war die mit Abstand unwahrscheinlichste Gefühlsregung in unserer Wehranlage.

Hätte sie doch getobt wie der Mann im Nachbarhaus, geschrien wie die Frau im Erdgeschoss oder einfach nur wie immer geschwiegen. Aber sie lächelte und sprach. Hätte die Erde gebebt, es hätte mich keineswegs in größere Verwirrung gestürzt. So stand ich da und wusste nicht, was dies nun zu bedeuten hatte. Was wollte sie mir damit sagen? Wollte sie mir überhaupt etwas damit sagen? Oder war es nur ein Versehen? Hatte sie die Gesichtsregungen vertauscht und wollte – wie immer – einfach nur grimmig dreinschauen? So etwas soll es geben. Man will böse schauen und lächelt auf einmal aus unerfindlichen Gründen.

Irgendwann verließ ich, den Kopf voller widersprüchlicher Gedanken, den Innenhof und stolperte verwirrt die Straße entlang, folgte ihr und stieß wenig später auf eine Kneipe, die vor wenigen Tagen eröffnet hatte. Die Kneipe trug den sympathischen Namen Bei Heinz. Sie warb mit dem in Lindenau allseits beliebten Slogan „Hier können Sie noch mit D-Mark zahlen.“ Meines Erachtens war dies für eine Kneipeneröffnung im Jahr 2006 nicht gerade die beste Werbekampagne, denn es deutete auf eine gewisse Unkenntnis der Lindenauer Realitäten hin. Dieser Spruch wäre vermutlich schon bei Einführung des Euros veraltet gewesen, denn die Lindenauer, die diese Kneipen gewöhnlich aufsuchten, hatten ja schon Tage vor der Euro-Einführung keine Mark mehr auf dem Konto. Jahre später wirkte dieser Satz hingegen hochgradig surreal, im besten Fall noch nostalgisch.

Ich betrat die Kneipe, griff nach dem erstbesten Barhocker und brach zum ersten Mal meinen eisernen Vorsatz „Kein Bier vor vier!“ Dann dachte ich über dieses Lächeln von Frau Sebald nach. Die Sebalds standen im Mittelpunkt meiner Forschung über die sesshaften Lindenauer. Nach monatelanger intensiver Beobachtung hatte sich die zu Beginn meiner Feldforschung aufgestellte Vermutung, dass es sich bei ihnen um Anhänger eines unbekannten archaischen Kultes handeln musste, die der extremen Sauberkeit huldigten und das Lachen verachteten, verfestigt. Bestärkt wurde meine Hypothese durch die Gedanken des französischen Philosophen Georges Bataille, der in einer seiner Schriften darauf hinwies, dass die Muskelbewegung beim Lachen analog zu denen des Anus bei der Ausscheidung von körperlichen Exkrementen wäre. Im Lachen sah er demnach ein Organ zur Entleerung von geistigen oder immateriellen Exkrementen.

Ich folgerte daraus, dass der aufopferungsvolle Kampf gegen den Schmutz, den viele Hausbewohner hier tagtäglich ausfochten, sich nicht nur durch blütenweiße Gardinen und blitzende Treppenstufen protokollieren ließ, sondern, dass es bei ihnen noch eine Form von verborgener mentaler Reinheit gab. Ich vermutete, dass das Lachen für die Sebalds, die diesem Reinheitskult vorstanden, ein absolutes Tabu darstellen musste, da es von ihnen als perverse Verschmutzung ihrer mentalen Sauberkeitssphäre angesehen wurde. Da ich für mein Leben gern lachte und damit in ihren Augen wohl ständig mit geistigen Fäkalien um mich warf, war es nur logisch, dass sie mich zutiefst verachten mussten.

Meine Theorie war diesbezüglich zu diesem Zeitpunkt ziemlich weit ausgereift und bildete eine der Kernthesen meiner Forschungsarbeit. Bis zu jener verhängnisvollen Begegnung gab es für mich keinen Grund, ihre Richtigkeit anzuzweifeln. Es war klar, dass es sich bei der Hausgemeinschaft um einen Clan puritanischer Schmutzverächter handelte, die diesen Ritus sehr ernst nahmen. Um so verwunderlicher schien mir deshalb diese unbekannte Gesichtsbewegung von Frau Sebald, vor allem, weil ich sie weder durch eine Grimasse oder einen Witz dazu genötigt hatte. Nein, es schien, als streute sie dieses Lächeln mit voller Absicht in meine bis jetzt klar strukturierte Forschungsarbeit. Und was wollte sie eigentlich mit dieser Aussage „Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich sie nicht grüße, aber ich bin auf dem linken Auge blind!“ andeuten?

Ich bestellte mir noch ein Bier und überlegte. Angenommen, es stimmte wirklich, was sie sagte, und sie war mit dem körperlichen Handicap einer teilweisen Erblindung geschlagen. Da sie mich aber noch nie gegrüßt hatte, müsste dies bedeuten, dass ich Tag für Tag, über ein Jahr lang, nur an ihrem linken Auge vorbeimarschiert war. So was nannte man wohl richtiges Pech. Nur zwei Schritte weiter rechts beim Umzug von Connewitz nach Lindenau und wir wären vermutlich die besten Freunde geworden. Angenommen, es wäre so. Dann stellte sich aber immer noch die Frage, woher sie mich überhaupt kannte und sie dazu veranlasste, mir ihr Geheimnis zu verraten? Wenn sie mich ein Jahr nicht gegrüßt hatte, dann musste sie mich ein Jahr lang nicht gesehen haben. Ergo, ich hätte ihr also völlig unbekannt sein müssen. Woher wusste sie dann überhaupt, dass ich in diesem Haus wohnte?

Wenn ich andererseits davon ausging, dass sie mit ihrem Ausspruch nicht auf eine Augenerkrankung hindeuten wollte, sondern diese Aussage politisch beziehungsweise symbolisch zu verstehen war, dann hatte sie etwas gegen meine anarchistisch ungepflegten Frisuransätze oder die legere Art der Mülltrennung und wollte mir das durch die Blume mitteilen. Schien insofern logisch, da viele Lindenauer von Haus aus auf dem linken Auge blind waren.

Ein Fall von besonders stark ausgeprägter partieller Erblindung hatte vor kurzem für mächtigen Wirbel gesorgt und es sogar bis ins Abendprogramm des deutschen Fernsehens geschafft. Es handelte sich um einen der tragischsten Fälle, von denen ich jemals gehört hatte. Die Opfer dieser visuellen Pandemie gehörten allesamt zu einer Wohngemeinschaft in der GutsMuthsstraße. Durch eine seltsame Augenerkrankung gelang es ihnen, nur noch rechts außen zu sehen. Bei diesen adoleszenten jungen Herren war die Erblindung des linken Auges schon in frühen Jahren so weit fortgeschritten, dass ihre leer getrunkenen Bierflaschen nicht mehr in den Kasten zurückwanderten, sondern bevorzugt in Richtung derer geworfen wurden, die einige Straßen weiter wohnten und ihrerseits auf dem rechten Auge blind waren und nur noch links außen sahen. Auch ihre Füße und Fäuste schienen erkrankt zu sein, denn diese fanden sich des Öfteren in fremden Magengruben und Gesichtshälften wieder. Ich vermutete damals, dass es sich hierbei um eine Art von kollektiver Epilepsie oder einen mir unbekannten, exotischen Tanzritus handeln müsste, konnte jedoch dieses Phänomen nicht weiter verfolgen, da sich eine Bürgerinitiative gegen diese einseitige Rechtssichtigkeit gegründet hatte, und die partiell Erblindeten deshalb aus Lindenau wegzogen. Zwar nur in den Nachbarstadtteil Plagwitz, also zwei Straßen weiter, aber das lag schon außerhalb meines Forschungsfeldes.

Was mich an der Möglichkeit dieser symbolischen Kommunikation von Frau Sebald zweifeln ließ, war die Tatsache, dass ich noch keinem Lindenauer begegnet war, der versucht hätte, irgendetwas durch eine Blume zu sagen. Die Bierblume ausgenommen. Ansonsten war man hier, wie gesagt, eher direkt und unverblümt. Lindenau als Hort der Poesie und feinen Redensarten erschien mir demnach zumindest zweifelhaft.

Wahrscheinlicher war die Möglichkeit einer großangelegten Verschwörung auf Seiten des geheimen Ordens der Hausgemeinschaft. Die Spießer holten zum entscheidenden Schlag mit der Psychokeule aus, um mich aus ihrer Mitte zu vertreiben. Die Sebalds hatten einen geheimen Zweimächtepakt mit jener polyphonen Frau im Erdgeschoss geschlossen, die Gott so reich mit den verschiedensten Persönlichkeiten beschenkt hatte. Frau Sebald besaß nun ein zweites Ich. Eine flexibel einsetzbare Freundlichkeit, um meine Forschungsarbeit zu torpedieren und mich langsam in den Wahnsinn der Widersprüchlichkeiten zu treiben.

Gewiss, die Klarheit des Anfangs hatte schon einige Wochen zuvor erste zaghafte Risse bekommen und ich musste viele meiner bis dato aufgestellten Vermutungen revidieren. Ich hielt dies für nicht besonders beunruhigend, da es eher die ethnologische Norm ist, dass sich Anfangsurteile irgendwann als Vorurteile erweisen. Seit Malinowski versucht die Ethnologie from the native’s point of view, also aus dem Blickwinkel der Eingeborenen, zu schreiben. Diesen Punkt erreicht man, wenn überhaupt, meistens erst nach intensiver und langwieriger Beobachtung der Eingeborenen. So wertete ich es durchaus positiv, dass ich meine anfängliche Vermutung, das gewaltige Hoftor wäre ein sinnloses Relikt aus mittelalterlichen Zeiten, anhand eigener Erfahrungen revidieren musste.1

Aber dieses Lächeln war etwas anderes. Es passte so wenig in meine Lindenauerfahrung wie ein Maasaikrieger in die Antarktis.

War es möglich, dass ich mich auch bei anderen Riten und Bräuchen getäuscht hatte? Waren auch die anderen Phänomene, wie diese grassierende Sprachfaulheit aller Mitbewohner, nur ein vordergründiger Trugschluss? Waren die Bewohner gar nicht archaisch, sondern postmodern und kommunizierten nur noch über High-Speed-Internet und sprachen deshalb nicht mehr mit ihren Nachbarn? Rauchten und keuchten die Smoker nur, um mich zu verwirren? War das Durchstöbern der Mülltonnen nur ein tagtägliches Ablenkungsmanöver? Ich hatte immer mehr die Hellers im Verdacht. Und die Sebalds, was war mit ihnen? Waren sie nie reinheitsfanatisch gewesen, sondern taten sie nur so? War ganz Lindenau nur eine Projektion, ein Spiegelbild meiner Vermutungen und niemals in sich selbst existent? War mein Lindenaubild ein einziges Klischee, wie einige Kritiker meiner Forschung behaupten? Waren die tagtäglichen Familientragödien in der Nachbarschaft, die volltrunkenen Straßenbewohner und die Horden aggressiver Jugendlicher nur Randerscheinungen, weil ich eine Affinität zu den Rändern verspürte, die weit in meine eigene Mitte reichten?

Ich trank erst mal weiter und beschloss, am nächsten Tag den emeritierten Professor Fahrenreuther mit dieser unerwarteten Wendung meiner Forschung zu konfrontieren. Er hatte sein halbes Leben in den südsudanesischen Sümpfen verbracht und kannte jede noch so popelige Ethnie von Kamtschatka bis ins tiefste Afrika. Sicher wusste er auch, wie bei den Lindenauern weiter vorzugehen war.



1 Das akkurate Verschließen des Tores hatte einen Sinn. Zumindest, wenn man eine Abneigung gegen Erbrochenes oder Uringeruch hatte. Unsere unbeleuchtete Einfahrt galt nämlich als beliebte Entsorgungsstelle für Körperausscheidungen der verschiedensten Arten. Sowohl der Clan von Straßen-Lindenauern, der sich oben an der Merseburger Straße traf, als auch die Besucher der neueröffneten Lindenauer Bier Academy in der Georg-Schwarz-Straße nutzten diesen Ort in den Abendstunden für gezielte und ausufernde Urinalien. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei nur um gewöhnliche Reviermarkierungen, aber Urin und Erbrochenes stellen eben für die meisten Menschen sowohl eine olfaktorische als auch visuelle Belästigung dar. Unter diesen Aspekten leuchtete mir der inhärente Sinn dieses geschlossenen Eisentores durchaus ein.