image

image

Natascha Knecht

geboren und aufgewachsen im Haslital im Berner Oberland, arbeitet seit zwanzig Jahren als Journalistin. Sie schreibt für «Tages-Anzeiger», «Schweizer Illustrierte» und «Schweizer Landliebe», vorwiegend über Alpinismus. Jede freie Minute verbringt sie am Berg. Natascha Knecht lebt in Zürich.

Dank

Ohne die Unterstützung von Annelis Brügger (Meiringen), Kaspar Willi (Schattenhalb, 1935–2014), Viktor Ammann (Hasliberg Reuti), Roland Frutiger (Meiringen), Thomas Hürzeler (Dietlikon) und Jan Morgenthaler (Zürich) wäre dieses Buch nicht zustande gekommen.

Dank geht auch an Samuel Widmer, Alice Anderegg, Hans Ott, Peter Schläppi, Marianne Fehr, Suzanne Maier, Marco Bomio, Thomas Senf, Emil Feuz, Nigel Simmonds, Walter Schmid, Nick Holliger. An den Alpine Club, den SAC und die Bibliotheken, welche die historische Literatur liebevoll pflegen, aufbewahren und digitalisieren. An alle Schriftsteller früherer Generationen, die durch ihr Schaffen die damalige Zeit festgehalten haben. An meine Vorgesetzten und Arbeitskollegen, die meine Abwesenheit auf der Redaktion zu überbrücken bereit waren. An Erwin Künzli und Jürg Zimmerli vom Limmat Verlag und Trix Krebs für die moderne grafische Umsetzung. Und an meine Freunde und Bekannten, die mir beigestanden sind.

image

NATASCHA KNECHT

PIONIER UND
GENTLEMAN DER
ALPEN

DAS LEBEN DER BERGFÜHRERLEGENDE
MELCHIOR ANDEREGG (1828–1914)
UND DIE BLÜTEZEIT DER ERSTBESTEIGUNGEN
IN DER SCHWEIZ

Für finanzielle Unterstützung danken wir dem Lotteriefonds des Kantons Bern.

image

Im Internet

› Informationen zu Autorinnen und Autoren

› Hinweise auf Veranstaltungen

› Links zu Rezensionen, Podcasts und Fernsehbeiträgen

› Schreiben Sie uns Ihre Meinung zu einem Buch

› Abonnieren Sie unsere Newsletter zu Veranstaltungen und Neuerscheinungen

www.limmatverlag.ch

Die Umschlagfotografie zeigt den Bergführer Melchior

Anderegg (links) mit seinem «Herrn» und Freund

Leslie Stephen in London, 1861.

Typographie und Umschlaggestaltung von Trix Krebs

© 2014 by Limmat Verlag, Zürich

ISBN 978-3-85791-751-6
eISBN 978-3-03855-004-4

Inhalt

Wer ist Melchior Anderegg?

1855 im Grimsel-Hospiz: Die Karriere beginnt

Ambitionierte Gletschertour über den Strahleggpass – Mit Flöhen im Heubett – Sonnenbrand der Engländer – Hinchliff schiesst «wie ein Blitz» in eine Spalte – Stärker als der störrische Widder – Melchiors Kindheit in Zaun bei Meiringen – Wechsel in den «Schwarenbach» auf der Gemmi – Oberländer «Kriegsruf» auf dem Altels

Der steinige Weg zum Alpinismus

Die Engländer kommen – Kriegsrhetorik in den Bergen – Rückblick: Die Alpen sind schrecklich, Bergbesteigungen verboten und «keineswegs lukrativ» – Mit Pantoffeln auf den Mont Blanc – «Wo ist jetzt die Jungfrau?»

Von Touristen und Alpinisten

Die Industrialisierung ruiniert in Grossbritannien die Landschaft und das Essen – Die «gewespeten Taillen» in Interlaken – Alpinist, der neue elitäre gesellschaftliche Stand – «Herr, Sie klettern so gut wie eine Gemse!» – Die erste kommerzielle Vermarktung einer Bergtour – Flitterwochen mit dem Bergführer statt mit der Ehefrau

Erstbesteigung des Zinalrothorns mit Leslie Stephen

Die Hochalpen als neue Kathedrale – Ein endloses Füllhorn der Ärgernisse – Vor Kälte spielen die Zähne «Schlagzeug zu Negerweisen» – Rittlings über die «Rasiermesserbrücke» – Melchiors Freudensprünge an den unmöglichsten Stellen – Stephens Sturz in eine Gletscherkluft

Ein neuer Beruf

Schmiergeld, Verständigungsschwierigkeiten, Lügen – Bergführer werden patentiert – Nicht ohne meinen Camerado – «Lotzer» sorgen für Beschwerden – Das komplexe Verhältnis zwischen «Herr» und Führer – Schweizer Bergführer erlangen Weltruf

Melchior heiratet, dann taucht die reiche Lucy Walker auf

Melchior verliebt sich in Margaretha, Lucy verguckt sich in Melchior – Das «gemeinsame Übernachten des ledigen Jungvolkes» – Melchiors erste Erstbesteigung – Sein erster Sohn wird geboren

Unfall und Rettungsaktion am Col de Miage

Ein 18-jähriger Engländer stürzt 530 Meter ab – Sein ganzer Körper ist von den Schürfungen eine einzige Fleischwunde – Kräftezehrende pedestrische Rettung durch Melchior und die weiteren Bergführer – Rettung der Ehre englischer Alpinisten in der Brenvaflanke am Mont Blanc

Ausrüstung, Technik und Alkohol

Barriere Ambulante – «Der Herr ist im Schrund!» – Das Seil, ein Zeichen der Ängstlichkeit – Beliebte «Gepäckträger» – Biwakieren im Sturm – Gute Gründe, Steigeisen abzulegen – Wein gehört auf Bergfahrten zur Kultur – Höhenkrankheit, ein eingebildetes Symptom

Im Heilbad ein Empfang «so kalt wie ein Gletscher»

Erstbesteigung des Monte della Disgrazia: «Forwärts meine Herren!» – Falschen Weg eingeschlagen – Von Blitz und Donner überrascht – Mürrischer Leslie Stephen – Ein englischer Diener an Melchiors Seil

Was macht den grossen Bergführer aus?

Ein Schwingfest wie aus einem Ritterroman – Eiskunst und Spürsinn wie ein Indianer – Eine strenge und eine sanfte Natur – Diplomatie und Hochhaltung des Bergführerberufs – Im Zickzack durch die halbe Schweiz und bis nach Slowenien

Melchior und das Matterhorn

Die Konkurrenz schläft nicht: Lucy Walker, die erste Frau auf dem Matterhorn – «Courage! Le Diable est mort!»

Reiche Touristen, arme Bergler

Pferde, Kutschen und Dampfeisenbahn: Die Reisemittel in den 1860er-Jahren – Bettelei, Ansingerei und schlechte Alphorntuterei werden polizeilich verboten – Ausländische Gäste klagen über stinkende Hotels und menschliche Parasiten – In den Alpen sind Kröpfe und Kretinismus allgegenwärtig

Melchior bei den Briten

Der Haslitaler reist dreimal nach England – Rauchende Fabriken und Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett begeistern ihn – Eine Londoner Galerie stellt seine Holzschnitzkunst aus

Einer der Engländer: Melchiors legendärer «Herr» und Freund Leslie Stephen

Stephen legt seinen Priesterorden ab – Im Alpine Club sorgt er für Zoff – Er heiratet und gibt das Bersteigen auf – Seine Ehefrau stirbt, ebenso seine zweite Ehefrau – Acht Kinder, darunter die spätere Schriftstellerin Virginia Woolf

Melchior, der Familienpatriarch

Lucy Walker, das grosse Kuriosum am Berg und an Melchiors Seite – Melchiors Leben auf Zaun bei Meiringen – Schicksalsschläge, Krankheit und Tod

Anhang

Karte der Schauplätze – Erstbesteigungen – Nachgewiesene Besteigungen und Übergänge – Ein Beispiel: Sechs Wochen mit Melchior Anderegg – Das Andereggjoch – Melchior Andereggs Erbe – Grosse Schweizer Bergführer – Quellen und Literatur – Register der Berge und Orte – Namensregister

WER IST MELCHIOR ANDEREGG?

Wer ist Melchior Anderegg? Diese Frage kann nur jemand stellen, der nie in den Schweizer Alpen war, wo sein Name ebenso bekannt ist wie Napoleon. Melchior ist auf seine Art auch ein Kaiser, ein Fürst unter den Führern. Sein Reich ist der ewige Schnee, sein Szepter der Eispickel.

Dies schreibt Alpinist Edward Whymper in seinem Bestseller «Scrambles Amongst The Alps», den er 1871 veröffentlicht, zu einer Zeit, als sich Melchior Anderegg auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Bergführer befindet, anspruchsvolle Erstbesteigungen leitet und mit seinen «Herren» unermüdlich neue Wege und Routen beschreitet. Zusammen mit den Engländern hat der Pionier aus Meiringen die frühe Geschichte des klassischen Alpinismus wesentlich geprägt. Dafür ehrt ihn der Alpine Club in London bis heute: «Unsere alpinistische Geschichte ist uns sehr wichtig. Und Melchior spielt darin eine wichtige Rolle», sagt Jerry Lovatt, gegenwärtiger Honorary Librarian.

Heute, wo befahrbare Strassen bis in die hintersten Winkel der Seitentäler führen und Bahnen viele hundert Höhenmeter Auf- und Abstieg erleichtern, kann man sich kaum noch vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten die Bergsteiger im «Zeitalter der Eroberungen» zu kämpfen hatten. Wie reich an Mühseligkeiten und Fährnissen die Alpenreisen, selbst auf den gangbarsten Pfaden, gewesen sind. Als der junge Haslitaler Melchior Anderegg Anfang der 1850er-Jahre seine ersten «Herren» in die vergletscherten Höhen seiner Heimat führt, steckt der Alpinismus noch in den Kinderschuhen. Es gibt weder reissfeste Seile noch atmungsaktive Kleidung, weder Clubhütten noch verlässliches Kartenmaterial. Etliche Gipfel haben keinen offiziellen Namen. Man weiss nicht einmal sicher, welche Gefahren in dieser Terra incognita lauern, geschweige denn, wie man ihnen begegnen soll. Die Vertrautheit mit den hohen Bergen muss erst noch gefunden und erprobt, der Umgang mit Sturm und Nebel, Gletscherspalten und schmalen Felstritten erarbeitet werden.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts sind gelegentlich Gelehrte zu Forschungszwecken ins Hochgebirge gestiegen. Nicht zum touristischen Vergnügen. Die einheimische Bergbevölkerung meidet die steilen, kalten Geröll- und Eishalden seit jeher. Sie sehen keinen Grund, dort hinaufzusteigen. Wozu auch? Als Bauern sind sie Selbstversorger, müssen schauen, dass sie durch den Winter kommen. Dort oben gibt es für sie nichts zu ernten. Die Menschen glauben gar, in den unzugänglichen Höhen leben Dämonen und Gespenster, die regelmässig Unheil ins Tal bringen. Lawinen, Murgänge, Überschwemmungen. Innert Minuten, so es der Teufel will, ist ein Dorf ausradiert.

Wie aus heiterem Himmel kommen Mitte des 19. Jahrhunderts plötzlich wohlhabende und gebildete Städter, die in diese Stätten des Grauens vordringen wollen. Allen voran suchen unternehmungslustige Engländer mit langen Sommerferien dort den Reiz des Unbekannten. Sie machen die Hochalpen zu ihrem neuen Spielplatz, wo sie unberührte Gipfel und Gletscher «erobern» können. Für sie steht nicht wissenschaftliches Interesse im Vordergrund, sondern sportliche Freizeitbeschäftigung. Kein Gipfel ist ihnen zu hoch oder zu abgelegen, kein Wind zu bissig, kein Abgrund zu grässlich. Zuvor hatten Stürmer, Dränger und Romantiker die schroffen Alpen als Seelenlandschaft entdeckt und besungen, aber nie bestiegen.

image

Der erste grosse Bergführer der Schweiz: Melchior Anderegg aus Zaun bei Meiringen. Für diese Aufnahme ist er 1879 nach Interlaken gereist, im Hintergrund die Jungfrau.

Als Begleiter engagieren die sogenannten «Hochtouristen» einheimische Bergführer. Zu Beginn sind das Jäger, Kristallsucher und Hirten, deren Erfahrung in diesen Einöden allerdings nicht sehr ausgeprägt ist. Besonders wenn sie nicht nur als «Wegweiser» oder «Pfadfinder» agieren sollen, sondern die Verantwortung für das Leben der «Herren» tragen müssen. In diesen Pionierjahren entwickelt sich Melchior Anderegg zum Meister. 1856 gehört er zu den ersten, die ein Schweizer Bergführerpatent erhalten und bald darauf zu den ersten Schweizer Bergführern, die aus der engen Heimat ausbrechen und überall in den Westalpen Erstbesteigungen in Angriff nehmen. Mit seinen «Herren» wagt er für damalige Verhältnisse Ausserordentliches und bewältigt eine Reihe von hochklassigen Ersttouren im Berner Oberland, im Wallis, im Mont-Blanc-Gebiet, im Bergell und in den Dolomiten. Melchior Anderegg, der als einfacher Knecht im Grimsel-Hospiz begonnen hat, wird zum Vorbild der nachfolgenden Bergführergenerationen.

Trotz Ehrgeiz und Tatendrang lehnt er tollkühnes Draufgängertum ab. Die Sicherheit der ihm Anvertrauten steht für ihn an erster Stelle. Nie lässt er sich zu leichtsinnigen Manövern drängen. Da bleibt er der sture Bergler, selbst wenn ihn ein «Herr» überreden will: «Melchior, das geht schon.» Dann antwortet er: «Ja, es geht. Aber ich gehe nicht.»

Nebst seinen bergsteigerischen Fähigkeiten machen ihn sein Charisma, seine feinfühlige Autorität, seine Ehrlichkeit und sein Humor begehrt. Eigenschaften, mit denen sich im «Goldenen Zeitalter des Alpinismus» nicht alle Bergführer rühmen können. Einer seiner englischen «Herren» schreibt: «Melchior war 42 Jahre lang mein Führer, und ich habe nie von ihm einen Ausdruck vernommen, der sich gegenüber der vornehmsten Dame nicht gehört hätte.» Die ambitioniertesten Bergsteiger des englischen Alpine Club reissen sich um ihn, wollen von ihm lernen. Rühmt er sie am Berg mit seinem kargen «Gut! Gut!», ist das für sie fast schöner als der Gipfelerfolg selber.

Während sich bereits zu den alpinistischen Anfangszeiten viele Männer an bergsteigenden Frauen stören, zeigt Melchior nie ein Problem mit ihnen. Mehrere Damen gehören zu seinem Kundenkreis. Einmal wurde er gefragt, wie er denn eine Lady über eine Gletscherspalte locke. Anderegg antwortete scherzend: «Nun, ich gehe voraus. Dann nehme ich ein Zucker-Bonbon aus dem Hosensack, strecke es ihr entgegen und sage: Komm, komm, komm! Und sie kommt sofort.»

Lucy Walker, die erste Frau, die regelmässig ins Hochgebirge steigt, unternimmt ihre Touren ausschliesslich mit Melchior Anderegg. Unter seiner Führung steht sie als allererste Frau auf dem Matterhorn und weiteren Viertausendern. Sie pflegen eine jahrelange innige Freundschaft. Auf die Frage, weshalb sie nie geheiratet habe, soll die sehr vermögende Lucy Walker geantwortet haben: «Ich liebe die Berge und ich liebe Melchior, aber er hat schon eine Frau.»

In der Schweiz geht Melchior Anderegg als «Glanzgestirn» in die Geschichte ein, bei den Engländern als «King of the Guides» – «König der Bergführer». Ein Titel, der von der ersten Führergeneration nie zugunsten eines anderen angefochten worden ist.

1855 IM GRIMSEL-HOSPIZ: DIE KARRIERE BEGINNT

AMBITIONIERTE GLETSCHERTOUR ÜBER DEN STRAHLEGGPASS — MIT FLÖHEN IM HEUBETT — SONNENBRAND DER ENGLÄNDER — HINCHLIFF SCHIESST «WIE EIN BLITZ» IN EINE SPALTE — STÄRKER ALS DER STÖRRISCHE WIDDER — MELCHIORS KINDHEIT IN ZAUN BEI MEIRINGEN — WECHSEL IN DEN «SCHWARENBACH» AUF DER GEMMI — OBERLÄNDER «KRIEGSRUF» AUF DEM ALTELS

Im Sommer 1855 taucht der 29-jährige Thomas Woodbine Hinchliff im Grimsel-Hospiz auf. Ein hochgebildeter Anwalt aus London, der allerdings nicht praktiziert. Er besitzt so viel Vermögen, dass er nie arbeiten muss und sich ganz und gar dem angenehmen Leben zuwenden kann. Drei Sommer lang reist er kreuz und quer durch die Alpen, um über seine Erlebnisse ein Buch zu schreiben. In diesem Jahr hat er sich vorgenommen, seine erste Hochgebirgsfahrt im Berner Oberland zu unternehmen: Von der Grimsel über den vergletscherten Strahleggpass nach Grindelwald. Damals eine ambitionierte Tour.

Hinchliff und sein Gefährte, den er Mister Dundas nennt, erreichen das Hospiz «an einem wunderschönen Abend» im August und reden mit dem Wirt über ihren Plan. Seine Wetterprognose ist zuversichtlich, und er empfiehlt ihnen zwei Bergführer, die er ihnen am Morgen nach dem Frühstück vorstellen will, damit sie am Nachmittag starten können.

Während Hichcliff im Hospiz auf das Abendessen wartet, beobachtet er einen Schotten und einen Führer, die wild miteinander gestikulieren und sich gegenseitig etwas zu verstehen geben wollen. Aber die beiden sprechen nicht dieselbe Sprache. Hinchliff wird als Übersetzer zugezogen und findet heraus, dass die Frau des Schotten auf einem Chaise-à-Porteur, einem Tragstuhl, nach Meiringen getragen werden will. Nachdem die Träger die Leibesfülle der Dame gesehen haben, bestehen sie auf der Unterstützung durch weitere Männer. Der Ehemann ist schon so aufgebracht, dass Hinchliff ihm diese Beleidigung nicht übersetzen will. Schliesslich sind die Träger damit einverstanden, die Lady wie üblich zu viert ins Tal zu tragen.

Am nächsten Morgen wird Hinchliff zwei Bergführern vorgestellt: Melchior Anderegg und Johann Huggler. Die beiden machen ihm «einen vielversprechenden Eindruck». Melchior ist 27-jährig, muskulös und mittelgross. Seine Haare sind wie seine Augen pechschwarz. Er trägt noch keinen Bart, aber modische kurze Koteletten an den Schläfen.

Nach einer kurzen Unterhaltung beschliessen sie, um vier Uhr nachmittags aufzubrechen. Den Engländern bleibt Zeit, eine Wanderung zum Rhonegletscher zu unternehmen. Gegen drei Uhr kehren sie zurück zum Hospiz. Dort sind ihre Bergführer eifrig daran, die Expedition vorzubereiten. Melchior macht sich eigenhändig daran, die Lederschuhe der Engländer mit spitzen Eisennägeln zu beschlagen. Einen jungen Trägerburschen schicken sie mit Holz, Decken, Mundvorrat, einigen Messern und etwas Geschirr zum Pavillon Dollfus-voraus.

image

Stützpunkt von Forscher Franz Josef Hugi auf dem Unteraargletscher, der «Hugiblock» und die Steinhütte (vorne rechts), Vorläuferin des Hotel Neuchâtelois, 1827.

Diese einfache Gletscherhütte befindet sich neun Kilometer vom Hospiz entfernt – dort, wo heute die Lauteraarhütte des Schweizer Alpen-Clubs steht – und ist eine Hinterlassenschaft von Gletscherforscher Daniel Dollfus-Ausset aus den 1840er-Jahren. Damals haben Glaziologen aus Neuenburg und aus dem Ausland mehrere Sommer auf dem Unteraargletscher verbracht, von morgens früh bis abends spät experimentiert, gemessen, gebohrt, beobachtet und gerechnet. Erst richteten sie ihr Laboratorium und Logis auf der grossen Mittelmoräne «unter einem riesigen Felsblock» ein. Rundum bauten sie eine Mauer und belegten den Boden mit Steinplatten. Diesen primitiven Schlafplatz für sechs Personen nannten sie «Hôtel Neuchâtelois».

image

Pavillon Dollfus, 1845 errichtet von Daniel Dollfus-Ausset, Fabrikant und Forscher aus dem Elsass.

Das Treiben der Gelehrten und vor allem ihre Behauptung, dass zwischen der Zeit der Schöpfung und der Gegenwart ganz Europa unter einer Eisdecke gelegen haben müsse, erregte die Neugier eines internationalen Publikums. Touristen kamen auf die Grimsel, um die Wissenschaftler bei der Arbeit zu beobachten. Nicht selten kam es vor, dass einer geglaubt hatte, das Hôtel Neuchâtelois sei ein behaglicher Gasthof. Diese Unterkunft hielt nicht lange, sie wurde vom fliessenden Gletscher und den Schneefällen im Winter zerstört. Der Pavillon Dollfus wurde daraufhin an einer sinnvolleren Stelle gebaut: Auf einem Felssporn etwa zweihundert Meter oberhalb des Unteraargletschers.

WEIN UND MILCHKAFFEE

Seit die Forscher weitergezogen sind, dient der verwitterte «Pavillon» nun den Alpinisten als Ausgangspunkt für die weite Tour über die Strahlegg. Kurz nach vier Uhr machen sich Melchior Anderegg, Huggler, Hinchliff und Dundas vom Hospiz auf den Weg. Um sich gegen die Sonne zu schützen, haben sie Schleier um ihre Hüte gewunden. Melchior trägt in seinem Rucksack Proviant und an der Aussenseite hat er ein Seil befestigt. Statt des gewöhnlichen Alpenstocks gebraucht er eine Kombination aus Axt und spitzer Stange, welche zu dieser Zeit in Chamonix bekannt ist.

Huggler buckelt den Weinkeller, einen Blechkanister mit Riemen, damit er wie ein Rucksack getragen werden kann. «Er war so gross, dass die Leute hätten glauben können, wir würden für eine ganze Woche ausrücken», schreibt Hinchliff später. Selber schultern die Engländer nichts. Ihr Reisegepäck haben sie für sechs Franken durch einen Träger via Meiringen und Grosse Scheidegg ins Hotel Adler nach Grindelwald bringen lassen.

Noch bevor sie zum Unteraargletscher kommen, holen sie einen Gentleman aus Deutschland ein. Er will sich der Gruppe für die Tour anschliessen. Melchior hat nichts dagegen, es gibt genug Vorrat für alle. Obschon das Gehen auf dem steinigen, aber zuweilen steilen Pfad einfach ist, fällt der Deutsche immer weiter zurück. Oben auf der Moräne müssen sie einige Zeit auf ihn warten. Als die fünf kurz vor sieben im letzten Anstieg zum «Pavillon» sind, dunkelt es ein, und sie erleben einen Moment, den Hinchliff als «selten schön» in Erinnerung bleibt: «Der Mond ging in seiner vollen Pracht hinter der gigantischen Bergkette auf und brachte die Schneegipfel wie in Silber getaucht zum Leuchten. Wir standen da und schauten in aller Stille und Bewunderung zu, bis uns der Trägerbursche entgegeneilte und rief: ‹Das ist der Mond!› Wir alle mussten herzlich lachen. Dass uns der arme Kerl erklärte, dass das der Mond war, hatte etwas Absurdes. Wie klein der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen doch sein kann!»

Die Hütte ist in zwei Kammern aufgeteilt. Eine für die «Herrschaften», eine für die Bergführer. Als Schlafunterlage steht ein Haufen Heu zur Verfügung. Neben einer kleinen Grube, die als Küche dient, stehen Tisch und Bänke. Der Bursche hat schon vor ihrer Ankunft mit dem mitgetragenen Holz angefeuert. Es gibt kaltes Schaffleisch, Brot und Käse, dazu heissen Milchkaffee. «Danach verbrachten wir den Abend angenehm mit Wein und einer Pfeife», so Hinchliff. Gegen neun Uhr wickeln sie sich in die Decken, liegen «wie Mumien nebeneinander» und hätten sehr komfortabel genächtigt, «wären wir Menschen die einzigen Lebewesen in den Heubetten gewesen». Hinchliff versucht, die Flöhe gelassen zu nehmen und kann «recht gut schlafen», bis ihn das Geräusch der Türe aufweckt. «Als ich aufschaute, sah ich die dunkle Kontur Melchiors vor mir. Er sagte, es sei halb vier und Zeit für das Frühstück. Also standen wir auf, assen wieder Schaffleisch und tranken Kaffee. Der Deutsche sass ebenfalls mit uns am Tisch.» Der Mut hat ihn verlassen. «Ohne um den heissen Brei zu reden, sagte er, die Expedition sei nichts für ihn, er gehe mit dem Träger zurück. Wir wollten ihn nicht davon abhalten. Als wir mit unseren zwei Führern gegen fünf Uhr rechts von der Hütte wegmarschierten, gingen er und der Bursche hinab zur Grimsel.»

SCHRECKEN BEIM BERGSCHRUND

Melchior führt seine Truppe über den Unteraargletscher hinauf zum Finsteraargletscher. Mit dem Stock sondiert er verborgene Schründe unter dem trügerischen Schnee und mahnt die Engländer zu sorgfältigem Gehen. Zwischendurch müssen sie über Spalten springen, was Hinchliff nicht Angst, sondern Spass macht. Nach drei Stunden erreichen sie den Strahleggfirn und legen einen Frühstückshalt ein. Besonders «fürstlich» ist der Trunk aus der Blechflasche, die sie sorgfältig mit Schnee gekühlt haben.

Die steigende Sonne weicht den Firn auf, was den Marsch mühsam macht. Im Steilhang zum Strahleggpass binden sie erstmals auf dieser Tour das Seil um und stapfen in einer Reihe weiter, Melchior voran, gelegentlich bis zu den Hüften einsinkend. Beim offenen Bergschrund erlebt Hinchliff einen Schrecken. Melchior überwindet die Kluft, stampft auf der anderen Seite mit den Füssen einen Standplatz in den Firn und fordert Hinchliff auf, nachzukommen. Beim ersten Versuch verschwindet dieser bis zum Hals im Schrund. Vom Seil festgehalten und gezogen, kann er sich schwitzend emporarbeiten. Dundas und Huggler folgen mit weniger Kapriolen. Melchior spricht kein Wort, bis sie den Übergang auf der Strahlegg auf 3332 Meter gegen zehn Uhr erreichen.

image

Von der Grimsel über den Strahleggpass nach Grindelwald – oder umgekehrt: Eine fast dreissig Kilometer lange Gletschertour.

Zeit für das frühe Mittagessen. Die Sonne glüht, und der mit Schnee «frappierte» Wein schmeckt wieder köstlich. Inzwischen macht die Sonneneinstrahlung und die Hitze den Engländern zu schaffen. Trotz Schleier verbrennt ihre Gesichtshaut. Sie schauen sich noch eine Weile die Aussicht an, dann geht es über die langen, mit Fels durchsetzten Schneefelder zum Oberen Eismeer hinunter. Um rascher vorwärtszukommen, bewerkstelligen sie diesen Abstieg zwischendurch auf dem Hosenboden: Sie setzen sich nah hintereinander in den Schnee, umfassen die Beine des Hintermannes und rutschen los. Bei einer dieser «Schlittelfahrten» über den buckligen Untergrund bricht der Zug auseinander. Unter Gelächter sausen sie die Bahn hinab, wobei ein Fläschchen Schnaps verloren geht.

Später, beim Queren einer steilen und gefrorenen Schneepassage, verliert Hinchliff den Halt und schiesst «wie ein Blitz» in die Tiefe. «Unter mir sah ich ein Meer von Spalten, auf das ich hilflos zusteuerte. Zum Stillstand kam ich glücklicherweise in einer kleinen Spalte, die schmal genug war, um mich aufzuhalten, aber nicht breit genug, mir Harm anzutun.» Melchior steigt aufgeregt zu ihm ab. Für den Rest des Abstiegs nimmt er die Engländer ans Seil. An steilen und schwierigen Felsen sichert er die beiden daran hinab. So gelangen sie zum Unteren Grindelwaldgletscher und über einen schmalen Pfad hinab ins Dorf. Um 16.30 Uhr treffen sie im «Adler» ein.

Die Bergführer bekommen je dreissig Franken und ein Trinkgeld. Im Preis mitberechnet ist ihr Rückmarsch auf die Grimsel. Hinchliff ist begeistert. «Wir haben die Strahlegg-Reise sehr genossen. In der Freude über die Abenteuer des Tages betrachten wir uns als überaus entschädigt für die Kosten und die Mühe.»

Es ist die erste, im einzelnen bekannte Tour von Melchior Anderegg. Von Huggler, dem zweiten Führer, vernimmt man eigentlich nur, dass er den Weinkeller getragen hat.

VOM SCHNITZER ZUM GRIMSEL-KNECHT

In seiner Heimat Haslital macht Melchior Anderegg erstmals als Fünfjähriger von sich reden. Sein Götti besitzt einen stattlichen, aber störrischen Widder. Scherzhaft sagt er zu dem Buben: «Wenn du mir den fängst, so soll er dein sein!» Das lässt sich Melchior nicht zweimal sagen. Wie eine Katze schleicht er sich an das Tier heran, packt es im Sprung und klammert sich an seinem Hals fest. Mit aller Kraft versucht der streitbare «Bänz» frei zu werden. Melchior krallt sich wie ein Geier mit beiden Fäusten in der Wolle fest. Als nach langem Ringen die wilde Jagd über Stock und Stein zu Ende geht, hängt der Bub noch immer drin und bleibt der Sieger. Später wird Melchior einer der ganz «bösen» Schwinger im östlichen Berner Oberland. An den Festen holt er immer wieder ein Schaf. Aber nie mehr ein so prächtiges Exemplar.

image

Der Dorfkern von Meiringen, ca. 1888: Dunkle Holzhäuser inmitten einer pittoresken Wald- und Gipfellandschaft. So haben sich die ausländischen Gäste «ein wahres Bergdorf» vorgestellt.

Am 28. März 1828 geboren, wächst er im abgelegenen Weiler Zaun auf, vierhundert Meter oberhalb von Meiringen. Die kinderreiche Familie lebt wie der Grossteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Fleissige, einfache Leute. Viehhaltung, Alpgang, Nutzung der Allmenden und Wälder gelingt nur dank des starken Zusammenhalts in der Familie und der Nachbarschaft.

Im Tal sind die Schulklassen überfüllt, und die Lehrer verdienen so wenig, dass sie noch anderen Verdienstmöglichkeiten nachgehen müssen. Von einem weiss man, dass er weder schreiben noch rechnen, von einem anderen, dass er nicht schreiben kann. Zu Melchiors Einschulung 1835 tritt das Bernische Primarschulgesetz in Kraft, und die Lehrer werden verpflichtet, zur Ausübung des Berufes eine theoretische Prüfung abzulegen. Zu den obligatorischen Unterrichtsfächern gehören nun: Christliche Religion, Muttersprache, Kopf- und Zifferrechnen, Schönschreiben, Gesang. In der Oberstufe auch Linearzeichnen, Geschichte, Erdbeschreibung, Naturkunde, Verfassungskunde, Buchhaltung, Hauswirtschaft und Landwirtschaft.

Nach Abschluss der Grundschule hilft Melchior weiterhin auf dem elterlichen Bauernhof mit. In den ruhigeren Wintermonaten widmet er sich seiner künstlerischen Begabung, der Holzschnitzerei. Bären, Murmeltiere und Chalets sind beliebte Souvenirs bei den Touristen. Für den Fremdenverkehr liegt das Haslital ideal. Die Gäste kommen von Interlaken her, von Luzern über den Brünig, von der Gotthardstrasse via Wassen über den Susten, vom Oberwallis über die Grimsel, von Engelberg über den Jochpass und von Grindelwald über die Grosse Scheidegg. Zudem kommt Meiringen das «milde Klima» zugut. Das Dorf liegt auf lediglich sechshundert Metern über Meer.

Schon seit den frühen 1840er-Jahren verbringen hier ausländische Gäste längere Sommeraufenthalte und schwärmen von der «lieblichen Umgebung inmitten eines echten alpinen Tales». Besonders gefällt ihnen der Blick auf die hohen Schneegipfel und die vielen Wasserfälle, etwa die Kaskaden des tosenden Reichenbachfalls, in dem später Arthur Conan Doyle seinen Sherlock Holmes verschwinden lässt. «Die Einheimischen», so berichten die Reisehandbücher, «sprechen einen eigenen, angenehmen Dialekt und unterscheiden sich von den anderen Oberländern durch feineren, dennoch kraftvollen, fast durchgängig schönen Körperwuchs.» Und: «Die Frauen geniessen den Ruf, hübscher zu sein als jene der meisten Täler der Schweiz.»

image

Zu schmal und steinig für eine Kutsche: Auf dem Saumweg zur Handeck und auf den Grimselpass, um 1850.

Reich wird Melchior mit seinen Holzschnitzereien nicht. 1854 lässt er sich bei seinem Vetter Johann Frutiger im Grimsel-Hospiz als Knecht anstellen. Einst war das steinerne Gebäude auf dem historischen Passübergang eine wohltätige Stiftung, um Säumern eine Station zum Ausruhen zu bieten und mittellosen Wanderern eine kostenlose Zufluchtsstätte zu gewähren. Inzwischen ist es ein offenes Gasthaus, «in welchem für sehr dürftige Einrichtung, aber gute Verpflegung Preise der Hotels ersten Ranges gezahlt werden», wie ein Reisehandbuch informiert. Die Übernachtung in einer engen Bretterzelle mit Bett kostet 2 Franken, Abendessen ohne Wein 3 Franken, Kaffee 1.50 Franken, Service 1 Franken. Hinter dem Haus liegen zwei fischlose kleine Alpenseen, die auch im Hochsommer nicht selten nachts von einer dünnen Eisdecke überzogen werden.

image

Das historische Grimsel-Hospiz, 1852 durch Brandstiftung in Schutt und Asche gelegt, 1853 neu aufgebaut und in den 1930er-Jahren im Grimselstausee untergegangen.

Melchior hilft bei der Führung des Gasthauses und in den dazugehörenden Alpbetrieben. Zu tun gibt es hier auf zweitausend Meter über Meer rund um die Uhr. An schönen Tagen geht es zu wie in einem Taubenschlag. Säumer, Kaufleute und Touristen kommen und gehen – zu Fuss, zu Pferd oder mit dem Tragsessel. Für einen Karrwagen oder gar Kutsche ist der Saumpfad zu schmal und steinig. Die Wanderung von Innertkirchen bis zum Hospiz dauert sechs Stunden. Zwischenstation bietet die grosse Sennhütte an der Handeck, wo ein Matratzenbett 1.50 Franken pro Nacht kostet.

Wie viele Berggasthäuser damals vermietet auch das Grimsel-Hospiz seine stämmigen Knechte als Bergführer. Durch die Gletscherforscher in den 1840er-Jahren habe sich das Hospiz zur «Brutstätte für die künftige Generation Führer entwickelt», schreibt Carl Egger in «Pioniere der Alpen». Jäger, Strahler und Hirten aus dem Haslital begleiteten die Wissenschaftler auf ihren Exkursionen im vergletscherten Gebiet. «Junge Wagehalse», die «flink wie ein Affe» waren und sich im Gebirge «mit unerschrockener Kühnheit aus allen schlimmen Lagen herauszuziehen wussten». Gemäss Egger haben sie in der Entwicklung des touristischen Bergsteigens aber noch keine Bedeutung erlangen können.

Das ändert sich, als Anfang der 1850er-Jahre neuerdings ausländische Gäste auf der Grimsel eintreffen, die nach Führern verlangen, um mit ihnen in diese noch immer weitgehend jungfräuliche Gletscherwelt vordringen. Melchior Anderegg, der auch ein passionierter Gemsjäger war, trifft im Hospiz seine ersten englischen «Herren». Wie und wann er seine erste Gletscherfahrt unternommen hat, ist nicht überliefert.

WIEDERSEHEN IM «SCHWARENBACH»

Den Sommer 1856 verbringt Melchior Anderegg nicht mehr auf der Grimsel, sondern im Gasthaus Schwarenbach auf dem Gemmipass, der einzigen Unterkunft zwischen Kandersteg und Leukerbad. Man hat ihm das Angebot gemacht, dort seine Holzschnitzereien an die Touristen zu verkaufen und gleichzeitig als Lokalführer zu arbeiten. Thomas Hinchliff, den Melchior im Vorjahr über die Strahlegg geführt hat, weiss von diesem Wechsel nichts und staunt nicht schlecht, als er im «Schwarenbach» den Speisesaal betritt und Melchior sieht. Dieser trägt einen grünen Schurz und ist von einer Schar Gäste umringt, die ihm beim Schnitzen zuschauen. Erfreut schütteln sich die beiden die Hand, und Hinchliff teilt Melchior mit, dass er den Altels (3629 Meter) besteigen möchte.

Am Abend sitzen die beiden vor dem Haus auf der Holzbank, rauchen eine Pfeife und besprechen die Details für die Tour. Melchior war wenige Tage zuvor auf dem Altels und weil er Hichliff kennt, trägt er keine Bedenken, ihn allein auf den Gipfel zu führen. Für damalige Verhältnisse ein unerhörtes Wagnis, da sehr steile Eispassagen zu überwinden sind. Hinzu kommt, dass es geschneit hat und das Wetter noch immer nicht wirklich gut ist.

Wiederum macht Melchior den Nagelschuster. Um 3.30 Uhr weckt er Hinchliff, um 4.30 Uhr verlassen die zwei das Haus. Melchior trägt im Rucksack Brot, kaltes Fleisch, ein paar Flaschen Wein und ein Seil. Am Ledergürtel hat er ein Handbeil befestigt. Über Weidhänge, Geröll und Schneefelder gelangen sie an den Rand des mächtigen Hängegletschers, wo unaufhörlich Eistücke herunterfallen. Die Sache sieht bedenklich aus. Aber Melchior versichert Hinchliff, dass sich der Haupteissturz nur etwa alle hundert Jahre ereigne und das zuletzt vor etwa sechzig Jahren geschehen sei.

Ganz falsch liegt Melchior mit seiner zeitlichen Einschätzung nicht: Ein gewaltiger Eisabbruch ging dort am 18. August 1782 nieder, dabei starben auf der Alp unterhalb zwei Kinder, zwei Erwachsene und gegen hundertvierzig Tiere wurden «jämmerlich erschlagen und zerschmettert», wie Urkunden von