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Deutsche Erstausgabe 1991 im Knaur Verlag

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Cry of the Mouse"

Aus dem Amerikanischen von Gabriela Schönberger-Klar
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1. KAPITEL

Obwohl Benny in Boston geboren und aufgewachsen war, hatte er erst kurz nach seinem Gespräch mit Millerman zum erstenmal die Gerichtsgebäude am Pemberton Square gesehen. In seinem marineblauen Sergeanzug, den er extra für diesen Anlaß günstig bei Filenes erstanden hatte, hatte Benny den Außenfahrstuhl in der Tremont Street genommen und dann den aus Ziegeln erbauten Gerichtshof betreten: Zu seiner Linken lag ein Bürogebäude, Dutzende kleiner Geschäfte und Restaurants säumten die Seite, die sich zur Tremont Street hin erstreckte, und direkt vor ihm lag schließlich das Gerichtsgebäude des Verwaltungsbezirks Suffolk, das einen einschüchternden Anblick bot. Benny kroch ein Schauer über den Rücken. Ein ähnliches Gefühl empfand er sonst nur, wenn er vor einem Spiel der Boston Redsock im Fenway Park der amerikanischen Nationalhymne oder den Klängen einer Blaskapelle lauschte, die hinter einer im Wind flatternden amerikanischen Fahne die Commons hinabmarschierte.

Jetzt, acht Monate später, war Benny wohl vertraut mit den Gerichtsgebäuden – sowohl mit dem alten als auch mit dem neuen Bau –, so, wie er sich auch in den verschachtelten unterirdischen Gängen im Krankenhaus auskannte, wo er fünf Tage in der Woche in der Schicht von drei Uhr nachmittags bis nachts um elf arbeitete. Doch es war das alte Gerichtsgebäude, das, in dem Familienrechtsangelegenheiten verhandelt und verurteilt wurden, in dem Benny den größten Teil seiner Vormittage verbrachte und das er am besten kannte: die höhlenartige, steinerne Eingangshalle, über der sich die drei Stockwerke öffneten, die veralteten Aufzüge, die Sitzungssäle, die Arbeitsräume, das Büro des Geschäftsstellenleiters, Dutzende von kleineren Gerichtszimmern, die Konferenzräume und den Aufenthaltsraum der Richter – ein elegant eingerichteter Raum, in dem sich die Richter jeden Morgen versammelten, bevor sie ihren Tag begännen.

Und dann war da noch Rufus … Rufus Choate, die bronzene Statue eines Rechtsanwalts aus dem achtzehnten Jahrhundert, die sich fünf Meter hoch in der Eingangshalle des alten Gerichtsgebäudes erhob. So, wie Benny es sah, war die Statue des großen Streiters für Gerechtigkeit – Benny hatte sich beim Gerichtsbibliothekar über Rufus' Meriten erkundigt – aus dem Grund dort aufgestellt worden, um einen hohen Standard für das gesamte Rechtssystem zu setzen. Doch es dauerte nicht lange, bis Benny dahinterkam, daß das nichts als Makulatur war: Das, was in diesen Gebäuden vor sich ging, hatte nicht sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun.

Der kleine Kaffeeausschank, der sich im hinteren Teil der Eingangshalle befand und vom Blindeninstitut geführt wurde, war normalerweise von ungeduldigen Kunden umlagert. Aber Benny, der jetzt ein regelmäßiger Besucher bei Gericht war, kam bereits immer vor dem Ansturm um acht Uhr dreißig dort an. Er bestellte sich jedesmal einen Kaffee, und das pausbäckige schwarze Mädchen hinter der Theke erkannte ihn bald an der Stimme.

»Wieder einmal in der Gegend, Benny, hmm?« fragte Celia und legte ihre Finger vorsichtig um den Pappbecher, um zu ertasten, wie die heiße Flüssigkeit darin aufstieg. »Haben Sie heute eine Verhandlung?«

»Ja, Sie kennen mich doch … wieder eine große Sache.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, sagte sie, als Benny das abgezählte Kleingeld auf den Teller legte, seine Kaffee nahm, mit der freien Hand seine Aktenmappe packte und sich dann auf eine Bank setzte. Er hatte die Aktenmappe in einem Second-hand-Laden für Lederwaren erstanden und sie so lange poliert, bis sie glänzte. Und die kleine blaue Karte, die er in seiner Brieftasche mit sich führte und die besagte, daß Ben Shandling Mitglied der Anwaltskammer von Massachusetts war, die hatte sein Freund Lucas gegen ein kleines Entgelt für ihn drucken lassen.

Benny gab sich nur dann als Anwalt aus, wenn es nicht zu umgehen war – zum Beispiel im Büro des Geschäftsstellenleiters, wenn er eine Akte von dort benötigte. Dann unterschrieb er die Empfangsbestätigung immer mit R. Choate, wobei das R selbstverständlich für Rufus stand – ein kleiner Scherz, den nie jemand verstand. Und was das blinde Mädchen betraf – sie ging einfach davon aus, daß er Anwalt war, und es erschien ihm unnötig, ihr den wahren Sachverhalt zu erklären.

Er sah sich unter den Leuten um, die die Halle betraten; er konnte immer diejenigen darunter erkennen, die wegen einer Verhandlung kamen, konnte die Angst vor dem Unbekannten auf ihren Gesichtern lesen. Und dann die Anwälte … wie viele hatte er hier bereits gesehen: so aufgeblasen, so selbstsicher, so wichtigtuerisch.

Heute war Benny mehr als nur ein bißchen aufgeregt wegen der Verhandlung, der er beiwohnen wollte. Es war ein komplizierter Fall, den er verfolgte, seit die erste einstweilige Anordnung auf Sorgerecht vor einigen Monaten eingereicht und abgelehnt worden war; der Vater, Frank Chandler, der mit seiner baldigen Exfrau um das Sorgerecht für den neunjährigen Sohn Andrew stritt, wurde von Rechtsanwältin Margaret Grant vertreten.

Benny hatte fast die gesamten Akten dazu gelesen, und obwohl ein Teil davon nur dummes Geschwätz und der andere nur Lügen enthielt, hatte er ein gutes Gespür für die Situation. Wenn man ein paar Einzelheiten außer acht ließ, dann hätte er sogar so weit gehen und behaupten können, daß das genau sein Fall war, für den Millerman sich nie Mühe gemacht hatte, einen Schriftsatz einzureichen. Der große Unterschied war der, daß Frank Chandler, im Gegensatz zu Benny, immer noch eine Chance hatte, den Jungen zu bekommen: den Aussagen eines Psychologen zufolge hatte dessen Frau bis jetzt noch kein Glück dabei gehabt, den Jungen gegen seinen Vater aufzubringen.

Doch der Fall wurde vor Richter Malcolm Greenspon verhandelt. Von den fünf Vormundschaftsrichtern des Verwaltungsbezirkes Suffolk waren alle – bis auf Campbell, den Oberrichter – eindeutig auf der Seite der Frauen. Aber Greenspon – ein kleingewachsener Mann, dessen Ego aufblühte, wenn er in seine schwarze Robe stieg – war der Schlimmste von allen.

Maggie Grants dickes, schwarzbraunes Haar schwang um ihre Schultern, als sie von den Akten aufblickte und sich ihrem Mandanten zuwandte, der neben ihr saß.

»Entspannen Sie sich, Frank«, sagte sie.

»Wie kommen Sie darauf, daß ich nervös sein könnte?«

Sie deutete auf seine Finger, die auf dem Tisch lagen.

»Trommeln Sie immer so mit Ihren Fingern?«

Er zog seine Hand vom Tisch zurück, schaute auf die Uhr und faltete dann seine Hände im Schoß, wobei er es sorgfältig vermied, einen Blick auf den ähnlich aussehenden Mahagonitisch zu werfen, an dem Sondra und ihr Anwalt saßen.

»Wann geht es denn endlich los?«

«Jeden Augenblick. Greenspon soll angeblich bereits im Amtszimmer sein.« Sie drehte sich wieder um und holte einige Dokumente aus den Akten. Die Gerichtsstenographin, um die Maggie gebeten hatte, ging zu ihrem Platz vor der Richterbank und baute flink ihre Transkriptionsmaschine auf.

»Was ist aus Richter Campbell geworden?« fragte Frank.

»Ich dachte, er sollte diesen Fall hier verhandeln.«

»Kennen Sie den Satz, daß selbst die besten Pläne schiefgehen können? Campbell scheint wegen einer Grippe auszufallen … seit letzter Woche, und Greenspon springt für ihn ein. Ich hatte eigentlich gehofft, er würde rechtzeitig wieder zurücksein.«

»Dann ist der hier nicht so gut?«

»Das habe ich nicht gesagt. Hören Sie, vergessen Sie's, es macht keinen Unterschied. Wir müssen uns darauf konzentrieren, den Fall verständlich und solide zu präsentieren. Und genau das habe ich auch vor.«

»Hören Sie, es tut mir leid, ich will Ihnen nicht auf die Nerven gehen. Ich fühle mich in meinem Maklerbüro, ja vielleicht sogar in einer Küche zu Hause, aber nicht in einem Gerichtssaal. Himmel, ich habe das Gefühl, daß mein Herz gleich stehenbleibt.«

Maggie wandte sich ihm lächelnd wieder zu. Dabei funkelten ihre grünen Augen, was ihre allzu scharfen Gesichtszüge – unter denen sie als schüchterner Teenager gelitten hatte – anziehender machte.

»Ich finde, Sie sehen ganz gesund aus.«

»Ich fühle mich aber nicht so. Ich habe seit fast einer Woche nicht mehr schlafen können. Dauernd geht mir im Kopf herum, daß ich in den Zeugenstand treten und irgend etwas Dummes sagen könnte, etwas, das meinem Fall schadet.«

»Antworten Sie einfach nur auf die Fragen, ohne Reden zu halten oder theatralisch zu werden. Wenn etwas geklärt werden soll, dann erledige ich das im Kreuzverhör. Halten Sie sich in erster Linie an die Wahrheit.«

»Was ist mit Sondras Version der Wahrheit? Und Palmers aufgeblasener Bericht, was machen wir damit?«

»Das überlassen Sie mir.«

»Was ist, wenn –«

»Frank, lassen Sie das.«

Maggie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und ordnete die Dokumente zu vier Stapeln; Frank sah sich im rückwärtigen Teil des kleinen Gerichtssaales um: Ungefähr zwölf Leute saßen auf den Bänken. Ein paar von ihnen kannte er … in einer Frau erkannte er Sylvia Palmer, eine nicht mehr ganz junge Psychologin, die als Jugendamtsvertreterin vom Gericht dazu bestellt worden war, die Aussagen beider Parteien zu überprüfen. Frank hatte vom ersten Moment an, als die ältliche Frau in seine Wohnung marschiert war, das Gefühl, daß sie ihm Probleme bereiten würde, so wie eine dieser lästigen Sozialarbeiterinnen, die die Wohnung nach Staub absuchten. Und ihrem Bericht nach zu schließen, mußte sie eine Menge davon entdeckt haben.

Vor der Palmer saß Kevin O'Malley, ein vom Gericht bestellter Rechtsanwalt, der die Interessen seines Sohnes Andy vertrat. Es war Maggie gewesen, die erbittert um dessen Anwesenheit gekämpft hatte; die gegnerische Seite hatte sich gegen eine Vertretung von Andy mit dem Einwand gewehrt, man könne von einem Neunjährigen nicht verlangen, daß er wisse, was am besten für ihn sei. Andy wollte bei seinem Vater leben, nicht bei seiner Mutter, und das war Frank nur recht. Und wenn jeder Pfennig seines Geldes dafür benötigt werden sollte, er mußte es versuchen. Seine Anwältin war offen zu ihm gewesen, als sie ihm im voraus erklärt hatte, daß die Karten schlecht für ihn standen. Aber wenn er schon kämpfen mußte, dann war er froh, es mit Maggie Grant an der Seite zu tun. Auch wenn sie es herunterspielte: Ihr Ruf, auch für die Väter das Sorgerecht herauszuschlagen, war ausgezeichnet.

Frank warf einen flüchtigen Blick auf den Mann in der letzten Bank … er war ihm völlig fremd. Sein schlecht sitzender, marineblauer Anzug und sein blaugestreiftes Hemd paßten überhaupt nicht zu seiner grellgrünen Krawatte. In der Geschäftswelt hättest du nicht die geringste Chance, Freundchen, dachte er. Frank drehte sich wieder um, fixierte die Richterbank und rang seine schweißnassen Hände. Wann, zum Teufel, wollte dieser Richter Greenspon wohl endlich auftauchen?

Plötzlich stieß ein Gerichtsdiener eine Seitentür auf und wies die Anwesenden an, sich zu erheben. Alle standen auf, und der Gerichtsdiener leierte seinen Spruch herunter.

»Zum Aufruf kommt die Sache Chandler gegen Chandler. Jeder, der vor den ehrenwerten Richtern des Vormundschaftsgerichts von Suffolk gehört werden will, der möge näher treten, und er wird gehört werden. Gott segne das Commonwealth von Massachusetts. Bitte setzen Sie sich wieder.«

Gegen Ende des Vormittags stellte Clyde Wentworth, der gegnerische Anwalt, den Antrag, mit dem Bericht der Jugendamtsvertreterin in die Beweisaufnahme einzutreten, damit Sylvia Palmer den Gerichtssaal verlassen könne, um einen beruflichen Termin wahrzunehmen. Maggie legte Einspruch ein, und Greenspon rief beide Anwälte zur Richterbank.

»Ich sehe kein Problem darin. Schließlich spricht der Bericht für sich selbst«, sagte der Richter und fuhr sich über seinen kurzen, stachligen Bart.

»Hohes Gericht«, sagte Maggie, »es ist mein Recht, sowohl den Bericht als auch die Person, die ihn verfaßt hat, in Frage zu stellen.«

»Mit welcher Begründung?«

»Teile des Berichts basieren lediglich auf ungenauen Aussagen, die Miss Palmer gegenüber von Personen geäußert wurden, die ein persönliches Interesse an dem Fall haben.«

»Ja, wie bei jedem Bericht dieser Art, Frau Rechtsanwältin. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß es mir nicht schwerfallen wird, diese Teile als solche zu erkennen.«

»Zusätzlich enthält er eine Reihe ungünstiger Schlußfolgerungen über meinen Mandanten, die auf einer falschen und veralteten psychologischen Theorie beruhen.«

»Mit anderen Worten, Sie wollen Miss Palmers Fähigkeiten in Frage stellen?«

»Ja, wenn es notwendig sein sollte.« Maggie drehte sich um, trat ein paar Schritte zurück, nahm einen Stapel Papiere vom Tisch und wandte sich dann wieder der Richterbank zu. »Ich habe hier drei Artikel aus kürzlich erschienenen Ausgaben psychologischer Fachzeitschriften, die in direktem Widerspruch zu –«

Richter Greenspon klopfte mit seinem Hammer auf den Tisch. »Genug!« Dann, sich zu ihr vorbeugend: »Sagen Sie doch mal, Frau Rechtsanwältin, haben Sie Psychologie studiert?«

»Nein. Aber ich sehe nicht, daß das von Bedeutung sein sollte.«

Die Falten auf Greenspons Stirn vertieften sie zu gezackten Furchen.

»Die Vertreterin des Jugendamtes ist seit mehr als dreißig Jahren als anerkannte Psychologin des Staates Massachusetts zugelassen. Ich würde also vorschlagen, daß wir sie ihre Arbeit machen lassen. Und Sie, Frau Rechtsanwältin, wären besser damit beraten, sich auf Ihr eigenes Fachgebiet zu konzentrieren.«

»Herr Vorsitzender, wir haben es hier mit einem rechtmäßigen Anspruch zu tun! Es ist mein absolutes Recht –« Greenspon blickte zu dem Gerichtsdiener hinüber. »Einspruch abgelehnt. Mit dem Bericht der Jugendamtsvertreterin wird in die Beweisaufnahme eingetreten. Und Miss Palmer ist umgehend von der Teilnahme an dieser Verhandlung befreit.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Maggie ihre Fassung wiedererlangt hatte, aber dann sagte sie: »Ich würde gern ein Beweismittel zu Protokoll nehmen lassen, Hohes Gericht.«

»Ich sehe nicht ein, daß das notwendig ist.«

»Im Gegenteil, es ist notwendig.« Ohne seine Zustimmung abzuwarten, wandte Maggie sich an die Gerichtsstenographin und sagte: »Wenn die Anwältin des Klägers die Gelegenheit gehabt hätte, Sylvia Palmer zu befragen, dann hätte sie gezeigt, daß Miss Palmers Meinung nicht auf Tatsachen beruht, die in dieser familiären Situation begründet sind, sondern auf vorgefaßten Meinungen und auf einer veralteten psychologischen Theorie, die davon ausgeht, daß nur eine Mutter dazu in der Lage ist, ein Kind aufzuziehen. Darüber hinaus hätte die Anwältin aufgezeigt, daß Miss Palmers Karriere auf ihrer Auseinandersetzung mit den emotionalen Problemen von Frauen begründet ist und daß sie niemals – ich wiederhole niemals – einen Mann oder ein Kind unter ihren Klienten gehabt hat.«

»Sind Sie fertig?«

Maggie nickte.

Er ließ seinen Hammer auf den Tisch sausen. »Mittagspause. Die Verhandlung wird um zwei Uhr fortgesetzt.« Maggie ging zu dem Tisch zurück, an dem Frank saß. »Nicht so gut, hmm?« meinte er.

In der Sitzung am Nachmittag gelang es Maggie, Sondra Chandler als eine kalte, materialistische Frau hinzustellen, die mehr Gedanken an ihr reges Gesellschaftsleben als an ihren neun Jahre alten Sohn verschwendete. Dennoch hatte sich Greenspon nur wenig Notizen von dieser Zeugenbefragung gemacht.

Bis er vor sieben Monaten das eheliche Heim verlassen hatte, war es Frank Chandler gewesen, der regelmäßig die Einkäufe gemacht, das Pausenbrot für seinen Sohn eingepackt, den Jungen ins Bett gebracht, seine Hausaufgaben überwacht und einen großen Teil seiner Abende und Wochenenden zusammen mit Andy verbracht hatte. Es war Frank gewesen, den im letzten Jahr die Schulschwester zweimal verständigt hatte, als Andy krank geworden war. Sondra Chandler war nur selten zu erreichen gewesen.

Doch trotz dieser Zeugenaussage und der Einrede, die am folgenden Tag OʼMalley, Andys Anwalt, erheben wollte, würde der Bericht der Jugendamtsvertreterin für Greenspon der Beweis mit der größten Wirkungskraft sein. Maggie wußte, daß sie keine Chance hatte, wenn es ihr nicht gelang, die überholte Meinung von Miss Palmer zu entkräften. Und obwohl sie Frank Chandler gegenüber nicht ganz so offen gewesen war, so war er doch nicht dumm. Am Ende dieses Tages würde er die Chancen selbst beurteilen können.

Ausgerechnet dieser Greenspon … Natürlich hatte sie durch das Beweismittel ihr Recht auf Berufung gesichert, aber bei Familienrechtsangelegenheiten bei einem höheren Gericht Berufung einzulegen war oft ein nutzloses Unterfangen. Die Zeit war das Problem. Die Kinder wurden zwangsläufig älter, während der Prozeß sich im Schneckentempo dahinschleppte.

Zu Zeiten wie diesen fragte Maggie sich oft, ob ihr Vater vielleicht nicht recht gehabt hatte, als er versuchte, sie zu überreden, doch in seine Anwaltspraxis in Manhattan einzutreten. »Um auf einem weniger unerfreulichen Rechtsgebiet tätig zu sein«, wie er gesagt hatte. Wie hätte der ehrenwerte Seymour Templeton angesichts eines skrupellosen Richters wie Greenspon wohl reagiert?

Ja, das Familienrecht hatte viele unangenehme Begleiterscheinungen: verbitterte, empörte Eheleute, die sich rächen, ihre schwer angeschlagene Psyche wieder zusammenflicken wollten. Und doch war der unangenehmste Teil der Angelegenheit – die Regelung des Sorgerechts, das, was mit den Kindern geschehen sollte – für Maggie zugleich auch der lohnendste. Zumindest war es so, wenn eine vernünftige Lösung gefunden werden konnte.

In den acht Jahren ihrer Berufserfahrung hatte Maggie nur einmal einen Mandanten angenommen, an den sie nicht wirklich geglaubt hatte. Nach einer schrecklichen Schlacht vor Gericht gewann sie das Sorgerecht für diese Mutter, litt anschließend aber wochenlang Seelenqualen wegen des Urteils und schwor sich dann, nie mehr wissentlich auf der falschen Seite eines Sorgerechtfalls zu stehen.

Obwohl sie versuchte, sich an den Schwur zu halten, bedeutete es keine große Gewissenserleichterung für sie. Zwei Jahre später las sie im Boston Globe einen Artikel über eine junge Mutter, die verhaftet worden war, nachdem sie ihren vier Jahre alten Sohn in der Badewanne ertränkt hatte: Die junge Mutter war die Mandantin gewesen, die Maggie vor Gericht vertreten hatte.

Als Maggie an diesem Abend ihr kleines, eineinhalbstöckiges Haus erreichte, das auf einem großen, baumbestandenen Grundstück in Brookline lag und das sie kurz nach ihrer Scheidung erworben hatte, blockierte Pauls gelbe Corvette die breite Auffahrt. Sie schluckte ihren Ärger hinunter und parkte am Straßenrand.

»Du bist spät dran«, rief Paul ihr aus dem Wohnzimmer zu, als sie ins Haus trat. Sie ging durch die Küche und dann zwei Stufen hinunter in das Wohnzimmer, wo ihr Exmann neben der eingebauten Bar stand.

»Hallo, wo ist Richie?« fragte sie.

Mit den Fingerspitzen rührte Paul vorsichtig die Eiswürfel im Glas um und führte dann die bernsteinfarbene Flüssigkeit zum Mund.

»Paul, wo ist Richie?«

»Du bist eine Viertelstunde zu spät zu Hause«, sagte er.

»Tut mir leid, der Verkehr war mörderisch.« Sie zog ihren dunkelblauen Trenchcoat aus, warf ihn zusammen mit ihrer Aktenmappe auf das Sofa und wandte sich wieder den Stufen zu.

»He, wo gehst du hin?«

»Unseren Sohn suchen. Aus dir scheine ich ja keine Antwort herauszubekommen.«

Er deutete mit dem halbvollen Glas in eine Richtung.

»Draußen im Hof.«

Sie warf einen Blick aus dem Fenster, entdeckte Richie auf dem verwitterten Abenteuerspielplatz und drehte sich wieder zu Paul um. Er trug einen dicken, weißen Pullover und enge Designer-Jeans … er war immer noch so jungenhaft schlank wie an dem Tag, an dem sie ihn kennengelernt hatte. Und als hätte er ihre Gedanken gelesen, fragte er: »Sag mal, hast du zugenommen?«

Verlegen strich sie sich mit der Hand über die Hüften.

»Ein paar Pfund vielleicht.«

»Steht dir aber nicht schlecht«, meinte er und musterte sie.

»Du siehst dadurch sehr sinnlich aus. Aber mehr solltest du nicht zunehmen.«

»Danke für die Warnung. Aber wenn du nichts dagegen hast, Paul, ich muß jetzt das Abendessen machen.«

»Ja bitte, laß dich von mir nicht stören.« Er hob die Flasche mit dem Whiskey und füllte erneut sein Glas.

Maggie ging zu ihm und legte ihre Hand über das Glas.

»Ich möchte gern, daß du gehst, Paul. Sofort.«

Er packte sein Glas und verschüttete dabei die Hälfte des Drinks auf der Bar. »Warte, ich wisch es weg«, sagte er, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und beseitigte die Pfütze.

Sie blickte ihm in seine blauen Augen und entdeckte dort die vertraute Glasigkeit.

»Du hast schon getrunken, bevor du hierhergekommen bist, stimmt’ʼs?«

»Beruhige dich, Maggie, ich hatte nur ein paar Drinks.«

»Ich möchte nicht, daß du trinkst und dabei mit Richie im Auto fährst.«

»Richie geht es gut, überzeug dich selbst. Würdest du jetzt zur Abwechslung mal von etwas anderem reden? Himmel, hast du schon mal was von dem Wort Dankbarkeit gehört?«

»Das ist mir im Zusammenhang mit dir nicht mehr geläufig.«

»Dankbarkeit. Mir scheint, du solltest wirklich deinem Glücksstern danken, daß ich bereit bin, mich so oft um Richie zu kümmern. Und dürfte ich vielleicht noch erwähnen, daß ich dir damit eine große Last abnehme.«

»Du bist doch derjenige, der eine freizügige Umgangsregelung wollte, und du hast sie auch bekommen … sooft du willst. Wenn du jetzt die Verantwortung nicht mehr übernehmen willst oder damit nicht mehr umgehen kannst, dann sag es einfach. Aber ich werde nicht zulassen, daß du unseren Sohn irgendwelchen Gefahren aussetzt … verstehst du mich?«

»Mommy, ist das Abendessen schon fertig?«

Maggie drehte sich um und sah, daß Richie auf den Stufen stand. Der Sechsjährige war ein getreues Abbild sowohl von ihr als auch von Paul. Er hatte Pauls sandblondes Haar und seine ebenmäßigen Züge, aber ihre olivdunkle Haut und grünen Augen. Maggie mochte es gar nicht, wenn er ihre Streitereien mitbekam – in den Jahren vor ihrer Scheidung hatte er bereits zu viele davon mit anhören müssen.

»Noch nicht, Liebling«, sagte sie. »Also gut, erzähl mir doch, ob es dir heute in Daddys Wohnung gefallen hat?« Endlich lächelte er und zeigte dabei seine beiden Zahnlücken. »Und wie. Und weißt du was?«

»Was?«

»Da ist jetzt ein Mann, der den Swimmingpool saubermacht. Mit einer großen, langen Bürste, mit der er überall hinkommt. Im nächsten Monat, meint Daddy, wird der Pool wieder gefüllt, und dann können wir schwimmen gehen.«

Sie lächelte, kniete sich hin und gab ihm einen Kuß auf den Nacken.

»Klingt gut.« Dann, mit dem Kopf in Richtung Paul deutend, sagte sie: »Sag Daddy auf Wiedersehen, er geht jetzt.«

Dann rannte Richie nach oben, um sich die Hände zu waschen, und Maggie schaute vom Vorderfenster aus zu, wie Pauls Sportwagen quietschend aus der Auffahrt fuhr. Er trank wirklich zuviel. Aber vielleicht hätte sie ihn doch nicht so schnell aus dem Haus werfen sollen …

Sich vom Fenster abwendend, kehrte sie in die Küche zurück und ging zum Kühlschrank – aufgetaute Ravioli und ein rasch angemachter Salat würden für heute abend genügen müssen. Ihre Gedanken wanderten wieder zu der Verhandlung zurück. Sie hatte sie verpatzt, und Frank Chandler würde das wahrscheinlich teuer zu stehen kommen: Sie hätte versuchen sollen, die Sitzung zu verschieben, sobald sie erfahren hatte, daß Greenspon Campbell vertreten würde.

2. KAPITEL

Wenn sie genauer hätte sagen sollen, was ihr zuerst an ihm aufgefallen war, dann hätte sie geantwortet, daß es die Traurigkeit in seinen Augen war. Natürlich hatte er außerdem auch noch gut ausgesehen – nachdem sie ihn mehr als einmal verstohlen gemustert hatte, war ihr sein kantiges Profil bereits tief ins Gedächtnis eingegraben. Doch als ihr auffiel, wie seine grauen Augen wie zufällig aufblickten und sie in dem Spiegel hinter der Reihe von Whiskeyflaschen ansahen, sich aber sofort wieder auf sein Bierglas senkten, da wußte sie, daß er sie niemals ansprechen würde. Wenn sie ihn kennenlernen wollte, dann mußte sie ihren ganzen Mut aufbringen und die Sache selbst in die Hand nehmen.

Als sie gegen halb zwölf abends in Bennigans Grillbar im Norden Bostons kam, setzte sie sich neben ihn, bestellte sich ein Bier vom Faß, riß umständlich das Papier von einer Packung Marlboroughs und zog eine Zigarette heraus. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und hoffte, man möge ihrer Stimme ihre Unerfahrenheit nicht anmerken, »haben Sie vielleicht Feuer?«

Zuerst dachte sie, er hätte sie nicht gehört oder, schlimmer noch, würde sie ignorieren. Es folgte ein langes Schweigen, aber dann beugte er sich unvermittelt vor und fischte ein Streichholzbriefchen von Bennigans Bar aus einem Korb auf der Theke.

Sie spürte, wie ihr warm im Gesicht wurde. »Daß es mich nicht gebissen hat … «

Er brach ein Streichholz ab, zündete es an, schützte die Flamme mit der hohlen Hand und meinte: »Und, wollen Sie sie auch rauchen?« Ihr fiel auf, daß seine grauen Augen mit winzigen schwarzen Punkten gesprenkelt waren.

Sie steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und hielt sie an die Flamme; sie nahm einen Zug, hustete ein paarmal, nahm dann noch einen tiefen Zug, und die Flamme setzte ihre Zigarette in Brand. Sie riß sich die Zigarette aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus.

»Vergessen Sie's«, meinte sie.

Er warf das Streichholz weg, wandte sich wieder seinem Bier zu, und sie saß da und versuchte so zu tun, als wäre das Fiasko nicht passiert. Schließlich schaute er sie doch an.

»He, Sie rauchen doch eigentlich gar nicht, stimmt's?«

»Sagen Sie bloß nicht, das haben Sie eben erst bemerkt.« Er zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder ab. »Hören Sie, es tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich habe nur das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Sie wissen doch sicher, wie es ist, wenn man bemerkt, daß man sich zum Narren gemacht hat.« Sie lächelte und entblößte dabei einen Schneidezahn, an dem ein Stück fehlte. »Wer weiß, vielleicht wissen Sie es ja auch nicht.« Ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, sagte er: »Ich sehe es nicht gerne, wenn Frauen rauchen.«

Schweigen.

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben das alles nur auf sich genommen, um mich kennenzulernen?«

»Reicht es nicht schon, daß ich es getan habe, muß ich es Ihnen auch noch schriftlich geben?«

»Warum?«

»Warum was?«

»Warum wollten Sie mich kennenlernen?«

»Nun, mir ist aufgefallen, daß Sie immer nach elf Uhr hier hereinkommen. Dann sitzen Sie einfach so eine oder zwei Stunden herum und machen dabei einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck. Ich habe nie bemerkt, daß Sie mit jemandem gesprochen hätten.« Sie zögerte und lachte dann verlegen. »Ich weiß nicht, warum will man wohl jemanden kennenlernen?«

Er schien eine Weile über die Frage nachzudenken, als wäre sie von großer Bedeutung.

»Wie heißen Sie?« fragte er schließlich.

»Es ist ein ziemlich alberner Name … versprechen Sie mir, daß Sie mich nicht auslachen werden, wenn Sie ihn hören?«

Er nickte. Er hatte schmale Lippen, die nicht oft zu lächeln schienen.

»Daisey … so wie das Gänseblümchen, Daisey Bradley.« Er nickte ein paarmal und sagte dann: »Ich kannte einmal ein Mädchen namens Rose, und in der siebten Klasse saß ich neben einer Violet. Aber ich habe noch nie eine Daisey kennengelernt. Das ist ein hübscher Name, der ist schon in Ordnung.«

»Sie wollen doch nur höflich sein. Aber trotzdem, vielen Dank.«

Sie schwiegen ein paar Minuten. »Ich heiße Benny Shandling«, sagte er schließlich. »Wo haben Sie sich Ihren Schneidezahn abgebrochen?«

»Beim Rollschuhlaufen … als ich noch klein war. Sieht fürchterlich aus, stimmt's?«

»Nein. Ich war nur neugierig, das ist alles.«

»Aha.« Nach einer Pause fragte sie: »Sind Sie verheiratet, Benny?«

»Wenn ich es wäre, was würde ich dann hier treiben?«

»Wenn Sie sich ab und zu mal umhörten, dann kämen Sie vielleicht dahinter, daß die Hälfte der Männer, die in solchen Bars verkehren, verheiratet ist. Die andere Hälfte ist natürlich geschieden.«

»Ich interessiere mich nicht sehr für Dinge, die außerhalb meines Kreises passieren.«

»Aus welchen Menschen besteht denn Ihr Kreis, Benny?«

»Oh, das ist nicht so wörtlich zu nehmen. Ich versuche einfach nur, meine Nase nicht in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen. Natürlich passiert mir das manchmal ohne mein Zutun, aber dann kann ich nichts daran ändern.«

Sie nahm einen Schluck Bier und stellte dann das Glas auf die Theke.

»Ich gehe auch nicht sehr viel unter die Leute. Ab und zu gehen Liz, das ist meine Freundin und Arbeitskollegin, und ich nach der Arbeit zusammen weg. Ich arbeite als Verkäuferin in einem Antiquariat … nicht gerade ein sehr aufregender Job.«

Er nickte zustimmend.

»Hierher komme ich natürlich ziemlich regelmäßig. Das ist die einzige Bar, in die ich es wage, alleine zu gehen. In den meisten anderen Kneipen fühle ich mich unwohl. Hier fühle ich mich fast wie zu Hause.« Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht weil ich daran gewöhnt bin.«

»Als ich noch verheiratet war, da bin ich nicht oft in Bars gegangen. Ich halte eigentlich nicht viel davon. Wenn man verheiratet ist, dann sollte man meiner Meinung nach daheim bei seiner Familie sein. Aber wenn man allein ist, dann bleibt einem natürlich nicht viel anderes übrig, oder?«

»Wann wurden Sie denn geschieden?«

»Es ist jetzt mehr als drei Jahre her.« Ein paar Minuten lang herrschte verlegenes Schweigen, dann fragte Benny: »Wollen Sie ein Foto von meinem Jungen sehen?«

»Sicher – ich habe Kinder sehr gern.«

Benny holte eine abgewetzte Schweinslederbrieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans und schlug das Bild eines ungefähr dreijährigen Jungen auf: er hatte braunes Haar und dunkle Haut wie er selbst. Dann blätterte er zu einem anderen Foto weiter, das aber so unscharf war, daß sie kaum etwas darauf erkennen konnte.

»Was ist denn damit passiert?« fragte sie.

»Ich stand ziemlich weit weg. Das ist die beste Aufnahme, die ich machen konnte.«

»Warum haben Sie ihn nicht näher vor die Kamera gestellt?«

»Das hätte ich ja auch, aber Adam will mich nicht sehen. Ich habe das Foto heimlich aufgenommen, ohne daß er es bemerkt hat.«

Daisey musterte ein paar Augenblicke Bennys Gesicht und schaute dann wieder auf das erste Foto.

»Wie alt ist Adam jetzt?«

»Fünf. Es ist kaum zu glauben – er geht bereits in die Schule.«

»Er ist ein richtig hübsches Kind. Er sieht Ihnen ähnlich.«

»Ja, finden Sie?«

»Das finde ich nicht nur, das ist so.«

Er nickte und deutete dann auf das Handgelenk des Jungen. »Ich weiß nicht, ob Sie das auf dem Foto erkennen können, aber er hat ein Muttermal. Sehen Sie, es ist wie ein Hammer geformt.« Auf der Innenseite des linken Handgelenks deutete Benny stolz auf sein eigenes rotes, hammerförmiges Muttermal.

Als Daisey schließlich die Bar verließ, hatte sie einiges über Benny erfahren. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr arbeitete er als Krankenpfleger am Massachusetts General Hospital. Er hatte ein schäbiges Zimmer in einer Pension ohne Fahrstuhl im Norden der Stadt, um Geld für seinen Sohn auf die Seite legen zu können; obwohl seine Exfrau ihm immer die Schecks zurücksandte, die er ihr nach der Scheidung für das Kind geschickt hatte, ging er jeden Freitag auf die Shawmut-Bank und zahlte dort fünfundsiebzig Dollar, manchmal auch mehr, auf ein Konto ein, das auf Adams Namen lautete und ihn selbst als Treuhänder auswies.

»Eines Tages wird er eine Menge Geld haben«, erklärte Benny ihr. »Wer weiß, vielleicht macht er sogar sein eigenes Geschäft auf.«

Daisey hatte eine Menge geschiedener Männer in Bars kennengelernt, aber noch nie einen wie Benny. Etwas begriff sie nicht und wagte auch nicht, danach zu fragen – schließlich kannten sie einander kaum –, aber warum sollte sich ein Fünfjähriger weigern, seinen eigenen Vater zu sehen, besonders einen so netten wie Benny?

Benny hatte Daisey gefragt, ob sie sich am nächsten Abend um dieselbe Zeit und am selben Ort mit ihm treffen wolle. Und sie hatte bereitwillig zugestimmt. Normalerweise hatte er zwar Schwierigkeiten mit dem aufgesetzten und oft falschen Gehabe von Frauen, aber Daisey war da ganz anders. Sicher, sie hatte es mit einem Trick erreicht, daß sie sich kennengelernt hatten, aber was war daran so schlimm?

Daisey war bei weitem nicht die schönste Frau, die er jemals kennengelernt hatte: sie hatte dichtes, krauses, karottenrotes Haar, und Dutzende von Sommersprossen überzogen ihre blasse Haut. Und obwohl sie beinahe vierundzwanzig Jahre alt war – sechs Jahre jünger als er selbst –, so hatte sie immer noch den jungenhaften Körper einer Dreizehnjährigen. Aber das Aussehen spielte für Benny keine so große Rolle. Das Ausschlaggebende war der Charakter.

Wie es zum Beispiel bei seiner Exfrau Claire der Fall war: oberflächliche Schönheit, hinter der nichts steckte, aber er war nicht schlau genug gewesen, das zu durchschauen, bis es zu spät war. Und heute bei der Verhandlung – Sondra Chandler: Mit ihrem langen blonden Haar und ihrem üppigen Körper glich sie einer jener Göttinnen in einem Frauenmagazin. Doch Benny hatte die Art durchschaut, in der sie mit Greenspon gespielt hatte; und dann dieser durchtriebene Ausdruck von Genugtuung auf ihrem Gesicht, wenn er wieder zu ihren Gunsten entschieden hatte.

Der arme Frank, er hatte keine Chance. Und obwohl Franks Rechtsanwältin eine ziemlich geschickte Kämpferin zu sein schien, so konnte sie doch gegen die Verderbtheit, die heute im Gerichtssaal vorgeherrscht hatte, nicht ankommen. Benny hatte lange über den möglichen Ausgang des Chandler-Falles nachgedacht, seit er zum erstenmal begriffen hatte, wie verlogen das ganze System war. Und obwohl er sein Leben lang seine Nase nie in die Angelegenheiten anderer gesteckt und sich von allem Ärger ferngehalten hatte: Dies war einer jener Fälle, die – wie er es Daisey beschrieben hatte – ihn ohne sein eigenes Zutun etwas angingen.

Es war bereits neun Uhr, als Maggie Richie gebadet, zu Bett gebracht und ihm vorgelesen hatte. Dann ließ sie sich auf das Sofa sinken, zog das Telefon auf den Beistelltisch und wählte Pauls Nummer.

Eine Frau antwortete.

»Könnte ich bitte mit Paul sprechen. Sagen Sie ihm, es ist Maggie.«

»Einen Moment bitte«, flüsterte die Stimme.

Maggie wartete einige Augenblicke, dann ließ sich Pauls Stimme vernehmen. »Tut mir leid, daß du warten mußtest, aber ich war unter der Dusche. Ist mit Richie etwas nicht in Ordnung?«

»Nein, nein, ihm geht es gut. Ich habe ihm eben gute Nacht gesagt. Natürlich erst, nachdem ich ihm ausgiebig aus der Brownschen Enzyklopädie vorgelesen hatte. Er wird immer besser im Lösen der Rätsel.«

»Hör mal, das Mädchen am Telefon – sie ist eine der Sekretärinnen. Ich mußte dringend noch etwas aufarbeiten, und so –«

»Paul, wir leben jetzt getrennt, jeder hat sein eigenes Leben. Du mußt mir nichts erklären. Im Ernst.«

»Nun, ich wollte nicht, daß du glaubst –«

»Paul, bitte, versteh doch. Und wenn du dich entschließt, sämtliche Frauen aus deinem Büro ins Bett zu schleifen, dann geht das nur dich etwas an. Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen.«

Paul kicherte. »Du hattest immer schon einen etwas verdrehten Sinn für Humor. Warum rufst du mich an?«

»Es ist wegen deiner Trinkerei.«

»Wozu dann das Gerede über persönliche Freiheit?«

»Das gilt nur insofern, als es Richie nicht betrifft. Aber wenn er deinen selbstmörderischen Neigungen ausgeliefert ist, dann geht mich das sehr wohl etwas an.«

»Ich hoffe, du setzt dir nicht irgendwelche dummen Gedanken in den Kopf – wie zum Beispiel zu versuchen, mir meine Umgangsregelung zu kürzen.«

Maggie seufzte. »Das will ich nicht. Und ganz bestimmt will Richie das auch nicht.«

»Was dann?«

»Wenn er dich in Zukunft besucht, dann werde ich es so einrichten, daß er nach der Schule bei dir vorbeigebracht wird. Am Abend werde ich dann nach der Arbeit kommen und ihn holen.«

»Maggie, Maggie – immer tüchtig und auf Draht.«

»Paul, entweder so oder gar nicht.«

»Wer wird ihn denn vorbeibringen, oder geht mich das auch nichts an?«

»Hast du schon mal was von Taxis gehört?«

»Ich nehme an, daß ich die Rechnungen zahlen soll, oder?«

»Das wäre nett. Aber falls du der Meinung bist, daß das deine Finanzen zu sehr belastet …«

»Erspar mir deinen Sarkasmus.«

»Schön. Paul, außerdem würde es mich sehr erleichtern, wenn du es dir abgewöhnen würdest, in Richies Gegenwart zu trinken. Wenn du schon trinken mußt, dann mach es allein.«

Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen, dann: »He, bist du jetzt fertig, oder willst du mit deiner Gardinenpredigt weitermachen?«

»Ich bin jetzt fertig. Warum gehst du nicht wieder zu deiner Sekretärin zurück?«

Sie legte den Hörer auf und wußte genau, daß ihre letzte Bemerkung überflüssig gewesen war. Sie war dumm und kindisch gewesen. Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück. O ja, auch sie hatte ab und zu das Recht …

Sie hatte erst eine Viertelstunde geschlafen, als das Telefon klingelte. Sie streckte sich und packte den Hörer

»Hallo«, meldete sie sich.

Eine tiefe Stimme. »Schläfst du?«

»Douglas, hallo. Nein, ich habe nicht richtig geschlafen, nur ein paar Minuten die Augen zugemacht. Einfach so.«

»Wie ist es heute im Gericht gelaufen?«

»Miserabel.«

»Wer hatte den Vorsitz?«

»Greenspon. Ich hätte mich nicht darauf verlassen sollen, daß Campbell bis dahin wieder zurück ist. Ich hätte die Verhandlung verschieben sollen.«

»War es nicht Greenspon gewesen, der einmal einem Anwalt, der zum Begräbnis seines Vaters mußte, eine Vertagung verweigert hat?«

Maggie kicherte. »Himmel, das ist doch einfach fürchterlich, das macht einen ja krank. Aber ich glaube, das war Richter Leeder.«

»Was hat Greenspon denn heute getan?«

»Besser wäre zu fragen, was er nicht getan hat. Er hat sich zu keiner meiner Zeugenbefragungen Notizen gemacht. Er hat es nicht zugelassen, daß ich die Jugendamtsvertreterin befragte. Und ihr Bericht ist tödlich für die Sache.«

»Klingt mir ganz danach, als müßtest du in die Berufung gehen.«

»Das ist nur kostspielig, dauert und bringt am Ende nichts. Ein Jahr vergeht, das Berufungsgericht mischt sich ein, gibt dem Richter des niedrigeren Gerichts was auf die Pfoten und setzt eine Wiederaufnahme an. In der Zwischenzeit wurde ein Präzedenzfall geschaffen, das Kind ist älter geworden und kommt ganz gut zurecht. Und dann sollte man besser auch keine Unruhe mehr schaffen, indem man das Sorgerecht ändert.«

»Ach du meine Güte, so eine junge Frau und schon so pessimistisch.«

»Ich fühle mich nicht so jung.«

»Dann sollte ich vielleicht auf einen Sprung vorbeikommen und mal sehen, ob ich nicht ein Mittel dagegen finde. Ich könnte in, sagen wir mal, vierzig Minuten dasein. Mit einem Becher voll Eiscreme in fünfundvierzig Minuten.«

Es war bereits kurz vor Mitternacht, als sie endlich zu der Eiscreme kamen. Douglas Woods, einer von vier Stellvertretern der Staatsanwaltschaft des Bezirks von Suffolk, die von Eric McGivins geleitet wurde, verfügte über Qualitäten, die Paul vermissen ließ – Beständigkeit und Solidarität. In frühester Jugend bereits hatte Douglas die Verantwortung für eine kleinere Schwester und eine kranke Mutter übernommen, und später hatte er abends Jura studiert und tagsüber gearbeitet. Obwohl sie und Douglas sich bereits gekannt hatten, als Maggie ihr Examen an der juristischen Fakultät von Boston ablegte, hatte er erst nach ihrer Scheidung vor einem Jahr begonnen, ihr den Hof zu machen.

»Warum hast du so lange damit gewartet?« hatte sie ihn einmal nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht gefragt.

»Ich nahm an, ich könnte mit Paul nicht konkurrieren. Du kennst mich doch, ich bin langsam und brauche Zeit. Bis ich endlich den Mut aufgebracht hatte, etwas zu unternehmen, da war das Rennen bereits gelaufen und entschieden.«

Sie dachte einen Augenblick darüber nach. »So, wie es aussieht, hätte ich dich damals auch nicht zu schätzen gewußt.«

»Wieso das?«

»Die Qualitäten, die ich an dir schätze, deine Verläßlichkeit, Nachdenklichkeit, Nüchternheit – das sind einfach nicht die Eigenschaften, die ein junges Mädchen anziehen.«

»Wenn das ein Kompliment gewesen sein soll, warum habe ich dann das Gefühl, eben einen Schlag ins Gesicht bekommen zu haben?«

Jetzt saßen sie beide auf dem Bett – Maggie mit gekreuzten Beinen und Douglas mit dem breiten Rücken an das Kopfbrett gelehnt – und löffelten Eiscreme. Dunkle, durchdringende Augen, die von dichten Augenbrauen überschattet wurden, bildeten den anziehenden Mittelpunkt in Douglasʼ sonst eher unauffälligem Gesicht.

»Ich sehe dir doch an, daß du nachdenkst – worüber denn?« fragte sie.

Douglas zuckte mit den Achseln. »Über meine Arbeit. Die Presse macht einen ganz schönen Rummel um diese junge Mutter, die in Beacon Hill in ihrer Wohnung ermordet wurde. McGivins will, daß ich eine Ermittlungsgruppe zusammenstelle und deren Arbeit überwache.«

Maggie nickte. »Ich erinnere mich, darüber gelesen zu haben – sie wurde erwürgt. Wie war gleich noch mal der Name … Silvers?«

»Brenda Raycliff Silvers. Die Familie der Ermordeten, das sind die Raycliffs, denen das Kaufhaus gehört. Viel Geld und viel Einfluß. Die Ermittlung ist bereits fast einen Monat alt, und nichts tut sich – wir kommen nicht weiter.«

»Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, womit sie erwürgt wurde?«

»Der Polizeiarzt tippt auf ein dickes Nylonseil, vielleicht ein Strumpf. Er hat auch Spuren von Seconal, einem starken Beruhigungsmittel, in ihrem Blut gefunden. Soweit wir sagen können, war es ihr nicht verschrieben worden; aber die Leute kommen doch ziemlich einfach an Tabletten heran. Auf jeden Fall war die Todesursache eindeutig Ersticken.«

»Habe ich das richtig im Kopf – zum Zeitpunkt des Mordes war ein Kind in der Wohnung?«

»Richtig, ein kleines Mädchen, zwei Jahre alt. Das Kind wurde Gott sei Dank nicht angerührt. Allen Anzeichen nach zu schließen, hat es die ganze Zeit über geschlafen.«

»Was ist mit einem Motiv?«

»Wer weiß schon, was heutzutage ein Motiv ist? Es könnten lausige zwanzig Dollar für ein Fläschchen Crack sein. Aber in dem Fall hier wurde ihr Geld nicht angerührt. Eigentlich wurde gar nichts angerührt. Kein gewaltsames Eindringen … offensichtlich muß es jemand gewesen sein, den sie kannte oder zumindest wiedererkannt hat.«

»Wo war der Ehemann zu der Zeit?«

»Der Exmann, und genau der war unser Tatverdächtiger, zumindest bis gestern, als er uns sein Alibi bestätigen konnte. Es sieht so aus, als sei er übers Wochenende in Maine auf der Entenjagd gewesen. Ist dort oben keiner Menschenseele begegnet – das heißt, bis er sich an einem Metallstück die Hand aufgerissen hat und zu einem Arzt gegangen ist, um sich verbinden zu lassen. Es hat sich herausgestellt, daß der Arzt in Europa auf Urlaub war und erst gestern wieder erreicht werden konnte.«

»Ich würde sagen, das war ein Glückstreffer für Silvers.«

»So könnte man es sehen. Aber unser Hauptverdächtiger scheidet so aus.«

»Wieso Hauptverdächtiger, was habt ihr gegen ihn in der Hand?«

»Ein Motiv, und ein verdammt gutes noch dazu.«

»Welches denn?«

»Nun, er und seine Exfrau stritten sich wie die Weltmeister. Sie lebten seit fast einem Jahr nicht mehr zusammen, aber den Nachbarn zufolge war es nicht ungewöhnlich, daß er sich in der Gegend herumgetrieben, an die Türen gehämmert und gebrüllt hat, er wolle in die Wohnung und das Kind sehen. Vor gar nicht langer Zeit haben sie sich vor Gericht um das Sorgerecht gestritten. Hier am Vormundschaftsgericht in Suffolk, vor Richter Cagney. Als das Urteil gefällt und dem Vater das Umgangsrecht verweigert wurde, da hat er ein paar häßliche Drohungen ausgestoßen.«

»Meinst du nicht, daß du da etwas übertreibst, was ein mögliches Motiv anbelangt? Tausende von Männern machen diese Art von demütigendem Streit durch, und ich behaupte ja nicht, daß er nicht wirklich schrecklich ist. Vielleicht gehen sie in ihrer Wut sogar so weit, ein paar häßliche Dinge anzudrohen. Aber wenn ein Vater sein Kind liebt, welchen Vorteil kann er sich von der Ermordung der Mutter des Kindes dann schon erhoffen?«

»Falls er sauber aus dieser Sache herauskommt – was bei Silvers selbstverständlich der Fall sein wird –, dann wäre das Sorgerecht über das Kind der große Preis, würde ich meinen.«

3. KAPITEL

Obwohl Andys Anwalt die Wünsche des Jungen klar herausstellte, schien sein emotionsloser Vortrag doch nur wenig Eindruck auf Greenspon gemacht zu haben. Als O'Malley sich wieder setzte, stand Maggie auf und hoffte, daß die eiligen Arrangements, die sie an diesem Morgen getroffen hatte, nicht umsonst gewesen seien.

»Herr Vorsitzender, ich möchte bezüglich meines Mandanten eine Anregung geben«, sagte sie.

Greenspon seufzte hörbar auf. »Ja, was gibt es denn, Frau Rechtsanwältin?«

»Obwohl es im allgemeinen besser ist, Kinder vom Gerichtssaal fernzuhalten, bin ich der Meinung, daß es in diesem Fall für Sie nützlich wäre, direkt mit dem Kind, mit Andrew Chandler, zu sprechen.«

Sondras Anwalt, Clyde Wentworth, sprang sofort auf.

»Ich erhebe Einspruch, Hohes Gericht. Das hier ist kein Platz für ein Kind.«

»Kommen Sie zur Bank«, sagte der Richter, und die beiden Anwälte traten vor.

»Wenn Sie mich bitte anhören wollen …«, sagte Maggie.

»Reden Sie. Aber machen Sie es kurz.«

»Obwohl Andy erst neun Jahre alt ist, ist er ein kluger, reifer Neunjähriger, ein Junge, der sich über seine eigenen Gefühle durchaus im klaren ist. Er selbst hat sogar den Wunsch geäußert, vor Gericht zu erscheinen. Ich schlage Ihnen deshalb vor, sich doch unter vier Augen und hinter verschlossenen Türen mit ihm zu unterhalten.«

»Der Junge ist in der Schule, Euer Ehren«, sagte Wentworth. »Es würde nicht nur eine gewisse Zeit dauern, ihn hierherzubringen, seine Mutter ist auch noch strikt dagegen, daß er den Unterricht versäumt.«

Der Richter schaute auf die Uhr, dann wieder zu Maggie. »Frau Anwältin, ich habe nicht die Absicht, diese Verhandlung hinauszuzögern. Trotz Ihrer ständigen Bemühungen, dieses Verfahren in die Länge zu ziehen, werden wir diese Angelegenheit heute termingerecht zu Ende bringen.«

»Euer Ehren, ich habe bereits für eine Transportmöglichkeit gesorgt, die vor der Schule wartet, und der psychologische Betreuer der Schule ist bereits über eine solche Eventualität informiert. Ein Anruf, und Andy kann in einer halben Stunde hiersein. Und was das Unterrichtsversäumnis angeht, der Junge hat momentan Sportunterricht, und die beiden nächsten Stunden sind Musik und Kunst. Ich glaube doch wohl nicht, daß die Folgen eines eventuellen Versäumnisses des Musik- und Kunstunterrichtes mit der Entscheidung zu vergleichen sind, die heute über seine Zukunft getroffen wird.«