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Meinrad Inglin (1893–1971) aus Schwyz zählt zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern. Nach Abbruch einer Uhrmacher- und Kellnerausbildung sowie des Gymnasiums, studiert er Literaturgeschichte und Psychologie in Genf und Neuenburg. Arbeit als Zeitungsredaktor und ab 1923 als freier Schriftsteller. Er schreibt vor allem Romane und Erzählungen, auch einzelne Aufsätze und eine Komödie. Für sein Werk erhält Inglin 1948 den Grossen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung und gleichzeitig den Ehrendoktortitel der Universität Zürich. Es folgen der Innerschweizer Kulturpreis (1953), der Gottfried-Keller-Preis (1965) und der Wolfgang-Amadeus-Mozart-Preis der Goethe-Stiftung Basel (1967).

 

MEINRAD INGLIN

Gesammelte Werke in zehn Bänden • Herausgegeben von Georg Schoeck Neuausgabe • Band 5

MEINRAD
INGLIN

Schweizerspiegel

Roman

Nachwort von Beatrice von Matt

Limmat Verlag
Zürich

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Umschlagbild: Meinrad Inglin 1935, zur Zeit der Arbeit am Schweizerspiegel

© 2014 by Limmat Verlag, Zurich

eISBN 978-3-85791-995-4

Im September 1912 kam der deutsche Kaiser in die Schweiz, um sich die Manöver des dritten Armeekorps anzusehen, für ihn ein unverfängliches Vorhaben, wie es schien, für die bescheidene Republik aber, die er in den zwei Jahrzehnten seiner Regierung einer solchen Beachtung nie gewürdigt hatte, eine Sensation.

An einem regnerischen, herbstlich kühlen Tage traf der hohe Gast mit ansehnlichem Gefolge in Zürich ein und stieg in einem Hause ab, dessen Vergangenheit seinem kaiserlichen Wesen angemessen erscheinen mochte, in der ehemaligen Villa Wesendonck. Die feierlich erregten Willkommensartikel der bürgerlichen Presse, die Begrüßung am Bahnhof durch die obersten Landesbehörden, die Ehrenkompagnie, die Fahrt durch die beflaggten Straßen und der Jubel des Volkes bewirkten einen Empfang, wie er auch einer reichsdeutschen Stadt nicht besser hätte gelingen können. Das militärische Schauspiel war vorbereitet, mit aller Sachlichkeit übrigens, die Manöver wurden reif zur Besichtigung. Die 5. Division bewegte sich als Flügeldivision einer supponierten blauen Armee vom Zürichsee her gefechtsmäßig gegen Nordosten und stieß an diesem Tage mit ihren Spitzen auf die 6. Division, die als Flügeldivision einer ebenfalls supponierten, vom Bodensee her anmarschierten roten Armee schon über das Thurknie bei Wil vorgedrungen war. Nur das Wetter ließ zu wünschen übrig. Die Nebelschwaden, die nach mehreren Regentagen auch jetzt wieder über die Stadt hinzogen, und der Gedanke an das schmutzige, nasse Manövergelände, das der Kaiser morgen besuchen sollte, ärgerten jedermann. Aber auch das Wetter zeigte sich noch gefügig, in der Nacht hellte es wider alle Erwartungen auf, und am nächsten Morgen blaute über dem ganzen Land ein unglaubwürdig wolkenloser Himmel.

An diesem Morgen verließen schon in der frühesten Dämmerung ungezählte Neugierige ihre Häuser und fuhren oder wanderten nach Kirchberg im Toggenburg, wo unter den Augen des deutschen Kaisers die Hauptschlacht zu erwarten war. Im Umkreis des hochgelegenen kleinen Dorfes tauchten denn bei Tagesanbruch überall zerstreute Gruppen und Züge von Menschen auf, die nach einigem Zögern die Hügelkuppe südlich des Dorfes bestiegen und ihr den Anschein eines riesigen Ameisenhaufens verliehen, während ringsum auf allen Straßen der lockere Anmarsch weiterdauerte.

In einem der ungeordneten Züge schritten drei Brüder aus Zürich, Severin, Paul und Fred, die Söhne des Brigadekommandanten Oberst Ammann. Sie schritten nicht friedlich nebeneinander, sondern getrennt hintereinander, weil Severin, der älteste, ungeduldig vorwärts drängte, Paul aber unter lässigen Protesten nur widerwillig folgte. Fred, der jüngste, schien im Zweifel, ob er es mit diesem oder jenem halten sollte, jedenfalls ging er in wechselnden Abständen zwischen ihnen und verhinderte auf diese Art wenigstens, daß sie den Zusammenhang gänzlich verloren.

«Wenn wir nicht rechtzeitig oben sind, hat es überhaupt keinen Wert, jetzt schon hinaufzugehen», rief Severin kühl belehrend, indem er knapp anhielt und die gemütlich Folgenden unwillig musterte. In seinen Kniehosen, der zugeknöpften Jacke, mit dem umgehängten Zeiß und der Ausweiskarte auf dem Hut erweckte er den Eindruck eines etwa dreißigjährigen Offiziers in Zivil, was den wirklichen Verhältnissen nicht entsprach. «Vermutlich ist er schon unterwegs», fuhr er fort, «der Zürcher Zug ist in Wil eingefahren, das haben wir ja gehört.»

«Wer ‹er›? Wer ist unterwegs?» fragte Paul verstockterweise, obwohl nun schon häufig genug vom Kaiser nicht anders die Rede gewesen war.

«Ach was!» sagte Severin und ging weiter, rief aber mahnend noch einmal zurück: «Wenn wir nicht beisammenbleiben, finden wir einander in diesem Gewimmel nicht mehr. Ihr könnt dann sehen, wer euch orientiert!» Damit schritt er endgültig aus, zielbewußt und aufrecht, ohne die vielen Bummler zu beachten, die bald beratend stehenblieben, bald zu irgendwelchen Infanteriestellungen in die Wiese hinausliefen.

Fred, ein lang aufgeschossener Bursche von sehr jugendlichem, gutmütig heiterm Aussehen, ermunterte Paul. «Komm du, es ist ja wurst!» sagte er lächelnd. «Und wenn wir Papa sehen, drückst du dich einfach!»

«Bitte, du wirst doch nicht glauben, daß ich mich vor Papa fürchte!» erwiderte Paul leise. «Da hätte ich ja zu Hause oder in Deutschland bleiben können. Aber diese Volksversammlung da … mir scheint, das wird ein zweifelhaftes Vergnügen.» Er drehte sein schmales, blasses Gesicht nach rechts und links, verzog leicht angewidert und etwas ironisch den vollen Mund, winkte dann aber mit der Rechten seinen eigenen Bedenken müde ab und schloß sich dem Bruder an. Er hätte auf Papas Wunsch in diesen Wiederholungskurs einrücken sollen, doch er besaß seinen Auslandsurlaub und war ein paar Tage zu spät heimgekommen; immerhin war er gekommen, wenn auch nur zu einem Besuch, Mama wenigstens konnte zufrieden sein, und Papa, der in diesen Manövern zum erstenmal eine Brigade führte, würde jetzt keine Zeit haben, sich mit ihm zu beschäftigen.

Die Brüder befanden sich vor dem letzten kurzen Anstieg zur Hügelkuppe, als rechts unter ihnen in der ausweichenden Menge ein paar Automobile sichtbar wurden, die auf dem nahen Fahrweg ebenfalls die Höhe erklommen. Das war ein glücklicher Zufall, der Fahrweg endete in ihrer Nähe oder verengte sich doch zum Fußpfad, keine dreißig Schritte über ihnen, und dort hielt denn auch, vom Publikum freilich zunächst verdeckt, der erste Wagen an. Aber die zudringlichen Leute wurden über die Böschung hinabgedrängt, und das Folgende spielte sich wie auf einer Bühne vor den Augen der Brüder ab. Severin packte plötzlich Freds Oberarm, drückte ihn heftig und starrte hinauf.

Dort oben stieg ein wohlgewachsener uniformierter Mann aus dem Wagen, wandte sich auf dem Trittbrett auffällig lachend noch einmal den übrigen Insassen zu, mit einer witzigen Bemerkung vielleicht, betrat dann den Erdboden und ging festen Schrittes zur Böschung, wo er stehenblieb. Während dieser wenigen Schritte erstarb sein Lachen, der letzte Rest von Heiterkeit wich aus seiner Miene. Vom vollen Schein der Sonne getroffen, die sich aus den östlichen Randnebeln erhoben hatte, blieb er in großartiger Haltung über dem Volke stehen, die behandschuhte Linke auf dem Säbelkorb, in der Rechten leicht, ja anmutig gesenkt den Stab eines Feldmarschalls, die linke Brustseite mit Orden geschmückt, den Kopf mit dem steilen Käppi ein wenig nach rechts gedreht; man erkannte seinen Schnurrbart, dessen forsch aufgerichtete Enden nach den ausgeprägten Backenknochen zielten, seine schönen Augen mit dem stolzen Ernst im Blick, sein ganzes, männlich straffes und selbstbewußtes Gesicht, das berühmteste Gesicht dieser Zeit. Er war es, Wilhelm der Zweite, der deutsche Kaiser.

«Hoch!» schrie das Volk. «Hoch der Kaiser! Hoch Deutschland! Hurra! Hoch!»

Der Auftritt dauerte wenige Sekunden, der Kaiser wandte sich seinen Begleitern zu und verschwand hinter der nachdrängenden Menge, so daß zwischen Pickelhauben und Oberstenkäppis nur für Augenblicke noch seine Kopfbedeckung zu erkennen war, die den Lederhüten unserer Soldaten glich.

Paul war belustigt, er grinste unverhohlen, während Severin begeistert und immer noch aufmerksam verharrte. Fred warf, nachdem er selber dem Eindruck sich arglos mit offenem Munde hingegeben hatte, einen kurzen, forschenden Blick auf die Brüder, wurde unsicher in seinen Gefühlen und sagte, um nur etwas zu sagen, lächelnd: «Ich hätte gedacht, er trüge einen goldenen Helm.»

«Du bist ein Kindskopf!» bemerkte Severin ruhig.

«Oh, bitte, das ist gar nicht so dumm!» fiel Paul ein. «Er hat nämlich einen goldenen Helm, und er hätte ihn gewiß gern aufgesetzt.»

«Quatsch!» erwiderte Severin. «Ihr wißt natürlich nicht, was für eine Uniform er trägt. Es ist die Uniform des deutschen Gardeschützenbataillons, und dieses Bataillon bestand früher aus Neuenburgern, vor 1857 nämlich, als der preußische König zugleich Fürst von Neuenburg war. Daß er bei uns ausgerechnet diese Uniform trägt, das ist ein sehr feiner Zug … Aber jetzt müssen wir hinauf, wenn wir noch etwas sehen wollen, vorwärts!»

Sie stiegen weiter, gerieten mit einem Schwarm von Neugierigen an die Seile, die, durch Soldaten bewacht, den Scheitel der Kuppe absperrten, und suchten sich hier im Gedränge einen Platz zu erobern.

Der Kaiser hatte indessen den höchsten Punkt der mäßig gewölbten Kuppe erreicht und blieb in liebenswürdig höflichem Gespräch vor einem ältern, zivilen Manne stehen. Die übrigen Manövergäste innerhalb der Umzäunung kümmerten sich scheinbar nicht um die beiden, in der Tat aber wahrten sie unmerklich einen achtungsvollen Abstand und verfolgten die kleine Szene heimlich mit lächelnden Blicken voller Wohlgefallen. Der Mann in Zivil war der schweizerische Bundespräsident Ludwig Forrer, eine stattliche Gestalt in dunklem Mantel und breitkrempigem Filz, auf dem klugen, von Kinn- und Backenbart weiß umbuschten Gesicht einen Ausdruck besorgter Würde, eine ausgesprochen bürgerliche Gestalt, die zum höchsten deutschen Soldaten den stärksten Gegensatz bildete, ein Republikaner zudem, ein Demokrat, was den Monarchen und erklärten Verächter alles Republikanischen jetzt offenbar nicht abhielt, ihm die artigsten Dinge zu sagen.

In einiger Entfernung stand ein hoher Milizoffizier, Oberst Hoffmann, Bundesrat und Chef des schweizerischen Militärdepartements, der einzige im lockern Kreise, der nicht lächelte, sondern durch seinen Klemmer die zwei Staatsoberhäupter mit einem klaren, sachlichen Blick umspannte. Er wartete auf das Ende des Gespräches, dann trat er vor, zog die Absätze zusammen und begann: «Wenn Eure Majestät nun gestatten, wird unsere Manöverleitung …»

«Ja, nun wollen wir mal sehen, was hier gespielt wird», unterbrach ihn der Kaiser und ging, ohne ihn weiter zu beachten, zwischen den ausweichenden Gästen hin nach dem südlich abfallenden Hang. Dort vorn befand sich in Gesellschaft von Adjutanten und deutschen Offizieren ein eidgenössischer Oberst, ein mittelgroßer, fester Mann mit einem massigen, mürrisch wirkenden Gesicht, der Manöverleiter, Oberstkorpskommandant Ulrich Wille.

Der Kaiser trat sichtlich wohlgelaunt an den ihm bekannten Schweizer heran. «Also los, Wille!» sagte er. «Wo stehen Ihre Legionen? Ich bin sehr neugierig! Und Sie wissen ja, mir können Sie nichts vormachen!»

Wille begann dem Kaiser den Stand der Übung darzulegen, indem er bald auf die Karte wies, bald in das Gelände hinausdeutete. Vor ihnen lag unter dem blauen Septemberhimmel eine mannigfaltige weite Landschaft mit Hügeln, Wäldern, Schluchten und Wiesentälern, mit leuchtend grünen Flächen, schattigen Gründen und kleinen, flach hinziehenden Nebeln, die in der schräg einfallenden Morgensonne weiß aufschimmerten und verdampften, das Anmarschgelände der blauen Division. Sie selber standen auf dem wichtigsten Punkt der roten Stellung, der sechsten Division, die sich in der Nacht hier auf den Höhen südlich von Kirchberg mit leicht nach Westen und Osten abgebogenen Flügeln, mit der Hauptfront nach Süden, zur Verteidigung eingerichtet hatte. Die Infanterie war eingegraben, da und dort ließ sie ihr Gewehrfeuer spielen, das den vortastenden gegnerischen Patrouillen galt, und über die Schützengräben hinweg donnerten bereits die Kanonen nach den Hauptkräften des Feindes. Der blaue Gegner hatte sich, mit zwei Brigaden in der Front, in einem mächtigen Halbkreis schon bedrohlich nahe an die rote Stellung herangearbeitet; er zeigte Angriffsabsichten und begann eben jetzt von verschiedenen Punkten her mit der artilleristischen Vorbereitung. Prächtige, lehrreiche Bilder von Angriff und Verteidigung waren zu erwarten, oder wären unter gewohnten Umständen zu erwarten gewesen. Die immer noch wachsende Masse der Manöverbummler aber drohte nun alles zu vereiteln; nicht nur den Hügel, auf dem man hier stand, umgaben sie in dichten Scharen, sie hatten auch die benachbarten Höhen besetzt und wimmelten überall durch die Kampfzone, ungezählte neugierige Menschen, die nach Zehntausenden zu berechnen waren. Sie zerstörten die Illusion eines wirklichen Kampfes, die notwendig ist, wenn die Übung nicht zum Gefechtsexerzieren oder gar zur Spielerei werden soll, sie verleideten der Truppe das kriegsgemäße Verhalten und ironisierten durch ihre bloße Gegenwart die eben dargelegte Lage.

Oberst Wille spürte grimmige Lust, die Übung zu unterbrechen, aber jetzt waren ihm außergewöhnliche Rücksichten auferlegt, und so zwang er sich, von den widrigen Umständen abzusehen, um bei der Sache zu bleiben. «Der rote Parteikommandant», erklärte er, «will alle verfügbaren Reserven an seinem rechten Flügel einsetzen, zur Umfassung des linken blauen Flügels, wie er hofft; er wird mit einem anständigen Gegenstoß zufrieden sein müssen, die Blauen haben dort auch Absichten, denke ich.»

«Wohl alles supponiert, was?» fragte der Kaiser.

Wille ging nicht auf diesen Ton ein, mit dem Wilhelm scherzhafterweise versuchte, die Übung leicht zu nehmen, er wahrte seinen vollen Ernst, setzte seinen bedeutenden militärischen Ruf entschlossen daran und gedachte im übrigen, dem kaiserlichen Fachmann morgen ein Beispiel von Verfolgung und Rückzug aufzutischen, wie man es in Deutschland kaum viel besser würde erleben können. Er wußte, warum der Kaiser gekommen war.

Die andern hohen Herrschaften beobachteten indessen die militärischen Vorgänge oder gaben sich zwanglos einer gewissen Geselligkeit hin. Verschiedene fremde Offiziere ließen sich von Oberst Sonderegger, dem jugendlich schneidigen Stabschef Willes, über die Lage unterrichten. Man erkannte den französischen General Pau und die mächtige Gestalt des schwarzbärtigen Burengenerals Beyer, man sah den österreichischen Feldmarschalleutnant von Dankl im Gespräch mit Oberst von Sprecher, dem großgewachsenen hagern Chef des schweizerischen Generalstabs, und freute sich am Anblick des kaiserlichen Gefolges. Die Herren Generaladjutanten von Plessen und von Lynker, General Hüne, der Graf zu Eulenburg und der Fürst zu Fürstenberg mit ihren Orden, reichen Schnurgarnituren und glänzend beschlagenen Pickelhauben bildeten, angeregt von der guten Stimmung ihres Herrn, eine offensichtlich wohlgelaunte und eindrucksvolle Gruppe. Abseits mit dem Fernglas vor Augen stand General von Moltke.

Die drei Brüder im Gedränge der Zuschauer sahen von alledem nicht eben viel und traten einen Streifzug durch das Manövergelände an. Sie waren eine knappe Stunde planlos unterwegs und wollten schon zum Feldherrnhügel zurückkehren, als sie in geringer Entfernung eine auffällige Bewegung des Publikums bemerkten, das von allen Seiten hastig einem Fahrweg zustrebte. Wie sie hinkamen, erkannten sie zunächst den kaiserlichen Wagen und gleich darauf zu ihrer größten Verblüffung den Kaiser selbst in einem nahen Schützengraben.

Der allerhöchste Feldherr hatte in der ausgesprochenen Absicht, sich die Dinge aus der Nähe anzusehen, mit dem Manöverleiter eine Rundfahrt unternommen und an verschiedenen Punkten anhalten lassen, auch hier also, wo ein mit Füsilieren dicht besetzter Schützengraben an den Fahrweg grenzte. Er war in den Graben hineingestiegen, prüfte jetzt leicht gebeugt über die Brustwehr hinweg das Schußfeld und fragte den nächsten Füsilier wohlwollend heiter nach dem Ziel und der Entfernung dahin. Der deutsche Kaiser in einem schweizerischen Schützengraben zwischen einfachen Milizsoldaten – so etwas hätte sich niemand auszudenken gewagt, es war ein unerwartetes Bild von zwingender Wirkung, das die hohen Begleitoffiziere entzückte und das Publikum zu lautem Beifall hinriß.

Als der Kaiser den Graben verließ, machte Severin, eine nahe Wiederholung des Auftritts erwartend, in hochgestimmter Aufregung den Vorschlag, dem Wagen vorauszulaufen und ihm, sobald man überholt würde, zu folgen.

Paul fand diesen Vorschlag lächerlich. «Überhaupt», sagte er leise und scherzhaft melancholisch, «das ganze Theater ist deprimierend. Zuerst singt die Presse in beschämender Untertänigkeit das Loblied Wilhelms, und jetzt läuft das Volk zu Tausenden diesem Monarchen nach und jubelt ihm zu … in Deutschland weiß man, wie er über die Republikaner denkt, aber hier fällt man auf ihn herein … mit unserem nationalen Selbstbewußtsein und dem Stolz auf unsere Demokratie ist es, scheint’s, nicht mehr weit her …»

«Jetzt hör aber auf, ich bitte dich!» erwiderte Severin streng. «Und übrigens bist du ja auch da, nicht wahr, du läufst auch mit, das ist sehr konsequent!»

«Ja, das ist ein Fehler», gab Paul zu. «Ich kehre jetzt um und werde mit dem nächsten Zug heimfahren, ich habe genug.» Er hob lässig grüßend die Rechte, nickte Fred noch zu und ging wirklich fort.

Fred lief ihm nach und suchte ihn zurückzuhalten. «Bleib doch, es ist ja ganz egal, wie du denkst!»

«Ach, es ist weniger wegen der Konsequenz», sagte Paul abschwächend, «aber ich bin nicht für Volksaufläufe …»

«Jaja, es ist ein elender Rummel!»

In diesem Augenblick, eben als der kaiserliche Wagen auf dem holprigen Wege langsam anfuhr, rief Severin dringend: «Fred, komm! Vorwärts, vorwärts!»

«Laß ihn doch laufen!» riet Paul. «Komm du mit mir, wir wollen aus dem Rummel heraus.»

«Ach was, wir wollen doch beisammen bleiben», erwiderte Fred ärgerlich, ohne sich zu rühren, und sah mit finsterer Miene zu, wie Paul ihn freundlich nickend verließ und Severin dem Kaiser nachlief.

Paul schlenderte den Weg zurück, kam am südlichen Fuß des Feldherrnhügels vorbei und schlug die Richtung auf Batzenheid ein, in das Thurtal hinab, wobei er zwischen den östlichen Flügeln der beiden Fronten einer auffallenden Reitergruppe begegnete. Zuerst hörte er nur die rasch herantrabenden Pferde und wich in Erwartung einer Kavalleriepatrouille mit dem auch hier recht zahlreichen Publikum gemächlich an den Wegrand aus.

Die Gruppe bestand aber aus fremden Offizieren, die sich in Begleitung schweizerischer Kavalleristen in diesem Abschnitt umsehen wollten. Sie kamen in ihren ungewohnten bunten Uniformen überraschend aus der nahen Kurve geritten, mit dem französischen General Pau an der Spitze, der im Deutsch-Französischen Kriege den rechten Vorderarm verloren hatte. Dieser eindrückliche Zeuge eines bedeutenden geschichtlichen Ereignisses, eine gedrungene Gestalt mit weißem Schnurrbart und energischen Zügen, kam leicht vorgebeugt auf einem prachtvollen Schimmel dahergetrabt.

Paul riß, einer unüberlegten Regung folgend, den Hut vom Kopf und schrie, völlig gegen seine stille Art: «Vive la France!»

Der General hing die Zügel über den waagerecht vorstehenden Armstummel und legte grüßend die Linke an den Mützenrand.

«Vive la France!» wiederholte Paul mit Überzeugung, von den Zuschauern laut und bereitwillig unterstützt, während die Gruppe vorübertrabte und auf dem vielfach geschlungenen Wege hinter der nächsten grünen Böschung verschwand.

Indessen spürte Fred einen bitteren Ärger sowohl über die Brüder, die ihn leichtsinnig verließen, wie über sich selber, weil er sich nicht hatte entschließen können, dem einen oder andern zu folgen. Aber dieser Ärger machte rasch der trotzigen Selbstbesinnung Platz, daß er nicht jeder Laune zu folgen brauche, sondern nach seinem eigenen Gutdünken handeln könne. Es war ja eine Laune, die seine Brüder auseinandertrieb, sie hatte nichts mit dem zu tun, was hier eigentlich in Frage stand, sondern nur mit dem faulen Zauber, der daraus gemacht wurde. Hier handelte es sich doch um ein ernsthaftes Manöver, zwei Divisionen kämpften gegeneinander, und Papa selber führte eine Brigade; man brauchte also nicht mit der Nase in der Luft da herumzulaufen und jede Uniform zu begaffen, man konnte sich an die sachlichen Vorgänge halten, das hatte einen Sinn und war am Ende auch ein Vergnügen.

Er verstand noch nicht sehr viel von diesen sachlichen Vorgängen, die Rekrutenschule erwartete ihn erst im nächsten Frühjahr, aber der Gedanke an Papa ermunterte ihn. Warum sollte er sich nicht an den Vater halten, der als hoher Fachmann hier mitspielte? Das wollte er nun wirklich tun, er kannte den Abschnitt ungefähr, den die Ammannsche Brigade besetzt hielt, und wollte sich nach ihrem Befehlshaber durchfragen, um von ihm endlich zu erfahren, was hier eigentlich los war. Wann und wo er ihn finden und wie er dabei auf seine Rechnung kommen würde, blieb recht zweifelhaft, die Umstände waren ihm nicht sehr günstig, doch bedachte er nun keine Schwierigkeiten. Die Hände in den Hosensäcken, den Hut auf dem Hinterkopf, einen schweizerischen Militärmarsch vor sich hin pfeifend, ging er quer durch das grüne Gelände auf die Suche nach dem Vater, während irgendwo die Menge wieder hurra, hoch und bravo schrie, da und dort Gewehre knatterten, Kanonen donnerten, Schützenlinien vorgingen, und die Sonne am tiefblauen Himmel über dem ernsten Spiel der Menschen heiter und unbeteiligt in den Mittag stieg.

I

1

«Das ist unser äußerstes Angebot, Herr Oberst. Wir halten es aufrecht bis Samstag mittag, nachher werden wir anderweitige Verfügungen treffen.» Der Präsident der Baugenossenschaft, ein wohlgenährter, sorgfältig gekleideter Mann, verharrte in der leicht vorgebeugten Haltung, in der er diese Worte gesprochen hatte, und blickte den Oberst verbindlich lächelnd an.

Oberst Alfred Ammann schloß seine Ledermappe, rückte mit dem Stuhl etwas vom Tische weg und lächelte ebenfalls. Er wußte so genau wie der Präsident, wie wenig diese Frist zu bedeuten hatte, aber während er sonst in Verhandlungen eine gewisse geschäftliche Taktik anerkannte und ernsthaft darauf einging, stellte er sie jetzt bloß, da ihm die Sache selber zu wichtig war. «Anderweitige Verfügungen …», antwortete er mit ironischer Nachsicht, «die stehen Ihnen heute schon frei … Es handelt sich für Sie nicht darum, ob Sie überhaupt bauen wollen, sondern ob Sie auf meinem Platze bauen können.»

Der Präsident zuckte freundlich die Achsel und lehnte sich zurück.

«Herr Nationalrat», begann der Dritte am Tisch, Anwalt der Genossenschaft, ein klug aussehender jüngerer Mann, der von Ammanns Offiziersrang weniger hielt als von seiner politischen Stellung, mit Unrecht übrigens, «so rasch werden Sie kein solches Angebot mehr erhalten … und später … kein Mensch kann sagen, ob sich die Stadt nicht nach einer andern Seite hin ausdehnen wird. Heute wissen Sie noch so genau wie wir, daß ein altes Haus an einem solchen Platze nicht zu retten ist. Ich will Ihnen nicht vorrechnen, was dieser feudale Sitz Sie jährlich kostet, aber wenn man unser Angebot bedenkt, wird kein Mensch glauben, daß Sie sich auf die Dauer so etwas leisten wollen.»

Ammann beachtete weder die Worte des Anwalts, noch den Anwalt selber. Er saß, den gelben Bürolehnstuhl füllend, die Beine nach der Art beleibter Leute bequem auseinandergestellt, die Unterlippe nachdenklich vorgeschoben, in stummer Sammlung da; es schien, als ob er sich im nächsten Augenblick entschließen werde. Er stand aber gelassen auf, griff nach seiner Mappe und reckte sich. Er war ein starkgebauter Mann von mittlerer Größe und unauffälliger Korpulenz, mit glattrasiertem, vollem Gesicht, kurzgeschorenem, dichtem, dunkelgrauem Haar und kräftig glänzenden, klugen Augen. «Schön, meine Herren», sagte er und nahm damit Abschied, «ich werde Ihnen wieder berichten.»

Er trat auf eine belebte Straße hinaus und hatte kaum die Richtung nach Hause eingeschlagen, als er auch schon gegrüßt wurde. Ein untersetzter, ebenfalls sehr wohlgenährter Mann hielt, die Straße querend, mit dem Rufe «Herr Oberst!» fröhlich gelaunt den Hut in der erhobenen Rechten. Ammann kehrte bei seinem Anblick sogleich sein wahres Wesen heraus, ein heiteres, leutseliges Wesen, das bei aller Intelligenz und männlichen Bestimmtheit am liebsten mit der ganzen Welt im Frieden lebte. Er gab den Gruß ebenso fröhlich zurück, indem er seinen breitkrempigen runden Filz auf burschikose Art weit ausladend zur Seite schwang, dann setzte er seinen Weg aufrecht und strammen Schrittes fort.

In einer stillern Seitenstraße ließ er sich Zeit und bedachte flüchtig seine Lage. Er war entschlossen, den Grundbesitz nun endlich zu verkaufen, aber irgend etwas ging in der Rechnung nicht auf, ein alter, widerstrebender Rest, den keine zahlenmäßige Bestimmung erfaßte. Dieser dunkle Widerstand, den er blindlings unterdrückt hatte, weil er gegen jede vernünftige Einsicht gerichtet schien, ließ ihn auch jetzt wieder ahnen, daß er mit dem Familiensitz mehr verkaufen werde als einen guten Bauplatz.

Er bog in eine leicht ansteigende, breite, geräuschvolle Straße ein und schlug eine strammere Gangart an, bis er die mäßige Höhe erreicht hatte. Eine mannshohe grüne Taxushecke, durch ein Gitter gegen die Straße hin abgeschlossen und von alten Parkbäumen überragt, unterbrach hier auf einer Länge von achtzig Schritten überraschend die linke Front der Häuser. Durch die Lücken der Baumkronen gewahrte man im Hintergrund die kahle Häuserreihe einer andern Straße. Ein kunstvolles, schmiedeeisernes Gittertor trennte die Hecke in der Mitte und gewährte durch seine schwarzen Ranken und Stäbe einen bescheidenen Blick ins Innere des stillen Gutes. Vom Gitter führten Sandsteinfliesen über einen Rasenstreifen zur kleinen Säulenvorhalle des Hauses, eines Herrenhauses aus dem 18. Jahrhundert, dessen edle Verhältnisse im Licht des späten Nachmittags sich hinter dem erst leicht verfärbten Herbstlaub eben noch erkennen ließen. Das Gut war im Jahre 1765 auf dieser kleinen flachen Höhe angelegt worden, mit freiem Gelände ringsum und mit dem Blick über die Stadt hin, aber vom Ende des folgenden Jahrhunderts an waren geschmacklose Miets- und Geschäftshäuser immer näher herangerückt, und jetzt hatten sie es erreicht, sie standen da, rings um diesen letzten sichtbaren Zeugen einer vornehmen bürgerlichen Kultur herum, geschlossen, anmaßend und überheblich.

Ammann, sein Besitzer, warf einen flüchtigen Blick durch das Tor, das längst nicht mehr geöffnet wurde und dessen Wappen auch nicht sein Wappen war, einen betont gleichgültigen Blick, dann trat er durch eine schmale Seitenpforte und stieß hinter sich das Gittertürchen unbedachtsam hart ins Schloß.

2

«Paul hat geschrieben», sagte Frau Barbara, als Ammann schon die Tür zum Büro öffnete. «Er kommt in acht Tagen heim.»

«In acht Tagen?!»

«Ja … das schreibt er», antwortete sie achselzuckend.

Ammann blickte eine Weile mit gerunzelter Stirn auf seine Frau, die sich vor einem offenen Wandschrank etwas zu schaffen machte, als ob die ganze Geschichte sie nichts anginge, dann legte er drinnen seine Mappe ab und trat wieder unter die Tür. «Du hast ihm doch geschrieben, daß …»

«Jaja, er weiß es schon», unterbrach sie ihn.

«So … ja, wenn dieser junge Herr meint, er könne sich noch einmal drücken, mit seinem Auslandsurlaub …»

«Drücken …!» erwiderte sie und blickte ihren Mann mit einer entschiedenen Kopfbewegung an. «Vielleicht kann er halt nicht früher fort.»

«Ja wahrscheinlich! Wenn man über ein Jahr lang gebummelt hat, ist es besonders schwer, zur rechten Zeit einzurücken. Er hat schon seinen letzten Wiederholungskurs versäumt … jetzt hört das auf!» Er trat in sein Büro und wechselte mit knappen, entschlossenen Bewegungen den Rock.

Er hatte auf Grund fortschrittlicher Anschauungen und mit kluger Einsicht in die veränderte Seelenlage der heranwachsenden Jugend seine vier Kinder nicht allzu streng erzogen, ja er hatte ihnen mehr Freiheiten gewährt, als ihm oft selber angemessen schien. Severin, sein Ältester, war dabei ein selbständiger Mann und frühzeitiger Familienvater geworden, Gertrud hatte von ihrem Mädchenalter an zu Vorwürfen kaum mehr Anlaß gegeben, Fred, der Jüngste, der noch mitten im Studium steckte, war ein lieber Kerl und verdiente alles Vertrauen; mit Paul aber klappte nun etwas nicht. Dieser intelligente, nach dem allgemeinen Urteil ungewöhnlich begabte junge Mann hatte Philologie studiert und sich nach dem Examen für ein Jahr ins Ausland begeben, «zur weiteren Ausbildung», was niemand allzu wörtlich nahm. Dieses Jahr war abgelaufen, aber statt daß der Herr Sohn inzwischen eine Stelle angenommen oder wenigstens zur rechten Zeit die Rückreise angetreten hätte, trieb er sich noch jetzt beschäftigungslos in München herum. Eine Anstellung stand ihm nun zwar durch die Vermittlung seines Onkels Gaston in Aussicht, aber daß er sich von seiner militärischen Pflicht ohne Grund noch einmal zu drücken suchte, hieß denn doch die väterliche Nachsicht auf eine harte Probe stellen.

Ammann legte ein Blatt vor sich hin, zückte die Feder und bedachte sich mit gesammelter Miene einen Augenblick, dann schrieb er, ohne zu stocken, mit kurzen, kräftigen Zügen: «Der Wiederholungskurs Deines Regiments beginnt am 6. Oktober. Ich erwarte von Dir, daß Du zur rechten Zeit heimkehrst. Mit Gruß Dein Vater.» Er adressierte den Umschlag an Herrn Dr. Paul Ammann, schrieb dick darüber «Expreß» und übergab ihn unverschlossen seiner Frau.

Damit war dieser Zwischenfall für ihn erledigt, er brannte sich eine Zigarre an, entfaltete das ausführliche Schriftstück mit dem Angebot der Genossenschaft und lehnte sich zurück, um die Angelegenheit noch einmal zu bedenken. Sein Blick ruhte auf einem Ölbild, das ihn längst nicht mehr abzulenken vermochte, einer sehr farbigen Darstellung von Bourbakis frierenden Soldaten und ihrer Entwaffnung durch die Schweizer Armee im Winter 1871. Dieses Bild, ein nüchterner Aktenschrank, der überladene Schreibtisch und eine Menge anderer Dinge paßten nach dem Urteil aller Kunstverständigen nicht in diesen Raum mit seiner schönen Stuckdecke, der zarten Landschaft über der Tür und dem prachtvollen alten Ofen. Er gab es zu, aber er hatte noch nie darunter gelitten. Dagegen kam seine Frau in den übrigen Räumen dem Stil des Hauses mit gutem Geschmack entgegen, er zollte ihr dafür alle Anerkennung und bezeugte wenigstens auf diese Art seinen Kunstsinn, den er als Eigentümer eines solchen Hauses denn doch nicht verleugnen durfte. Dieses Zugeständnis an den Geist verflossener Jahrhunderte und jener dunkle Widerstand beim Gedanken an den Hausverkauf hingen mit seiner Pflicht zur Repräsentation zusammen, und das nicht sehr ursprüngliche Gefühl dieser Pflicht war der einzige konservative Rückstand in seinem Wesen. Er war ein Mann seiner Zeit, ein Mann des Fortschritts, der Entwicklung, ein Demokrat vom Scheitel bis zur Sohle, und da ihm für das Haus jetzt ein wirklich anständiger Preis geboten wurde, konnte er wohl auch diesen Rückstand überwinden und mit seiner Familie vorläufig die in Aussicht genommene Mietswohnung beziehen.

Diese Frage beschäftigte ihn vor allem, nachdem er zur Überzeugung gekommen war, daß die gebotene Summe einen angemessenen Preis darstelle und der Verkauf nicht länger hinausgezögert werden dürfe; ein abermaliger Aufschub blieb ein Wagnis, das wußte er so genau wie der vorwitzige junge Anwalt. Ein geeignetes älteres oder neues Haus nun war in der Stadt gegenwärtig nicht zu finden gewesen, und selber ein Haus zu bauen, schien ihm übereilt, bevor sich gewisse Verhältnisse abgeklärt hatten. So bot sich als einfachste Lösung noch immer die Miete einer ihm und seiner Frau bekannten Wohnung, die nächstes Jahr, auf den 1. April 1914, frei wurde, einer sehr geräumigen Fünfzimmerwohnung im Stockmeierschen Haus an der Dufourstraße.

«Barbara!»

Seine Frau kam aus dem Wohnzimmer herüber, beugte sich leicht über das Schriftstück, das er ihr schweigend hingeschoben hatte, und begann es zu lesen, während er sie mit gelassener Neugier betrachtete. An der Summe blieb sie einen Augenblick hängen, das Folgende überflog sie nur, dann ging sie zum aufgehängten Rock, der wohl gebürstet werden mußte.

«Jaa …» sagte er gedehnt, «das ist mehr als ich erwartet hatte, offen gestanden. Jetzt heißt es zugreifen.»

«Und dann?» Sie hatte knapp angehalten und stand nun da, den Kopf etwas emporgeworfen, den lebhaften Blick auf ihren Mann gerichtet, sehr von oben herab, wie es schien, mit einer zugleich betrübten und herausfordernden Miene. Dieses beinah schroffe Auftreten, die bündige Frage und der beleidigte Anflug ihrer Miene waren Ammann vertraut; weder er noch die Kinder hatten unter ihrer herben Entschiedenheit jemals ernstlich gelitten. Es war ihre Art, keine mürrische, schlimme oder hochmütige, sondern eine gerade, im Grunde heitere und lebhafte Art. Mit ihren zweiundfünfzig Jahren besaß sie das Temperament eines lebenskräftigen jungen Mädchens, nur konnte sie sich bis zum Äußersten beherrschen, aber freilich auch sprudelnd herausfahren, wenn es nötig war. Jetzt stand sie da vor ihrem Mann, eine dunkelgekleidete, große, vornehme Gestalt mit grauem, ehemals fast schwarzem Haar, mit einem vollen, mütterlichen, um Mund und Augen stolz bestimmten Gesicht von gesunder Farbe, und mit dem Ausdruck leicht gekränkter Würde, der sich bei ihr in solchen Fällen unweigerlich einstellte.

«Ich wäre für die Wohnung bei Stockmeiers», antwortete er ruhig. «Vorläufig würde uns das doch genügen …»

«Ich habe dir schon gesagt, es ist ein Zimmer zu wenig», erwiderte sie bedauernd. «Ein Wohnzimmer, ein Salon, ein Büro für dich, ein Schlafzimmer, Freds Zimmer … und wo soll dann Paul schlafen?»

«Paul wird nicht mehr in der Stadt wohnen, wenn er am Graberschen Institut ist.»

«Er ist noch nicht dort.»

«Jaja … da brauchen wir uns keine Sorge zu machen … Gaston hat mir versprochen …»

«Und wenn wir Gäste bekommen? Ein Gastzimmer haben wir dann auch nicht.»

«Ja … wenn du in der Stadt jetzt eine geeignete Sechszimmerwohnung findest … schon recht, aber … ich sehe vorläufig keine andere Lösung.»

Sie schüttelte unwillig den Kopf. «Ich würde am liebsten mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben», rief sie und ging mit dem Rock so bestimmten Schrittes hinaus, als ob sie nicht mehr wiederzukehren gedächte.

Ammann blieb mit einem nachdenklichen Lächeln sitzen. Sie schien sich mit dem Gedanken an die Mietswohnung ja nun abzufinden, das war die Hauptsache. Zum Verkauf des Hauses hatte sie niemals weder ja noch nein gesagt, und er hatte es auch nicht verlangt. Er wußte, daß sie ähnlich dachte wie er, sie war immer eine sehr vernünftige Frau gewesen, doch er begriff, daß ihr die Trennung von diesem Hause viel schwerer fallen mußte als ihm, und daß sie sich damit so wenig offen einverstanden erklären konnte wie etwa mit dem Tode des Vaters.

Inzwischen bürstete Frau Barbara den Rock, brachte ihn aber nicht zurück, sondern setzte sich damit an eines der Fenster, das noch einen geschlossenen Blick ins Innere des Gartens gewährte, und suchte mit dem Umstand fertig zu werden, daß die seit Jahren schwankende Lage sich jetzt entschied. Sie hatte mit ihrem Sinn für klare Verhältnisse irgendeine Entscheidung schließlich als das Wünschenswerteste bezeichnet. «Wenn man nur endlich wüßte, woran man ist!» Das war nach Unterredungen oft genug ihr letzter Schluß gewesen. Jetzt aber war sie dermaßen betroffen, als ob sie im Gegenteil heimlich gewünscht hätte, daß die Lage sich solange wie möglich nicht entscheiden möchte. Der Verkauf brachte nun zwar einen Haufen Geld ein, das sie sehr zu schätzen wußte; sie hatte ihr Leben lang im Wohlstand gelebt und gewisse verächtliche Redensarten über den Wert des Geldes immer mit einem Achselzucken abgetan. Aber die Schönheit dieses Familiensitzes, die unaufdringlich gewachsen und gereift war, die Erinnerungen, die sich für sie wie für jedes ihrer Kinder daran knüpften, das Gefühl der Häuslichkeit, das die zerstreute Familie hier doch immer wieder umschloß, dieses geheimnisvolle alles umfassende «Daheim», in dem sie wurzelte, konnte dies mit Geld erkauft werden? Sie hatte gegen die Entwicklung der Stadt nichts einzuwenden, so wenig wie gegen den Fortschritt überhaupt, den gesteigerten Verkehr, das zwanzigste Jahrhundert, die Macht der Zeit; sie fand es töricht, sich dagegen zu sperren, und sie galt in ihren Kreisen denn auch als fortschrittliche Frau. Sie hatte ja diese ganze Entwicklung miterlebt, sie hatte an der Seite ihres Mannes gekämpft und gelitten. Aber warum kam man nicht schließlich an ein Ziel? Und warum konnte man sich dieser Entwicklung nicht entziehen, wenn man genug davon hatte? Warum drängten sich diese häßlichen Häuser ausgerechnet um ihr Heim zusammen, warum mußte diese Zeit eine ganze Familie vertreiben, über ein schönes altes Gut rücksichtslos hinwegstampfen und ein nüchternes Allerweltshaus an seine Stelle setzen?

Frau Barbara wurde jetzt, wie sie noch immer allein im schon fast dunklen Zimmer saß und nicht daran dachte, Licht zu machen, von ihrer berühmten Vernunft und Einsicht wohl ein wenig verlassen. Sie blickte mit einer ungewohnten, traurig bittern Miene verloren durch das Fenster in den Garten hinab, der in einem seltsamen Zwielicht lag. Von den beiden Straßen her drang das Licht der grellen Laternen dunkelgoldig durch das gilbende Buchenlaub und lag in gedämpften Flecken auf dem Rasen. Im Hintergrund schufen Gebüsche ein dichtes Dunkel, doch war davor in der Dämmerung noch der Brunnen zu erkennen, und der dünne Silberstrahl schimmerte ein wenig, den der bronzene Faunskopf, unberührt vom nahen Getöse, arglos mit geblähten Backen ins Muschelbecken spie.

3

Professor Gaston Junod trat ins Wohnzimmer, Ammanns Schwager, ein sorgfältig gekleideter, stiller Mann von dreiundfünfzig Jahren mit gepflegtem Spitzbart, zurückgekämmtem weißgrauem Haar und sackigen Fältchen unter den halb geschlossenen Augen. Leise und freundlich begrüßte er die Hausfrau, dann blickte er sich flüchtig um, als ob er etwas suchte, und lobte schließlich die Rosen, die auf dem Tisch über den Rand einer Kristallvase hingen.

Er stammte aus Lausanne, seine Muttersprache war französisch, aber er drückte sich geläufig schweizerdeutsch aus, mit etwas gebrochenem Akzent und leichten Abweichungen ins Schriftdeutsche. Vor sechsundzwanzig Jahren, als Privatdozent für romanische Philologie an der Universität in Zürich, hatte er Ammanns älteste Schwester geheiratet und seither die Stadt nur noch vorübergehend verlassen. Seine Vorlesungen galten im gebildeten Publikum, das einem geistreichen Vertreter der neuern französischen Literatur den Vorzug gab, für langweilig, doch die jungen Romanisten schätzten ihn aus irgendeinem Grunde. In der Ammannschen Familie verkehrte er nur gelegentlich, aber als leidlicher Cellist hatte er bis zur Abreise Pauls regelmäßig an einem Streichquartett in diesem Hause teilgenommen und seither auch mit Severin und Gertrud zusammen Trio gespielt.

«Schön, diese Rosen!» sagte er beiläufig und schon bereit, den Grund seines Besuches zu erklären.

«Ja, nicht wahr, prachtvoll!» antwortete Frau Barbara erfreut und drehte sorgfältig die Vase, so daß er sich noch zur Frage verpflichtet fühlte, ob es eigene seien. «Jaja freilich», bestätigte sie lebhaft, «das sind noch eigene. Wir werden nicht mehr lange eigene Rosen haben.»

«So? Ja … soll es denn nun wirklich zum Verkauf kommen?»

«Es scheint!»

«Ach, das ist schade! Ich habe immer noch gehofft, Alfred werde … ja, so ein Haus, auf Abbruch, das tut mir nun wirklich leid …»

Frau Barbara zuckte die Achsel, bat ihn, Platz zu nehmen, und ließ rasch eine Flickarbeit von einem Nebentischchen verschwinden, während er fortfuhr, sein Bedauern auszudrücken; doch plötzlich trat sie näher an ihn heran und sagte vertraulich gedämpft, aber mit tiefer Überzeugung: «Ja, nicht wahr, es ist jammerschade! Jammerschade!»

Er schüttelte bedauernd den Kopf und blickte sich wiederum flüchtig und scheinbar verlegen um, doch eh er ein Wort geäußert hatte, war Frau Barbara schon an der Tür und rief ihren Mann herbei.

«Ah, Gaston, willkommen, willkommen!» rief Ammann beim Eintritt laut und freudig. «So, sieht man dich auch wieder einmal? Das ist schön!»

«Du bleibst doch zum Nachtessen!?» sagte Frau Barbara. «Wir sind allein …»

Professor Junod lehnte mit erhobenen Händen ängstlich ab, dann kam er sogleich auf den Anlaß seines Besuches zu sprechen. «Ich wollte dir nur mitteilen», begann er, zu seinem Schwager gewandt, «daß Paul sich nicht angemeldet hat. Wir hatten gestern Aufsichtsrat und …»

«So, jetzt nehmt erst einmal Platz!» unterbrach ihn Frau Barbara. «Trinkst du ein Glas Wein? Oder ein Schnäpschen?»

Professor Junod lehnte wiederum leise, aber entschieden ab und fuhr mit seinem Berichte sogleich fort. Er gehörte dem Aufsichtsrat des Graberschen Instituts an, einer sogenannten Schnellbleiche für künftige Maturanden, wo eine Lehrstelle für Deutsch ausgeschrieben war.

«Nicht angemeldet?» fragte Ammann finster.

«Ja, es sind eine ganze Anzahl Bewerbungen eingelaufen, ich habe sie durchgesehen, aber von Paul war nichts da. Nun, nicht wahr, was wollte ich machen … der Termin ist abgelaufen, die Besetzung ist dringend … ich habe nicht allein zu entscheiden, und ich konnte doch nicht …» Er lächelte fast schüchtern und schüttelte den Kopf.

«Selbstverständlich!» sagte Ammann entschieden. «So … hm … was fällt diesem Herrn eigentlich ein?» Er blickte zornig fragend auf seine Frau, die aber in diesem Augenblick aus dem Wohnzimmer verschwand.

«Es wäre für Paul ja ein ganz netter Anfang gewesen», fuhr Professor Junod fort, «aber ich weiß nicht, vielleicht hat er etwas anderes im Sinn … diese jungen Leute, mon dieu …»

«Wann ist der Termin abgelaufen?»

«Vorgestern … es stehen jetzt drei Bewerber in der engern Wahl … in der nächsten Sitzung müssen wir beschließen.»

«Und wenn Paul sich nun morgen abend noch anmelden würde … aber es ist ja nun zu spät, natürlich …»

«Oh, man könnte sehen … ich weiß nicht … ich müßte mit den Herren reden …»

«Paul kommt spätestens morgen abend heim», erklärte nun Ammann bestimmt, «er muß übermorgen in den Wiederholungskurs einrücken. Ich werde dafür sorgen, daß er sich sofort anmeldet.»

«Gut, ja, ich glaube … das wird schon gehen!»

«Schön! Nun höre, Gaston, du bleibst zum Nachtessen da, wir machen eine gute Flasche auf, ich werde gleich …» Er hatte sich, den einsetzenden Protest abwehrend, langsam erhoben, aber zugleich mit ihm erhob sich auch sein Schwager und ergriff seinen Arm, mit der Beteuerung, daß dies ganz ausgeschlossen sei, er bedauere außerordentlich, aber es gehe wirklich nicht.

Ammann ergab sich und bat ihn, wieder Platz zu nehmen, aber Junod nahm nun unerbittlich Abschied. Frau Barbara, von ihrem Mann herbeigerufen, wickelte rasch die Rosen aus der Kristallvase in ein Seidenpapier und drückte sie dem Professor, der sie kaum anzunehmen wagte, mit einem Gruß an seine Frau und der dringenden Einladung zu einem baldigen Besuch energisch in die Hand.

Unter der Haustür wandte sich Professor Junod noch einmal um und nickte mehrmals, dann ging er, den Rosenstrauß in der Rechten, mit einem Ausdruck des Bedauerns langsam und nachdenklich die Straße hinab.

4

Fred, der auch in den Wiederholungskurs einrücken mußte, kam am Abend vorher aus den Ferien zurück, die er bei Onkel Robert auf dem Lande verbracht hatte. Er ließ sich von Mama küssen, beantwortete Fragen und richtete Grüße aus, dann stieg er mit dem Koffer in sein Zimmer hinauf.

«Ich hab’ dir alles gerüstet», rief ihm die Mutter nach. «Der Tornister steht unter dem Stuhl, und Wäsche liegt auf dem Bett. Sieh nach, ob nichts fehlt! Und wenn du baden willst, sag’s!»

Er trat in sein Zimmer, das er fünf Wochen lang nicht mehr gesehen hatte, und blieb einen Augenblick stehen, ein großer Bursche mit einem sehr jugendlichen, fast knabenhaften Gesichte, das zu seiner ausgewachsenen Gestalt in einem eher liebenswürdigen als störenden Gegensatze stand, und mit kurzem, schlicht zur Seite gekämmtem braunem Haar. Das Zimmer sah ungewohnt ordentlich aus und duftete nach dem Kampfer, mit dem die sorgliche Mutter das Militärkleid vor Motten geschützt hatte. Der Waffenrock mit den weißen Korporalstreifen auf den Ärmeln hing an einer Stuhllehne neben dem Bett, auf dem Sitz lagen die gebügelten Hosen, und darauf ruhte genau in der Mitte, mit der Bataillonsnummer gegen den Beschauer, das Käppi.

Fred schlitterte den schweren Koffer in die Mitte des Zimmers, setzte sich das Käppi auf, das bei jeder Kopfbewegung noch immer wackelte, und warf es mit einem sauern Lächeln auf die Bettdecke, dann zog er den Tornister am Tragriemen unter dem Stuhl hervor, ließ ihn pendeln und warf ihn ebenfalls weg. Die Mißachtung dieser Dinge wog aber nicht sehr schwer, er war jedenfalls Korporal geworden und hatte gegen seine Einberufung zur Offiziersschule im nächsten Sommer nicht eben viel einzuwenden. Der Militärdienst stand jedem gesunden jungen Schweizer so unweigerlich bevor wie die Steuerpflicht, und was weiter geschah, war Papas Ratschluß; er fühlte sich zwar, nachdem seine erste Neugier in der Rekrutenschule verflogen war, nicht dazu geboren, aber er hegte auch keine entschiedene Abneigung dagegen, und da von seiner Zustimmung außerdem wenig abhing, mochte denn alles so weiterdauern.

Gemächlich begann er den Koffer auszupacken und stieß unter der ersten Wäscheschicht auf ein Buch, das er sogleich in die entfernteste Ecke schmiß. Diese Mißachtung wog schwerer. Es war Osers Taschenausgabe des Schweizerischen Obligationenrechts, die er aus Pflichtbewußtsein in die Ferien mitgenommen, aber nie geöffnet hatte. Während er Kleider und Wäsche gedankenlos auf zwei Stühle türmte, beschlich ihn ein dunkles Unbehagen, das mit dem Beschluß und der Notwendigkeit zusammenhing, seinen Eltern heut abend etwas sehr Unangenehmes zu gestehen.

Fred hatte sich nach einem ordentlichen Reifezeugnis zum Studium der Rechte entschlossen, nicht weil er sich dazu gedrängt fühlte, sondern weil man sich vor den Toren der Hochschule notwendigerweise für etwas entscheiden muß. Jetzt war ihm die Juristerei verleidet, er brachte für dieses ausgeklügelte Netz von Gesetzen und Rechten keine Anteilnahme mehr auf, und gegen die Politik hegte er eine heimliche, aber entschiedene Abneigung. Außerdem besaß er jenes flüssige Mundwerk nicht, das vielen seiner Studiengenossen eine erfolgreiche Laufbahn schon jetzt verbürgte, und so schien es ihm nach seinen zwei Semestern denn höchste Zeit, dies fruchtlose Bemühen aufzustecken. Er hatte den heutigen Abend bestimmt, um es Papa mitzuteilen. Morgen früh um neun Uhr würde er sich dann bereits bei seiner Einheit befinden, weit ab vom Sturm des Unwillens, den sein Geständnis im väterlichen Herzen verursachen mochte, und vorläufig sicher vor all den überflüssigen Fragen und Erklärungen, die einem derartigen Ereignis im weitern Familienkreise zu folgen pflegten. Er haßte es, wenn man die Wichtigkeit eines Vorfalles übertrieb, und es brauchte sehr wenig, um in ihm das Gefühl zu erwecken, daß wegen eines Fliegendrecks wieder einmal mit allen Glocken geläutet werde.