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Mihajlo Pantić

Wenn es Liebe ist

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Mihajlo Pantić

Wenn es Liebe ist

Kurzgeschichten

Aus dem Serbischen von

Margit Jugo

Herausgegeben von

Nellie und Roumen Evert

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Die Übersetzung dieses Buches wurde unterstützt von:

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Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria, das Goethe-Institut, die Slowenische Buchagentur JAK und die
S. Fischer Stiftung angehören.

DIESES BUCH ERSCHEINT MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG
DES
MINISTERIUMS FÜR KULTUR DER REPUBLIK SERBIEN

Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
>http://dnb.ddb.de< abrufbar.

ISBN 978-3-943941-22-7
© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2013
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Ako je to ljubav«, Belgrad, 2003
Lektorat: Dagmar Schruf
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch unter Verwendung eines
Fotos von »boing / photocase.com«
www.dittrich-verlag.de/www.culturcon.de

Beuge dich nur, um zu lieben.
René Char

Was ist das, wenn du, sagen wir auf dem Schulhof,
den Augen eines Menschen begegnest? Es ist Gott.
Es bedarf keiner Erklärung.
Petar Božović

Zu lesen um vier Uhr morgens.

UNTER WILDEN TIEREN

Im Bus saß er neben mir und blickte die ganze Zeit auf meine Knie. Und er redete, unentwegt, Gott, er redete, als beherrsche er alle Worte der Welt. Ich verfluchte mich, keinen Pullover mitgenommen zu haben, damit hätte ich meine Beine bedecken können, aber der Tag war vollkommen, heiter, wie ein Morgen nach leichten Träumen, da brauchte ich wirklich keinen Pullover. Er redete und redete, und er blickte auf meine Knie. Ich tat, als höre ich ihm zu, ab und zu lächelte ich, zum Glück ist es nicht weit von Neu-Belgrad bis zum Zoo auf dem Kalemegdan, ich weiß nicht, wie ich das alles sonst ausgehalten hätte. Nein, ich fand es nicht unangenehm, im Gegenteil, aber es war unerträglich intensiv. Die ganze Woche schon hatte ich an den Zoobesuch gedacht, nicht wegen der Kängurus und der Raben, nein, seinetwegen. Als die Schuldirektorin mir am Montag mitteilte, ich solle die Schüler am Samstag zum Zoo begleiten, ertappte ich mich sofort bei der Frage, ob er auch mitkommen würde.

Die Tage von Montag bis Samstag waren pures Warten: Meiner Kollegin, mit der ich das Pädagogenzimmer teile, fiel meine Abwesenheit auf. »Was ist denn los, die ganze Zeit grinst du, als wärst du verliebt«, sagte sie, ich schwieg, hm, was sollte ich ihr auch sagen. Am Donnerstag kam ich etwas zur Ruhe, ich sah ihn bei der Elternratssitzung, er saß am anderen Ende des Saales, die Direktorin langweilte wie gewöhnlich und zog fünf Minuten Inhalt wie klebrigen Teig eine Stunde in die Länge, mehrere Male ertönte die Schulglocke, aber sie schwafelte und schwafelte: bitte absolute Disziplin, Abstand zu den Käfigen, die Mädchen ordentlich frisiert, die Jungs unter Aufsicht und ohne Baseballschläger, Herrn Mladenović bitten wir, uns als Vertreter der Elternschaft zu begleiten. Er nickte zustimmend, mit Vergnügen, sagte er.

Von wegen, ich war alles andere als ruhig! Es war nur Schein, hinter dem sich ein Beben auftat, wie ich es, offen gesagt, bisher nur vom Hörensagen kannte. Jede bisherige Liebe war nur Schein gewesen. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag konnte ich nicht schlafen, hat er mich angesehen, grübelte ich, auf der Sitzung bei der Direktorin, oder ist es mir nur so vorgekommen, ich habe es nicht richtig gesehen, wissen Sie, ich bin etwas kurzsichtig, aber ich trage selten eine Brille, mit Brille mag ich mein Gesicht nicht. Er hat abseits gesessen, irgendwie unwirklich, wie ich zu sagen wage, am anderen Ende des Sitzungssaals, gleich unter dem Fenster, durch das sich großzügig das grelle Mailicht ergoss und meinen ohnehin vernebelten Blick trübte. »Was ist los?«, fragte meine Kollegin hartnäckig, als ich nach dem Treffen ins Zimmer zurückkam, »Dir hat doch jemand den Kopf verdreht«. Sie arbeitet mit vorpubertären Kindern und kann in Gesichtern lesen.

Ja, am Samstagmorgen, als ich mich fertig machte, begriff ich, vor dem Spiegel, endgültig: Alle früheren Lieben, und davon gab es weiß Gott nicht viele, waren nur Schein gewesen. Und ich erinnerte mich wieder an Worte, die ich einmal gehört hatte, vor so langer Zeit, als wären sie für jemand anderen bestimmt gewesen. »Du wirst viele Menschen unglücklich machen«, hatte meine Großmama zu mir gesagt, als ich erst fünfzehn war und sich die Männer auf der Straße schon nach mir umdrehten, »und dann wird einer kommen, der dir Unglück bringen wird. So wird ein Gleichgewicht hergestellt, zu allem auf dieser Welt gibt es ein Gegengewicht, und so ist es auch zwischen den Menschen, zwischen uns Frauen und den Männern«. Ja, genau das waren die Worte meiner alten Oma, damals verstand ich sie nicht, ich wollte sie auch nicht verstehen, meinem verdrehten Kopf genügte es, dass sich die Jungen aus dem Neu-Belgrader Block 21 in mich verliebten, wenn ich sie mit meinem kecken, betörenden Blick ansah, der sie einen nach dem anderen in Ohnmacht fallen ließ.

Sein Sohn kommt regelmäßig zu mir. Er ist klug, aber wie alle Scheidungskinder hat er gewisse Entwicklungsprobleme. Ich weiß alles über seine Eltern. Über die Mutter in Kanada, die ihm immer seltener schreibt, sie ist mit einem Neuen abgehauen und hat wieder geheiratet, und über den Vater, Professor Mladenović, der die alleinige Sorge für seinen Sohn und die ältere Tochter übernommen hat. Vor dem Bus, der vom Schulhof aus startete, begrüßte ich zwei Mladenovićs, der jüngere verschwand irgendwo hinten, zwischen den vergnügten Kindern, die bald die Affen sehen würden, und der ältere setzte sich mit mir auf den Doppelsitz gleich hinter dem Fahrer. Er redete und blickte die ganze Zeit auf meine Knie. Was er erzählte, war mir egal, ich lauschte nur seiner Stimme, sie war angenehm, fast hypnotisch, im tiefen, zittrigen Ton eines enttäuschten Menschen, Gott, lass ihn nur nicht aufhören, betete ich im Stillen, als wir über die Branko-Brücke fuhren, und alles, seine Worte, das Licht und die kurze Fahrt zu den Löwen, wuchs bis zur Unerträglichkeit in mir an. Erst da, ja erst da verstand ich, was die Mutter meiner Mutter einst gemeint hatte, als sie aus eigenem Erleben, aus tiefster persönlicher Erfahrung sprach, jener Erfahrung, die der Weisheit Kraft verleiht, wie uns an der Universität gelehrt wurde, denn auch meine Großmutter hatte auf eine ähnliche Geschichte zurückgeblickt, sie war für ihre Schönheit bekannt gewesen und hatte viele Menschen unglücklich gemacht, bis ihr mein Opa dann ihr ewiges Unglück bescherte, mein hübscher Opa, der alle Frauen der Welt auf einmal liebte und mit ihnen umzugehen verstand.

Auf dem Weg zu den Elefanten, es ging schon auf die Mittagszeit zu, dachte ich, obwohl ich wusste, wie Liebesromane enden, Gott, was wird er jetzt zu mir sagen, dieser Mann, der neben mir geht, und der von sechs Milliarden Wünschen auf dieser Welt nur den einen, diesen einen verzweifelten Wunsch in mir weckt, meine Hand in seine zu legen.

WENN ES LIEBE IST

Letzten Herbst, wenn es ein Herbst war, hat Ogi eines Samstagsmorgens nach sechs Jahren Ehe seine Sachen gepackt und ist abgereist. Nach Israel, für immer. Für immer, wiederholte ich tagelang, allein, in unserer ehemals gemeinsamen Wohnung in Neu-Belgrad, bevor ich mir dieser Worte vollständig bewusst wurde. Für immer also. Von jetzt an, sagte ich zu mir, so weit meine Vorstellung reicht, und noch darüber hinaus, also für immer. Wie in einem dieser drittklassigen Filme, die wir uns manchmal zusammen ansahen, im Fernsehen, bis spät in die Nacht, nebeneinander, unter einer Decke, mit längst erloschenem Begehren, zwei gleichgültige, sexuell abgestorbene Wesen. Ja, genau wie in einem dieser Filme, die wir mitsamt Titel vergaßen, sobald einer von uns beiden, egal wer, das Licht löschte und gute Nacht murmelte, wenn es gute Nächte überhaupt gibt.

Hätte mir jemand gesagt, wie die ganze Sache mit mir und Bogdan einmal enden würde, wenn überhaupt irgendetwas auf dieser Welt wirklich endet, wirklich, meine ich, denn die Liebe endet nie ganz, dann hätte ich wohl erwidert: Erzähl mir doch nichts. Und zwar deshalb, weil ich es vom ersten Tag an gewusst habe. Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, habe ich schon alles gesehen, ohne dass es vorauszusehen gewesen wäre, nein, es war keine Hellseherei, keine Hexerei, nichts dergleichen. Es war die pure Gewissheit, dass wir eine Weile zusammen sein würden, bis zur Verschmelzung, bis zum letzten Herzschlag, und dass wir danach nicht mehr beieinander sein würden, aber sicherlich noch zusammen, dort, wo man jede Sekunde mit jemandem zusammen ist: in Gedanken. Bei der Morgentoilette vor der Arbeit, beim Zähneputzen, im Bus beim Überqueren der Sava, beim Übersetzen – ich übersetze Untertitel für Filme – beim Bügeln und beim Aus-dem-Fenster-Starren auf den verlassenen, mitternächtlichen Boulevard, immer ist man mit jemandem zusammen, und noch mehr als das, man ist mit allen Menschen zusammen, die man einmal geliebt hat, jedenfalls geht mir das so.

Natürlich ahnte ich nicht, wie lange es dauern würde, wie alles verlaufen und wann es enden würde, wenn, wie gesagt, überhaupt irgendetwas auf dieser Welt wirklich enden kann, nach uns bleibt, was man von uns erzählt, irgendetwas bleibt immer. Es war eine Studentenliebe, zwischen Bogdan, genannt Ogi, und mir, wenn es Liebe war, und kein Hineinstolpern, einander Erkennen und Verschmelzen bis zur Verblendung. Er war drei Jahre jünger als ich, ich stand schon vor der Diplomprüfung, als Ogi eines Tages, gegen Ende des Wintersemesters, wenn es ein Winter war, jedenfalls war es Januar, an der Tür zur Seminarbibliothek auftauchte. Später erfuhr ich, dass dieser Tag plumper Mittwoch genannt wird, keine Ahnung warum. Aber vielleicht hatte es etwas zu bedeuten. Bogdans Blick streifte mich, weiter nichts, er nahm in dem überfüllten Raum Platz, in dem sich der Geruch nach feuchter Kleidung ausbreitete, an unserer Fakultät sind überwiegend Frauen, sodass eine Erscheinung wie seine leicht ins Auge sticht. Ich bemerkte ihn sofort, obwohl ich in die Übersetzung einer mittelenglischen Erzählung von Chaucer vertieft war, ich kann mich noch gut daran erinnern, Professor Ignjačević konnte unvorbereitete Studenten nicht leiden. An einer ganz bestimmten Stelle jedoch tauchte ich aus dem Buch auf, hob den Kopf und das Erste, was ich sah, wenn ich überhaupt etwas sah, war Ogis Lächeln. Als ich den Blick wieder senkte, prägte sich mir fotografisch ein: »Who ever bound a lover by a law?«/ Love is a law unto itself. My hat!/ What earthly man can have more law than that?/ All manmade law, all positive injuction is broken/ Every day without compunction/ For love. A man must love, for all his wit;/ There’s no escape though he should die for it,/ Be she a maid, a widow or a wife.

Ogi kam auch am nächsten Tag, wir grüßten uns, an den darauffolgenden Tagen begann ich mich absichtlich zu verspäten, von Mal zu Mal ein paar Minuten mehr, ich stellte ihn auf die Probe, nur um zu sehen, ob und wie lange er bereit war zu warten, und er wartete, unfehlbar, immer dort, wo ich meinen Chaucer übersetzte, neben der Heizung, durch die geschlossenen Fenster drang Straßenlärm.

Ich legte meine Diplomprüfung ab, vor den Professoren Ignjačević und Kuljača und der Professorin Danon, sie mochte mich besonders, sie war es auch, die mir den ersten Honorarauftrag gab, die Übersetzung eines Briefwechsels für die Jüdische Gemeinschaft, und später empfahl sie mich als Englischdozentin für die Stelle am Fremdspracheninstitut. Dort blieb ich mehrere Jahre, bis Ogi sein Diplom hatte. Wir lebten bescheiden, von meinem Gehalt und seinen gelegentlichen Honoraren. Er hatte schon als Student Filmkritiken geschrieben, und es lief gut, schon bald war er überall gefragt, ich weiß noch genau, wie er eines Nachts im Sommer, wenn es ein Sommer war, jedenfalls war es August, vom letzten Filmfestival in Pula zurückkam und einen Hauch von Untreue mit sich trug – habe ich das nicht schön gesagt, das Übersetzen von Melodramen schlägt sich halt irgendwann im Ausdruck nieder. Verzeih mir, sagte er schon an der Tür, denn mir genügte ein Blick, verzeih mir, ich habe mit der kleinen kroatischen Schauspielerin rumgemacht, du hast mal gesagt, sie gefällt dir, du weißt schon, die, die mit Miki Manojlović gedreht hat. Ich konnte mich nicht erinnern, mir gefallen Schauspieler immer nur einen Film lang, schon gut, ich verzieh ihm sofort.

Manchmal, wenn ich in den Spiegel blicke, spreche ich seinen Namen aus und denke daran zurück, wie wir uns am Bahnhof verzweifelt küssten, als er eingezogen wurde, der Krieg kam wie ein Flammenwind, ich glaube, das mit dem Flammenwind ist ein Zitat. Glücklicherweise wurde er nach zehn Tagen freigestellt, wegen Astigmatismus, Ogis Augen wirken tatsächlich verschlafen, sodass wir den Krieg hauptsächlich vor dem Fernseher verbrachten. In jener Zeit hatte ich am meisten zu tun, die Video-Piraterie überschwemmte den Markt, und der Filmverleih, von dem ich die meisten Aufträge bekam, wurde über Nacht zu einem Privatunternehmen, er überhäufte mich regelrecht mit Hollywood-Müll. Tag für Tag hörte ich, in einen Kassettenrecorder diktierend, alle möglichen Dialoge ab, vom göttlichen Nicholson bis hin zur weinerlichen Meryl Streep. Ogi lachte und sagte, ich sei verrückt, warum arbeitest du so viel, fragte er jedes Mal, wenn er nach Hause kam, er schrieb immer weniger, und wir liebten uns immer seltener, wenn es Liebe war, und keine routinierte Hingabe, keine schnelle Körperhygiene, obwohl ich das nie, ich schwöre, nie zugeben würde, der Sex mit ihm war interessant, mmm, und jedes Mal irgendwie anders, mal leicht wie ein gekühltes Glas Krokan an einem schwülen, frühen Sommerabend, mal kalt wie die Bura-Böe aus einem späten Urlaub in Pirovac, wo sich das Erholungszentrum der Jüdischen Gemeinschaft befindet, in dem wir drei Jahre hintereinander, immer im Oktober, Urlaub machten, bis der Krieg ausbrach. Und manchmal war es ein Beben, tief und gedämpft, wie nächtliches Licht in der Ferne, beim Warten auf das Einfahren der Züge an einer kleinen Haltestelle im Una-Tal, beim Küssen im schmalen Bett eines Schlafwagens und dem Lauschen, wie draußen jemand mit Likaer Akzent grummelt: »Mann, das schüttet wie aus Kübeln, ich bin klitschnass, und sehen kann man auch nichts, und die Scheißregenjacke kannst du auch vergessen.«

Eigentlich kann ich mich an jeden Orgasmus erinnern, den ich mit Ogi erlebt habe, angefangen mit dem ersten, in meinem Studentenzimmer in der Ivankovačka-Straße, gegenüber der Maschinenbaufakultät. Der Vermieterin erzählte ich, ein Kollege würde mich besuchen kommen, mich besuchte sonst nie jemand, die Vermieterin war überrascht, sie verhielt sich korrekt, machte Kaffee und Kuchen und ließ uns allein. Zu jener Zeit verstand ich mich weder mit meiner Stiefmutter gut, noch mit meinem Vater, und obwohl ich in der väterlichen Offizierswohnung, die ich später erbte, ein eigenes Zimmer hatte, beschloss ich, dort auszuziehen, und wohnte im dritten und vierten Studienjahr bei einer entfernten Tante von Mama, der alten Jungfer Dunja. Mama bot mir an, zu ihr nach Schweden zu ziehen, komm zu uns, mein Dummchen, sagte sie jeden Sonntag am Telefon, es ist bald Krieg, Olaf hat nichts dagegen und Goran kann es kaum erwarten, seine Halbschwester kennenzulernen. Olaf ist ihr zweiter Mann und Goran mein Halbbruder, Mama hat einen Schweden geheiratet, ihrem Sohn haben sie einen schwedisch-serbischen Namen gegeben. Ich lehnte natürlich ab, ich wollte mein Studium beenden, und in meiner jugendlichen Naivität dachte ich, es würde sich schon alles beruhigen, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Menschen beginnen würden, aufeinander zu schießen, bald taten sie es tatsächlich, aber ich wartete weiter, worauf, weiß ich nicht. Als Ogi auftauchte, bekam mein Warten wenigstens einen Namen.

»Ivana, Liebes, ich gehe zu Frau Melentijević, um den Ärmel hier zu säumen, sie hat eine Endelmaschine«, sagte Tante Dunja an jenem Vormittag. Es gab weder Frau Melentijević, noch den Ärmel, noch die Endelmaschine, es gab nichts als schreckliche Scham, auf beiden Seiten … eine schnelle Nummer am Vormittag zwischen Gerundien und Partizip Perfekt. In der Nacht, bevor er nach Israel reiste, für immer, liebten wir uns im Stehen und dabei blickte ich ihm die ganze Zeit in die Augen, er hat mich immer gefragt, warum ich die Augen schließe, wenn wir es treiben, ich weiß es nicht, ich habe nie gelernt, die Augen offen zu lassen, und ich blieb immer stumm. Komm, sag wenigstens ab und zu mal irgendetwas, bat Ogi mich manchmal, doch ich blieb immer stumm, ich versank in mir, die Augen fest zugedrückt, wie ins Bodenlose, und dann riss ich die Augen plötzlich einfach auf und blickte ihn auf eine Weise an, dass er Angst bekam, ich wusste, dass er Angst bekam.

Nein, gestritten haben wir nicht. Nie. Obwohl Streiten in Maßen die Liebe anfacht, wie ich im Frauenmagazin Bazar einmal gelesen habe. Wir hatten keinen Grund dazu. Auch nicht, als es keine Gründe mehr gab. Wir warfen uns nichts vor, wurden nicht wütend und waren nicht eifersüchtig, alles nahm seinen natürlichen Lauf, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, unsere Geschichte hatte einen Anfang, einen Zenit und ein Ende, hm, wenn man es denn Ende nennen kann. Einmal nur, ein einziges Mal, als Zvonko, mein erster Freund, mir mitten im Krieg einen Brief aus Zagreb schickte, nur um mir zu sagen, dass er manchmal an mich denke, dass er der Einberufung entgangen sei – im ersten Moment verstand ich nicht, was er mit ZNG1 meinte – dass er geheiratet und ein Töchterchen bekommen habe und dass in der Literaturzeitschrift Quorum, allerdings in kroatisierter Form, meine Übersetzung aus Sam Shepards Motel Chronicles abgedruckt worden ist, reagierte Ogi mit jungenhafter Empfindlichkeit – danach liebte ich ihn umso mehr. Offen gesagt, hatte ich niemanden außer ihm, meine Stiefmutter und mein Vater waren innerhalb von einer Woche nacheinander gestorben und lagen auf dem Friedhof Bežanijsko Groblje, Grabplätze 205 und 206, beide an derselben Krankheit: Lymphdrüsenkrebs. Mama lebte längst im fernen Schweden. Einmal erzählte sie mir am Telefon, dass mein Halbbruder Goran je nach Stimmung die Augenfarbe wechsle: wenn er gut gelaunt sei, habe er blaue Augen, und graue, wenn er wütend werde – stell dir das vor, ein wütender Schwede, keine Ahnung, wie das geht. Nach Zvonkos Brief schmollte Ogi zwei, drei Tage lang, und auch wenn er nichts sagte, war alles klar, Männer halten dich gerne fest, selbst dann, wenn sie dich nicht mehr besitzen wollen, Liebe ist Besitz, das ist keine große Weisheit, ich weiß, aber es stimmt, wenn es Liebe ist, eigentlich wollen sie dich erst recht festhalten, wenn sie dich nicht mehr besitzen wollen, dann meldet sich ihre natürliche Unreife und das Bedürfnis, der Wichtigste zu sein, jede weitere Liebe ist nur ein Schatten nach der zu diesem unseligen, liederlichen Taugenichts, von dem du weiche Knie bekommst und an den du bis zum Schluss denkst, und noch länger, genau wie ich an Ogi. Ja, es ist aus, ich habe keine Gefühle mehr für dich, was dich aber nicht von der Pflicht befreit, mich zu lieben, so irgendwie, das Schlimmste ist: Es ist alles wahr. Meine beste Freundin, Ljilja Đurić, den Namen habt ihr schon gehört, sie ist Dichterin, Profi-Feministin und erbitterte Gegnerin der Seegurken-Gesellschaft, würde mich umbringen, wenn ich ihr gegenüber zugäbe, dass ich mich als seinen Besitz betrachte und es auf eine verfluchte Weise immer noch genieße, ich, das unemanzipierte Wesen, das drei Tage nach Ogis Abreise einen neuen Liebhaber fand, aber das ist eine andere Geschichte.

In seinem ersten Brief schickte mir Ogi ein Foto, das ihn vor dem Eingang seines Wohnhauses in Tel Aviv zeigt. Auf der Rückseite stand: Für Ivana, in Liebe, Avigdor. So erfuhr ich von der Änderung seines Namens, er hatte sich nach dem Protagonisten einer genialen Erzählung von Singer benannt, nach der Barbara Streisand einen Shit-Film gedreht hat, dermaßen widerlich, dass wir, nachdem wir ihn gesehen hatten, drei Tage lang den Fernseher ausgeschaltet ließen. Ich hatte diese Zuckerwatte natürlich übersetzt. Ein neuer Stadtteil von Tel Aviv, ein Stückchen Gehweg, ein frisch gepflanzter junger Baum, ein gewöhnliches Wohnhaus, wie bei uns in Neu-Belgrad. Zwei Stockwerke sind zu sehen, auf einem Balkon trocknet Wäsche, ein Fenster steht offen, Ogi, hm, Avigdor, lehnt an einem alten Auto, und im Erdgeschoss ist ein Gemischtwarenladen, vor dem Körbe mit Obst aufgestellt sind. Das Foto hat Lea gemacht, seine Freundin, sie haben sich bei einem Ausflug der Abendschule für Ivrit kennengelernt. Lea ist russische Jüdin, eine Violinistin, aber sie und Ogi, Verzeihung, Avigdor, arbeiten jetzt in einem großen Musikgeschäft und verkaufen Instrumente und CDs. Ein weiteres Foto zeigt Bogdan und Lea auf der Plantage eines Kibbuz. Links gelbe Wüstenlandschaft und rechts, schnurgerade davon getrennt, eine dicht bepflanzte Zitronenplantage. Darüber der Himmel, in einem verwaschenen Blau. Ich erkannte ihn sofort wieder, es war derselbe Himmel wie bei unserer Hochzeitsreise nach Jerusalem, ganz bewusst wird einem dieser Himmel erst, wenn man aus der Grabeskirche tritt, ein tiefer, unendlich tiefer Himmel, durchscheinend, wie ein umgekehrtes Meer, aufragend, soweit die Augen reichen, bis in schwindelnde Höhen, wo die Vernunft des Höchsten ruht.

Ich weiß nicht, warum ich mich immer daran erinnere. Als er den Lehrsaal betrat, aß ich gerade ein Đevrek, die Sesamkrümel fielen auf das vor mir aufgeschlagene Buch. Er setzte sich mir gegenüber, er sah mich an, und das erste, was er zu mir sagte, war: »Warte mal.«

Dann griff er in seine Jackentasche, zog ein schneeweißes Damast-Tuch hervor und wischte mir mit dessen Zipfel die Krümel von den Mundwinkeln. An diese Berührung werde ich mich für immer erinnern, und ich weiß, was das heißt: für immer. Die richtigen Männer haben etwas Weibliches an sich, eine Geste oder ein Wort, wenn ihr versteht, was ich meine. Bei der Abschlussexkursion, einer Klosterbesichtigung, der er sich anschloss – er tauchte zur Abfahrt einfach vor der Fakultät auf und stieg noch einfacher in den Bus, obwohl ihn außer mir niemand kannte –, fand ich heraus, dass er nicht orthodoxen Glaubens war. Ich weiß nicht, was ich bin, sagte er, ich bin nicht getauft, und weil ich nicht getauft bin, käme es mir dumm vor, mich beim Betreten einer Kirche zu bekreuzigen, meine Mama ist Jüdin und mein Papa Bosnier, Offizier, Kommunist, wen kümmert es, ob ich gläubig bin oder nicht, obwohl, wenn ich es mir recht überlege, bin ich wohl doch gläubig, nur suche ich noch nach Gott. Er konnte nicht erklären, warum er sich für ein Studium in Belgrad entschieden hatte, sein Vater starb kurz vor dem Krieg, er schwand einfach dahin, so wie sein Staat dahinschwand, und seine Mama blieb in Sarajevo allein zurück, wir telefonieren heute noch mindestens ein Mal im Monat, nach allem, was gewesen ist. Ach, Liebes, sagt Frau Simha zu mir, mit deren Namen das Leben ein so rohes Spiel getrieben hatte, ich habe alles erduldet, den Tod, den Krieg und eure Scheidung, aber dass ihr keine Kinder bekommen habt, werde ich mit ins Grab nehmen. Aber Simha, erwidere ich, dabei schnürt es mir die Kehle zu, wir sind doch noch jung, für Kinder ist noch Zeit genug. Ja, Gott sei Dank, sagt sie, aber ich wollte, dass ihr welche bekommt, ihr seid doch meine Familie.

Ogi und ich heirateten an einem Donnerstag, in der Belgrader Gemeinde Savski Venac, nur mit unseren Trauzeugen David und Milka, jung und verrückt, wie wir waren. Der Krieg hatte bereits begonnen, wenn es ein Krieg war, jedenfalls war es der fünfte Akt eines Shakespeare-Dramas, auf einmal schloss jeder den Tod ins Herz, und Ogi und ich küssten uns, immer und überall, bis zur Bewusstlosigkeit, und interessierten uns für nichts anderes, am wenigsten für den Krieg. Dann fing es auch in Sarajevo an. In jenen Tagen beschloss Ogi, Jude zu werden. Ich habe beschlossen, Jude zu werden, verkündete er mir, ich war es eigentlich schon immer, aber jetzt sehe ich, dass ich wirklich Jude bin. In ihrem letzten Gespräch, bevor die Verbindung zu Sarajevo abbrach, sagte Simha zu ihm: Zum ersten Mal seit sie denken könne, bedeute Jude sein – sicher zu sein. Alle ihre Angehörigen waren in Mauthausen umgekommen, sie hatte den Krieg als junges Mädchen bei einer alten muslimischen Familie überlebt und drei Jahre lang, solange die Ustaschas dort an der Macht waren, das Haus nicht verlassen. Ich glaube, Mama hat recht, sagte Ogi zu mir, Jude sein bedeutet, eine feste Identität zu haben, heute geben alle Kriegsparteien auf uns acht, um Toleranz zu demonstrieren, wie ehrlich das ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass es für uns Juden gut ist. Ich will nach Israel, und du kommst mit. Nein, sagte ich, ich gehe nirgendwohin, was soll ich dort. Und was willst du hier, fragte er, er wollte sich nicht streiten. Was weiß ich, sagte ich, dasselbe wie immer, etwas mehr als nichts, mir ist das genug. Aber ich will, dass du mitkommst, sagte er. Ich nicht, sagte ich, aber ich kann dir nicht sagen, dass du bleiben sollst, dazu habe ich kein Recht.

Mithilfe der Jüdischen Gemeinschaft waren die Formalitäten schnell erledigt, innerhalb von zehn Tagen, Albahari half ihm. Ich begleitete ihn zum Flughafenbus, noch waren die Grenzen des Luftraums über den Relikten des verfallenen und von außen wie innen gedemütigten Landes offen, ich wollte ihn nicht bis zum Flugzeug begleiten, ich hätte es nicht ertragen. Wir standen an der Haltestelle Fontana in Neu-Belgrad, was sollten wir einander sagen. Es regnete, Abschiede sind immer etwas schnulzig, und ich bin so schlecht darin, schließlich kam der Bus, ich ruf dich an, war das Letzte, was er sagte, dabei küsste er an meiner linken Wange vorbei in die Luft, ich blickte irgendwo durch ihn hindurch. Das Taschentuch hast du hoffentlich dabei, sagte ich, du wirst es brauchen. Natürlich, antwortete er, du weißt doch, dass ich es immer bei mir trage. Und so ist er gegangen. Drei Tage lang ging ich nicht aus dem Haus, irgendwie versank ich in mir, depressiv, langsam im Denken, der Fernseher lief ununterbrochen, ohne dass ich hinsah, ich nahm den Hörer nicht ab, obwohl das Telefon wie verrückt klingelte, ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wie diese Zeit verstrichen ist, diese Stunden, zähflüssig wie Harz, in denen das ganze Leben mit ihm an mir vorüberzog … Immerhin war es ein ungewöhnliches Erlebnis, was auch nicht schlecht ist, vielleicht sogar das Wichtigste, denn wenn ich alt bin, werde ich etwas haben, woran ich zurückdenken kann, daran, wie er mit leicht überstrecktem Kopf schlief, wie ihn Manches aufregte, worüber ich mich nie aufgeregt hätte, wie er immer lachte, wenn ich ernst war, und umgekehrt, wie er morgens das Frühstück machte, wie wir jeden Mittwoch am Kai spazieren gingen, der Mittwoch gehörte nur uns, denn wir hatten uns an einem plumpen Mittwoch kennengelernt, wenn es ein Kennenlernen war, jedenfalls war es eine erfüllte Zeit, jenseits aller Regeln, alle planten ihre Wochenenden, nur wir nicht, unser Wochenende war mitten in der Woche, und niemand konnte uns diesen Tag nehmen. Ich weiß noch, wie er sich freute, als er den Einladungsbrief aus Israel bekam, ich war traurig und er bemerkte es, Entschuldigung, so war es nicht gedacht, sagte er, aber es ist noch nicht zu spät, du kannst es dir noch überlegen, ich werde auf dich warten, aber du sollst wissen, ich habe beschlossen zu gehen. Geh nur, dachte ich, du lässt weiß Gott nicht viel zurück, wir haben keine Kinder, zum Glück, darüber hatten wir nie nachgedacht, wir hatten keine Arbeit, unsere Wohnung verfiel allmählich, wir hatten nur einander, nur die Liebe, wenn es Liebe war …

1 Vorläufer der Kroatischen Armee

BRIEF AUS DEM JAHRE 1999
(Nach Ivo Andrić)