Janne Palmer
Berlin City Girls. Verbotene Nächte
FISCHER E-Books
Hinter dem Pseudonym Janne Palmer steht die Drehbuchautorin und Filmemacherin Jeanette Wagner, die aus der Kleinstadt nach Berlin zog, dann als Berlin City Girl in WGs wohnte, in Cafés und Clubs abhing und sich nicht in den Freund ihrer besten Freundin verliebte. Sie hat ein Faible für emotionale und existentielle Komödien. Heute lebt sie mit ihrer Familie in einer Berliner Altbauwohnung, in der die Fensterscheiben vibrieren, wenn die U-Bahn vorbeifährt.
›Verbotene Nächte‹ ist der erste Band der Reihe ›Berlin City Girls‹ und Janne Palmers erster Jugendroman für FISCHER. Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Berlin. Eine Freundschaft. Eine Leidenschaft.
Sechzig Bewerber auf ein WG-Zimmer, angesagte Clubs, immer irgendwo Dreharbeiten, Demos und Hundekacke. Schlaflose Nächte, zu viele Partys und strange Mitbewohner: Das ist Berlin! Hier spielt die Geschichte von Anouk, die sich Hals über Kopf in Joel verliebt. Das Dumme ist nur: Er ist der Freund ihrer besten Freundin. Ein absolutes Tabu. Doch was tun, wenn man die Finger nicht voneinander lassen kann?
Spannend, emotional und erotisch: Die neue Serie von Janne Palmer – zum Dahinschmelzen, Mitleiden, Mitfiebern!
Erschienen bei FISCHER E-Books
Originalausgabe
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Covergestaltung: Suse Kopp, Hamburg
Umschlagabbildungen: Cultura/DUEL/Getty Images und Andreas Muhs/OSTKREUZ
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403018-0
Das Klingeln des Telefons weckte sie auf. Ein kurzer Blick auf den Wecker genügte – sofort schloss sie wieder die Augen und bestrafte das penetrante Klingeln mit schläfriger Missachtung. Nur weil jemand schon um sieben Uhr morgens reden musste, war sie nicht bereit, einen ihrer Grundsätze zu brechen: Aufgestanden wird erst, wenn es draußen hell ist. Das bedeutete im Winter: Nie vor acht Uhr. Meistens erst gegen zehn.
Eine Hand legte sich auf ihre rechte Hüfte. Also musste außer ihr noch jemand im Bett sein, denn ihre eigenen beiden Hände lagen mit abgeblätterten schwarz lackierten Fingernägeln vor ihr auf der Bettdecke. Diese Person konnte nur hinter ihr sein, denn Anouk lag auf der Seite – die seit einem Jahr immer noch nicht gestrichene Wand nur wenige Zentimeter vor ihr. Warmer Atem blies ihr ins Ohr. Auf einmal fiel ihr alles wieder ein, und sie sah den gestrigen Abend in einem schnell geschnittenen Amateur-Erotikfilm-Trailer auf der Leinwand ihrer Erinnerung. Sie sah die »Action-Szenen« noch deutlich vor sich, doch das Gesicht des Hauptdarstellers blieb unscharf. Trotzdem zog Anouk es vor, sich vorerst nicht umzudrehen. In der Helligkeit am Morgen, ohne den schmeichelhaften Filter der Nacht, sahen die Menschen so nackt und verletzlich aus. Zuweilen auch unappetitlich.
Der Mensch hinter ihr war nackt. Das konnte sie nun deutlich spüren. Langsam rutschte sie ein Stück näher zur Wand, nahm seine Hand von der Hüfte und platzierte sie vorsichtig so, dass sie nicht mehr mit ihrem Körper in Berührung kam. Sex war eine gute Sache. Schließlich war Sex der Grund, warum sie auf der Welt war. Aber genauso gut war es, wenn die Typen danach einfach gingen. Was die wenigsten taten. Die wollten dann entweder morgens noch geküsst werden oder reden. In den schlimmsten Fällen ein Frühstück.
Weiter Richtung Wand konnte sie nicht mehr rutschen. Das verdammte Telefon. Schon wieder.
Eine dünne Stimme piepste auf den Anrufbeantworter: »Hallo, hier ist die Josi. Ich hab eben schon mal angerufen, ich hab eure Anzeige gelesen und such’ ganz dringend ein Zimmer. Ich probier’s später noch mal. Tschüüß!«
Später bedeutete für Josi Viertel nach sieben. »Hallo! Ich bin’s noch mal! Ich ruf später noch mal an!«
Anouk zog die Bettdecke über die Ohren. Sie musste unbedingt noch schlafen. Aber es gelang ihr nicht mehr, und daran war nur Josi schuld. Sie sah den »Typ Josi« genau vor sich: Gekämmt und adrett, auf ihrer Kleidung nie ein Schmutzfleck. Wahrscheinlich war sie schon als Kind so verantwortungsvoll gewesen, dass sie ein eigenes Haustier haben durfte. Im Gegensatz zu Anouk, die sich immer vergeblich einen Hund gewünscht hatte. Fest stand, Josi würde niemals hier einziehen.
Langsam bekamen die Häuser draußen dunkelgraue Konturen. Anouk konnte nur erahnen, was hinter den mit einer dünnen Eisschicht bedeckten Fensterscheiben war. Wollte sie später mehr sehen, musste sie die Fenster mit einem Eiskratzer bearbeiten. Bis vor einem Jahr hatte sie noch mit ihrer Mutter in einem Neubau in einer süddeutschen Kleinstadt gewohnt: Doppelglasfenster, Vorhänge davor, Teppichböden, niedrige Decken und Raufasertapeten. Sie vermisste nichts davon.
Um halb acht klingelte das Telefon erneut in einer Lautstärke, die schon fast unnatürlich war. Anouks Ärger richtete sich nun gegen ihre beiden Mitbewohnerinnen, die nichts dagegen unternahmen. Sie hatten mindestens fünf Schlafstunden Vorsprung und Francisca war eine Frühaufsteherin – wo also war das Problem?
Anouk atmete tief durch und versuchte angespannt, das Klingeln zu ignorieren. Es fiel ihr schwer.
Die Hand hatte sich wieder selbstständig gemacht. Diesmal auf ihrem Bein. Sie strich langsam über ihren schmalen rechten Schenkel, streichelte die Innenseite und gerade, als Anouk ganz leicht ihre Beine spreizte und es ihr glückte, sich nur auf das Kribbeln auf ihrer Haut zu konzentrieren, gerade, als es anfing, schön zu werden, klingelte es.
Sie konnte sich nicht mehr zurückhalten, so aufgebracht war sie, dass sie nackt aus dem Bett sprang und zum Telefon rannte. Wütend bellte sie in den Hörer: »Josi, du kriegst das Zimmer niemals nie und wenn du weiter so machst, bist du bald obdachlos, denn keiner will mit einer Person zusammen wohnen, die um sieben schon wach ist!«
Dann knallte sie den Hörer auf und stapfte mit kalten Füßen zurück in ihr Zimmer mit der Absicht, genau an der Stelle weiterzumachen, wo die Hand vorher aufgehört hatte. Sie sah die Person in ihrem Bett zum ersten Mal bei Tageslicht unverwandt an. Und er sie. Er sah normal aus und überhaupt nicht verletzlich. Oder unappetitlich. Sein Blick wanderte über ihr Bein. »Was hast du da?«
Das fragten sie immer. Vor ungefähr fünfzehn Jahren hätte sie stolz geantwortet: »Bei meiner Geburt hat ein Drache mit seiner Zunge über mein Bein geleckt.« Heute murmelte sie: »Ein Feuermal.« Anouk schlüpfte schnell unter die Decke. Kaum hatte sie sich hingelegt, klingelte das Telefon schon wieder. Anouk fluchte, und die Person in ihrem Bett nuschelte mit belegter Stimme: »Is doch egal« und versuchte, sie mit Küssen festzuhalten.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie und schob den Streichler etwas ruppiger als geplant beiseite. Sie hatte vor, das Telefon auszustöpseln. Wer braucht schon Festnetz, wenn alle Welt ein Handy hat.
Francisca stand in einem rosa Nachthemd im Flur und sagte ruhig: »Ja, ich werd’s ihr ausrichten. Eine Schicht früher, klappt bestimmt.« Sie begrüßte Anouk mit einem Lächeln, dabei bildeten sich zwei tiefe Grübchen, die ihr etwas Zartes und Verletzliches gaben, wie zwei Sprünge, an denen sie zerbrechen konnte. Während sie weitertelefonierte, reichte sie Anouk eine Jacke, die an der selbstgebauten Garderobe hing: ein langes blau gestrichenes Brett mit antiken Messinghaken. Anouk zog die Strickjacke an. Francisca sorgte für sie – das war schon immer so gewesen, und Anouk nahm ihre Rolle ohne Widerstand an.
»… Sie ist einfach etwas überarbeitet … Nein! … Ja … Okay … Bis bald!«
Anouk ahnte, dass sie gerade eben nicht Josi angeschrien hatte, sondern ihren Chef. Das war nicht gut. Gar nicht gut.
Francisca konnte es sich erlauben, morgens nett zu sein, weil sie nicht zu den Eulen unter den Menschen gehörte, sondern zu den ausgeschlafenen Lerchen. Sie stand unter der Woche immer um halb acht auf, und zwar sofort nach dem ersten Weckerklingeln, dann schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und war wach. So richtig wach – mit offenen Augen und Ohren, die Beine voll einsatzfähig – da war alles schon in Betrieb, während Anouk noch tief träumte. Und dann ihre gute Laune. Wenn sie wirklich eine Vogel-Lerche wäre, würde sie sich wahrscheinlich bei Anouk auf das Fensterbrett setzen und ihr ein Guten-Morgen-Liedchen tirilieren. Zum Glück blieb Anouk das erspart. »War’n das?«, fragte sie.
»Du sollst heute schon um zehn kommen.«
»Um zehn? Das schaff ich nie!«
»Jetzt ist nicht mal acht! Warum sollst du das nicht schaffen?«
Die Wände vibrierten, und die Fensterscheiben klirrten leise. Sie schauten gleichzeitig aus dem Fenster und erhaschten noch ein paar vorbeifliegende Lichter der U-Bahn, die vor ihren Augen wie in einem Science-Fiction-Film davonschwebte. Erst am Kottbusser Tor verschwand sie wieder unter der Erde.
»Weil …« Anouk musste leicht grinsen und bereute es im gleichen Moment.
»Sag mal, ist der Musiker, wie-hieß-er-noch, gestern noch lange geblieben?« Franciscas Stimme hatte diesen gewissen Unterton. »Er ist lange geblieben«, stellte sie trocken fest, als sie keine Antwort bekam.
»Neues Nachthemd?« lenkte Anouk ab, obwohl sie sich keinen großen Erfolg damit versprach.
»Hat mir Joel mal geschenkt. Kennst du doch.«
Vorne war mit weißem Garn Traumfrau draufgestickt.
»Süß«, sagte Anouk und meinte schrecklich.
»Find ich auch. Also?«
»Was also?«
Francisca hatte richtig geraten. Der Musiker war gestern Abend der letzte Zimmerbewerber gewesen. Francisca und Pauline hatten sich verabschiedet und waren schlafen gegangen, weil sie von den letzten Stunden Zimmer-Casting am Ende waren. Anouk dachte, dass er jetzt auch gleich gehen würde, sie hatte sich leicht geräuspert, dann gegähnt, aber er blieb einfach sitzen. Anouk schwieg, er auch, dann schaute sie ihn mehr aus Langeweile mit dem prüfenden Blick einer Frau an, die schon seit Wochen keinen Sex mehr hatte, und er starrte mit dem interessierten Blick eines Mannes zurück, der erkennt, dass ihm eine Frau gegenübersitzt, die seit Wochen keinen Sex mehr hatte. Anouk gefiel seine Direktheit. Nachdem das Schweigen und die Blicke den Zenit der Intensität erreichten, standen beide fast gleichzeitig auf, gingen in Anouks Zimmer und bekamen mehr oder weniger das, was sie erwartet hatten.
»Eigentlich könnte man sagen, er ist immer noch da«, gab Anouk dann doch zu und schlang die Jacke fester um ihren Körper.
Franciscas Gesicht wurde langsam heller – vergleichbar mit einer Energiesparglühbirne, die einige Sekunden braucht, um ihre volle Leuchtkraft zu entfalten. Das war die Vorfreude.
Seitdem Joel ein halbes Jahr in Asien unterwegs war, hatte Francisca nur noch Passiv-Sex. Anouk fütterte sie mit nicht ganz jugendfreien Details, die Francisca wie eine leckere Süßspeise verputzte. Zum Glück würde Joel in ein paar Tagen zurückkommen. Anouk wusste langsam nicht mehr, wie sie den eigentlich immer gleich ablaufenden Hergang beschreiben sollte und dabei den romantischen Aspekt, der Francisca viel mehr interessierte, der aber nie vorhanden war, für ihre anspruchsvolle Freundin trotzdem in eine spannende Geschichte verwandeln sollte. Und jetzt war es einfach noch zu früh. »Ich erzähle dir später alles.«
Anouk öffnete ihre Zimmertür und wollte sich verdrücken, aber Francisca schlich schnell auf Zehenspitzen neben sie und spähte auf das Bett. Da lag er. Zusammengerollt wie ein nackter Hund, die Augen geschlossen. Gerade, als Francisca den Daumen hochhielt – sie hatte ein paar Zentimeter seines weißen knackigen unbehaarten Hinterns entdeckt – und Anouk angrinste, als hätte sie den Hauptgewinn im Lotto gewonnen, was definitiv übertrieben war, schlug der Golden Retriever seine braunen Augen auf und starrte überrascht in zwei Mädchengesichter, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
An Francisca war alles rund – Gesicht, Augen, Nase –, und an Anouk alles schmal und kantig. Francisca war einen Kopf kleiner als Anouk und trotzdem genauso schwer. Anouk hatte es aufgegeben, mit ihrer besten Freundin über ihre eigenen Gewichtsprobleme zu sprechen. Nur als Francisca vor kurzem wieder einmal jammerte, dass sie zu dick war, konterte Anouk aufgebracht: »Sei froh, dass dein Hintern gepolstert ist! Kannst du dir vielleicht vorstellen, wie scheiße es ist, immer auf Knochen sitzen zu müssen?«
Seitdem klagte Francisca nicht mehr über ihre Speckröllchen. Dafür kaufte sie gestreifte Sitzkissen, die gab es im Sonderangebot im Supermarkt, und bestückte damit die Küchenstühle.
»Ich weiß nicht, ob ich jetzt schon mit euch beiden kann …«, sagte der Musiker eine Spur zu selbstsicher. »Aber wir können’s ja mal versuchen. Traumfrau.« Er nickte einladend in Franciscas Richtung.
»Der meint das ernst?«, flüsterte Francisca Anouk zu.
Anouk, überrascht über diesen Persönlichkeitswandel, zuckte mit den Schultern und wartete gespannt, was er als Nächstes machen würde.
»War’n Witz«, murmelte er, schon etwas weniger sicher.
Keiner rührte sich. Die Situation war ungefähr so lebendig wie ein Stillleben auf einem Ölbild.
»Dann geh’ ich vielleicht mal«, sagte er und wartete offensichtlich auf Widerspruch, der nicht erfolgte.
»Klar.« Anouk versuchte erst gar nicht, ihre Erleichterung zu verbergen. »Lass dir Zeit, ich warte draußen.« Endlich fiel ihr sein Name wieder ein. »Johann.«
»Jovan.«
»Genau.«
Sie schloss die Tür von außen, und Francisca formte langsam mit den Lippen: »Du musst mir gleich alles erzählen!«
Anouk nickte resigniert. Während Francisca Kaffee kochte, deckte Anouk den Tisch und wartete ungeduldig darauf, dass Jovan endlich aus ihrem Zimmer kam.
Sie hatte die ganze Nacht mit ihm verbracht, war ihm körperlich so nah gewesen wie nur möglich, hatte Lust empfunden, und nun war von all dem Erlebten nichts mehr übrig. Nichts. Nicht einmal der Rest eines Gefühls. Sie kannte nicht einmal seinen Nachnamen, wusste aber über die geheimen Einzelheiten seines Körpers Bescheid. Eigentlich war es immer so: Anouk empfand das gemeinsame Frühstück am Morgen danach intimer und persönlicher als alles, was sie in der Nacht mit einem Mann gemacht hatte, und versuchte deshalb, es zu vermeiden. In der Beziehung war sie etwas feige. Bisher hatte sie es noch nie geschafft, mit einem Typen zuerst zu frühstücken und dann ins Bett zu gehen.
Es dauerte nicht lange und er kam angezogen heraus. An den grünen Strickpullover konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie fing Jovan im Flur ab und begleitete ihn zur Tür. Ein flüchtiger Seitenblick auf ihn sagte ihr, dass irgendetwas in seinem Kopf schwer nachdachte. Hoffentlich würde er nicht in den nächsten Minuten zu einer Erkenntnis kommen – vor dem Verlassen der Wohnung. Die Klinke schon in der Hand, drehte er sich noch einmal zu Anouk um: »Das Zimmer kriege ich wahrscheinlich nicht, oder?«
Anouk schüttelte den Kopf und gab sich Mühe, nett zu sein. Nett. Sie verabscheute dieses Wort. »Das wäre, glaube ich, nicht so eine gute Idee.«
»Warum?«
»Weil, naja … du verstehst schon.«
Er drückte ihr schnell einen Kuss auf die Wange. »Nein. Aber war trotzdem schön mit dir.«
Dann sprang er die Treppen hinunter, immer drei Stufen auf einmal. Hatte er gerade trotzdem gesagt? War sie Opfer eines Falls von opportunistischem Nach-oben-Schlafen geworden? Dieser Jovan wollte nicht sie, er wollte nur das Zimmer? Und dachte ernsthaft, dass er so an sein Ziel kommen würde? Verunsichert blieb Anouk noch einen Moment stehen und dachte nach. Wahrscheinlich hätte er mit jeder von ihnen geschlafen. Sie war austauschbar. Zufällig die Letzte in der Küche gewesen.
Das war hart. Jovans Verhalten war in ihren Augen so unmissverständlich gewesen – er wollte Sex, und es hatte ihm gefallen. Jetzt stellte sich heraus, dass er nur seine Chancen auf das Zimmer erhöhen wollte. Vielleicht hatte er sich sogar dazu überwinden müssen? Was war in der Nacht echt gewesen und was gespielt? War sein leises Stöhnen echt gewesen, sein Lächeln, als er fest ihre Taille umfasste und sie auf sich zog, sein Kuss, bevor er einschlief? Wem konnte man überhaupt noch glauben? Selbst ein One-Night-Stand war anscheinend viel tiefgründiger, als sie dachte. Sie hatte Jovan unterschätzt. Anouk empfand auf einmal sogar Achtung vor ihm. Sie schloss die Wohnungstür – wieder bestätigt in dem Grundgefühl, sich auf nichts verlassen zu können. Wie so oft in ihrem Leben.
Sie sah Franciscas Gesicht schon vor sich, wenn sie ihr erzählte, dass Jovan sich prostituiert hatte. Francisca würde es nicht lustig finden. Sie hasste es, wenn Anouk aus allem eine Anekdote machte, nur weil sie nicht zeigen wollte, wie nah ihr etwas ging. Anouk konnte ihr hundertmal das Gegenteil versichern, Francisca glaubte ihr einfach nicht und sagte in solchen Momenten zu Anouk: »Weißt du, vielleicht liegt es einfach daran, dass ich dich besser kenne als du dich.« Dabei blitzten ihre Augen.
Manchmal glaubte Anouk, Francisca könnte recht haben. Was sie natürlich nicht zugab.
Im Hintergrund hörte sie Francisca am Telefon sagen: »Josi? Ja, wir haben heute um vier ein Gruppen-Casting. Du kannst gerne vorbeikommen.«
Anouk machte Francisca mit den Händen Zeichen, um ihr zu verstehen zu geben, dass Josi ein No-Go war. Aber Francisca nickte nur zerstreut und gab Josi die Adresse durch. Anouk hatte plötzlich eine Vision: Josi ist eingezogen und weckt sie um sieben, weil sie dringend mit ihr reden muss. Sie hat das Gefühl, dass keiner sie mag. Nur Anouk ist ihre beste Freundin.
Anouk nahm Francisca ohne Vorwarnung den Hörer aus der Hand: »Das Zimmer ist leider schon weg.«
Den folgenden Redeschwall unterbrach sie, indem sie einfach auflegte. »War was Persönliches«, nuschelte sie in Franciscas Richtung und ging zum Bad.
Der Morgen ging so verquer weiter, wie er angefangen hatte.
Jetzt war auch noch das Badezimmer besetzt, und da Francisca immer noch im Flur stand und die Namen auf der Bewerbungsliste durchging, unterstrich und abhakte, konnte es nur Pauline sein, die den Ort der uneingeschränkten Weiblichkeit belegte. Anouk sagte missmutig zur Tür: »Brauchst du noch lange?«
»Zehn Minuten!«
Anouk schlurfte in die unverhältnismäßig aufgeräumte Küche und schenkte sich im Stehen eine Tasse Kaffee ein. Francisca hatte darauf bestanden, dass das oberste Kriterium für die oder den nächsten Mitbewohner Sinn für Ordnung und Sauberkeit war. Zur anschaulichen Demonstration ihrer Ansprüche an die Bewerber hatte Francisca geputzt und aufgeräumt, und auf dem Zettel, der auf dem Kühlschrank mit zwei Smiley-Magneten befestigt war, hatte sie die meisten Bonus-Sternchen gesammelt. Dieses Prinzip der freiwilligen Selbstkontrolle erklärte sie den Bewerbern gerne und ausführlich. Es gab keinen Putzplan. Alles, was hier getan wurde, war freiwillig. Nach der Arbeit durfte man auf dem besagten Zettel Sternchen aufmalen und jede konnte sehen, wer die meisten hatte. Die mit den wenigsten sollte ein schlechtes Gewissen bekommen und anfangen zu putzen. Es musste nicht mehr diskutiert werden. Francisca glaubte an dieses System. Allerdings erst, nachdem jeder Versuch mit einem Putzplan gescheitert war. Nun appellierte sie an den guten Willen ihrer Mitbewohnerinnen – und es funktionierte sogar (einigermaßen).
Das Telefon hörte nun nicht mehr auf zu klingeln. Erst vor zwei Tagen hatten sie die Anzeige ins Netz gestellt und seitdem sechzig Bewerber gehabt, darunter zwanzig Männer über vierzig und zehn über sechzig.
Junge Frauen-WG sucht vierte/n Mitbewohner/in für schönes Zimmer in Kreuzberg, gut gebaut, ca. 15 qm, ordnungsliebend, Nichtraucher, Waschmaschine wäre gut. Keine Tiere, keine Kinder.
Die Männer hatten die Anzeige falsch interpretiert. Der Anrufbeantworter war voller obszöner Anspielungen: »Hallo Mädels, ich hab nicht nur eine Waschmaschine, ich hab auch einen extrem gut gebauten Hammer …«
Sie änderten die Anzeige, und trotzdem wurden die Bewerber nicht weniger. Schon gestern hatten sie sich durch die Gespräche gequält und bisher kein einziges Mal auch nur den Anflug des Gefühls gehabt, es könnte jemand in Frage kommen. Dabei mussten nur wenige Kriterien erfüllt werden.
Der neue Mitbewohner sollte nicht planen, die WG mit seiner Familie zu ersetzen und zusammen kochen, reden oder beste Freunde werden zu wollen (Anouk).
Mann oder Frau – da gab es Differenzen. Francisca und Pauline wollten einen Mitbewohner, um bestimmte männliche Arbeiten verrichtet zu sehen, wie Bierkisten schleppen und technische Geräte reparieren. Anouk war der Meinung, dass sie all diese Dinge selber besser konnte.
Er/sie sollte nicht hauptsächlich Techno, Elektro oder Heavy Metall hören (Pauline, Francisca).
Er/sie sollte nicht vor neun Uhr aufstehen. Ausnahmen gelten (Anouk).
Ordnung und Sauberkeit sind unabdingbar (Francisca).
Waschmaschine mitbringen (alle drei).
Nicht älter als 24 sein (alle drei) – außer er/sie ist berühmt und reich.
War das so schwierig? Anscheinend ja. Sie nahmen sich vor, an diesem Tag rigoroser zu sein. »Der Termin ist zwar erst um vier, aber ich dachte, ich komme eine halbe Stunde früher!«
RAUS.
»Ich habe keine Kinder, aber ich bin schwanger, und mein Freund hat mich verlassen.«
RAUS.
»Ihr seid echt süß, habt ihr einen Freund? Äh … ich meine, hat vielleicht wenigstens eine von euch keinen Freund?«
RAUSRAUS.
»Ich bin bei meiner Freundin rausgeflogen und brauche ganz dringend ein Zimmer. Momentan bin ich arbeitslos, aber ich finde bestimmt bald wieder einen Job!«
RAAUSS!
Nach einer halben Stunde trat endlich Pauline aus dem Badezimmer und setzte sich schweigend zu ihnen an den Tisch. Sie war ein klassischer Morgenmuffel. In der Zeit hatte Anouk schon zwei Tassen Kaffee getrunken und Francisca den groben Ablauf der letzten Nacht geschildert, begleitet von »Ahs!« und »Ohs!« und Franciscas leicht enttäuschtem Blick, als der Bericht schon zu Ende war.
Für Francisca war es nach wie vor unbegreiflich, dass Anouk Sex hatte, ohne verliebt zu sein oder sich wenigstens danach zu verlieben. Schon rein hormonell sei das nicht möglich, meinte sie und betrachtete Anouk als einen biologischen Totalausfall. Wie oft hatte Anouk ihr schon erklärt, dass sie einfach noch nie verliebt war. Zumindest noch nie so richtig. Wieder unvorstellbar für Francisca, die schon im Kindergarten mit Paul, Selim, Levi und wie sie alle hießen hinter der Holz-Spielhütte im Garten heimliche Küsse ausgetauscht und Heiratspläne geschmiedet hatte.
Vor einiger Zeit hatte Francisca vorsichtig gemutmaßt, dass Anouk vielleicht lesbisch war. Ein anderer Grund fiel ihr einfach nicht mehr ein. Selbst Anouk hatte schon darüber nachgedacht, bisher aber keinerlei körperliche Anziehung zu Frauen verspürt und deshalb den Gedanken nicht weiter verfolgt. Francisca bot an, Anouk bei der Entdeckung ihrer Neigungen behilflich zu sein. Anouk war so überrascht, dass sie nicht nachfragte, wie sie das meinte, und es auch lieber nicht wissen wollte. Ihre jahrelange Freundschaft war auf grundsoliden Pfeilern aufgebaut, und Sex gehörte sicherlich nicht dazu. Sie lehnte sofort dankend ab. Das »Zungenkuss-Experiment« mit neun hatten damals beide zwar als entwicklungsfördernd, aber nicht als so inspirierend empfunden, dass sie es wiederholen mussten.
Aber Francisca hatte etwas ganz anderes im Sinn.
Eines Abends war es dann soweit. Sie gingen in einen Club, in dem nur Frauen waren. Die Hälfte von ihnen trug exakt den gleichen Kurzhaarschnitt. Vielleicht bekommen sie Mengenrabatt, machte Anouk sich gerade in Gedanken über sie lustig, als sich eine »Kopfgeldjägerin« im Muskel-Shirt an sie ranpirschte und ihr ins Ohr raunte: »Heute zum ersten Mal hier?«
Im Laufe des Abends begriff Anouk, dass sie an Frauen wirklich nicht interessiert war. Hetero-Clubs waren auch nicht besser, aber Anouk fühlte sich allein unter Frauen an diesem speziellen Ort komplett überfordert. Männer abblitzen lassen, okay – aber Frauen? Wie sollte sie das tun, ohne sie zu verletzen? Schlimmer noch, an diesem Abend spürte sie, dass es ihr egal war, sie zu verletzen. Anouk war, wenn es so etwas gab, eine sachliche Feministin; auf jeden Fall hetzte und beschuldigte sie nicht, sie sah auch die Nöte des modernen Mannes. Ein Punkt ihres sachlichen Feminismus war, sich nicht ständig überall rasieren zu müssen. Ein Drei-Tage-Bart war sexy, aber eine Drei-Tage-Achsel nicht. Anouk nervte die Selbstverständlichkeit, mit der Männer komplette Haarlosigkeit unterhalb der Nasenlöcher einforderten. Oberhalb der Nasenlöcher sollten die Haare dagegen wallend bis auf den Hintern fallen. Anouk fand das absurd.
Sie wollte gehen, aber Francisca war in ein angeregtes Gespräch über Geschlechtsumwandlung vertieft, Gender-Forschung war sowieso gerade ihr großes Thema. Der blondierte Kurzhaarschnitt unterstrich die Sätze mit dem abwechselnden Hochreißen der Arme, nur damit Francisca das Spiel des trainierten Bizepses bewundern konnte.
Der Abend war lang und beschwerlich. Anouk lernte auch interessante und schöne Frauen kennen. Sie tanzte mit einer geschmeidigen Kunststudentin. Aber es fühlte sich falsch an.
Gegen drei Uhr morgens wurden vor allem die Kurzhaarschnitte so aufdringlich, dass Francisca endlich bereit war, das Feld zu räumen. Obwohl sie sich nichts anmerken lassen wollte, war sie ein wenig enttäuscht, und Anouk hätte ihr gerne den Gefallen getan, lesbisch zu sein, nur damit Francisca glauben konnte, dass eigentlich alles mit ihr in Ordnung war.
Ihre »Liebesunfähigkeit« beschäftigte Francisca. Auch, weil sie es als etwas Trennendes zwischen ihnen empfand. Wie konnte sie Anouk erzählen, was sie für Joel fühlte und sich mit ihr austauchen, wenn Anouk nicht die leiseste Ahnung davon hatte, wie es war, verliebt zu sein? Anouk widersprach vehement: »Ein Schauspieler, der einen Mörder spielt, muss auch niemanden umgebracht haben, um zu wissen, wie der sich fühlt.«
Ein seltsamer Vergleich, fand Francisca. Mord und Liebe.
Pauline nippte immer noch schweigend an ihrem Kaffee. Morgens sagte sie meistens keinen Ton. Deshalb schauten Anouk und Francisca sie überrascht an, als sie plötzlich die Stimme hob: »Und? Wie findet ihr’s?«
Francisca musterte sie eingehend, und auch Anouk registrierte jetzt, wovon sie sprach.
»Sieht doch super aus.« Francisca sprach von Paulines Hairextensions. »War das teuer?«
»Nein. Ist synthetisch und nicht geklebt.«