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Dr. Norden Bestseller
– 68 –

Nur verzagen darf man nicht

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-170-6

»Es geht doch schon wieder ganz gut, Frau Arnulf«, sagte Dr. Norden erfreut, als seine Patientin ihm in der Vorhalle der Behnisch-Klinik begegnete.

»Langsam, aber sicher«, erwiderte Elisa Arnulf. »Daß Sie sich die Zeit nehmen, mich abzuholen, finde ich rührend.

»Ist ja kein Weg«, erwiderte er, »und nun wollen wir mal ganz vorsichtig sein.«

Er nahm ihren Arm und hielt sie ganz fest. Sie reichte ihm knapp bis zur Schulter. Ihr graumeliertes Haar war sorgfältig frisiert, er kannte sie nur gepflegt.

Elisa Arnulf war vierundfünfzig, verwitwet und lebte in besten Verhältnissen. Sie besaß alles, was man sich für einen geruhsamen Lebensabend wünschen konnte.

Alles? fragte sich Dr. Norden, als er dann vor dem hübschen Einfamilienhaus hielt, das so gepflegt aussah wie sie selbst. Er wußte schon seit zwei Jahren, daß Elisa Arnulf ein einsamer Mensch war.

»Verstaucht kann schlimmer sein als gebrochen«, sagte sie. »Aber gestaucht hat mich das Leben schon manches Mal.« Sie blickte zu ihm empor. Warme graue Augen hatte sie.

»Jetzt bin ich wieder allein«, sagte sie. »Aber in der Klinik werden die Betten für schlimmere Fälle gebraucht.«

Er hatte wieder ihren Arm genommen. Er begleitete sie bis ins Haus, denn er wollte ihr die Rückkehr leichter machen.

Geschmackvoll und sehr gemütlich war dieses Haus eingerichtet. Es verriet Elisas Sinn für das Schöne, doch alles konnte ihr dieses Heim nicht geben.

Ihren Mann hatte sie verloren, und Kinder hatte sie nicht bekommen können. Eine Zeitlang hatte sie einen Pflegesohn gehabt, aber von dem war sie bitter enttäuscht worden. Er hatte ihr viele wertvolle Dinge entwendet und sich dann aus dem Staub gemacht. Auch das wußte Dr. Norden, deshalb wagte er nicht, ihr vorzuschlagen, doch jemanden ins Haus zu nehmen, damit sie sich nicht gar so allein fühlen solle.

Sie war nicht verbittert, aber scheu geworden. So oft war sie enttäuscht worden in ihrem Leben, daß sie sich immer mehr zurückzog. Sie war zu der Überzeugung gelangt, daß jeder sie nur ausnutzen wollte. Dr. Norden und seine Sprechstundenhilfe Loni bildeten die Ausnahme, und nun bezog sie auch noch Dr. Behnisch und seine Frau Jenny in den Kreis dieser Auserwählten ein.

Sie war gern in der Klinik gewesen und während dieser sechs Wochen mit den verschiedensten Frauen bekanntgeworden, auch mit sehr netten Frauen, aber alle hatten sie eine Familie und konnten gar nicht schnell genug wieder heimkommen.

Auf Elisa Arnulf wartete niemand. »Sie könnten sich doch eine Hilfe ins Haus nehmen, Frau Arnulf«, wagte Dr. Norden nun doch zu sagen.

»Ich komme schon allein zurecht«, erwiderte sie, »ich muß mir nur wieder ein Wehwehchen zulegen, damit ich öfter zu Ihnen kommen kann.«

»Es wäre schon gut, wenn wir das Bein noch öfter kontrollieren«, erwiderte er. »Es war immerhin keine Kleinigkeit.«

»Aber meine eigene Schuld« sagte sie. »Man soll sich nicht aufs Glatteis wagen.«

Nun gab es kein Glatteis mehr. Der Frühling kam. Als Dr. Norden zu seinem Wagen ging, sah er am Wegesrand die Tulpen sprießen.

Wie könnte man ihr nur helfen, dachte er. Und er blickte noch einmal zurück. Es war ein Jammer, daß in diesem schönen Haus kein Kinderlachen erschallte, und daß immer nur eine einsame Frau durch diesen schönen Garten ging.

Er hatte Frau Arnulf geraten, sich doch einen Hund zuzulegen. Ihre Antwort hatte ihn traurig gestimmt.

»Und wenn ich ihn dann auch überlebe, bin ich wieder allein. Ich möchte niemanden mehr sterben sehen, an den ich mein Herz gehängt habe.«

Einsamkeit im Herbst des Lebens mochte wohl das Schlimmste sein. Die Angst, noch mehr Enttäuschungen zu erleben, kam bei Frau Arnulf dazu.

»Darf ich fragen, wie es Frau Arnulf geht?« empfing ihn Loni.

»Dem Bein geht es gut, der Seele weniger. Seien Sie besonders nett zu ihr, wenn sie kommt, Loni.«

»Sowieso«, erwiderte Loni.

*

Es verging eine Woche, bis Frau Arnulf wieder in der Praxis von Dr. Norden erschien. Das Wartezimmer war voll, aber Loni wußte, daß ihr das gar nichts ausmachte, sondern eher willkommen war. Da hörte sie wenigstens mal wieder Menschen miteinander sprechen.

Manche hielten ja auch nur die Zeitschriften vor die Nase, aber diesmal waren zwei Kinder anwesend. Zwei grundverschiedene Kinder.

Sie hatten sich schon ein bißchen ungemütlich gefühlt unter den Erwachsenen, aber es hatte auch eine ganze Zeit gedauert, bis sie sich dann doch zu einer Unterhaltung entschlossen.

»Was fehlt denn dir?« fragte der Junge das kleinere Mädchen.

»Ich habe die Grippe, und du?« fragte sie zurück.

»Ich hab’ es mit den Mandeln. Sie werden gespritzt.«

Mittlerweile hatte sich das Wartezimmer geleert. Nur die Kinder und Frau Arnulf befanden sich noch darin.

Elisa Arnulf wunderte sich, daß man die Kinder allein zum Arzt schickte. Sie hätte das nie getan, wenn sie je Kinder gehabt hätte.

»Warum werden Mandeln gespritzt?« fragte das Mädchen.

»Dann braucht man sie nicht zu operieren, wenn es Erfolg hat. Mandeln haben nämlich auch eine Funktion, sagt Dr. Norden. Wie heißt du?«

»Gaby, und du?«

»Thomas.« Er warf Frau Arnulf einen schrägen Blick zu, aber sie verschanzte sich gleich wieder hinter ihrer Zeitung.

»Habt ihr auch so eine blöde Hausdame, die dauernd zum Friseur rennt?« fragte Thomas nun.

»Was ist denn eine Hausdame?« fragte Gaby.

»Wenn man keine Mutter hat, braucht man eine Hausdame«, erwiderte Thomas. »Leider«, fügte er seufzend hinzu.

»Ich habe eine liebe Mami«, sagte Gaby.

»Und warum läßt sie dich allein zum Arzt gehen?«

»Weil sie arbeiten muß.«

»Warum muß sie arbeiten? Verdient dein Vater nicht genug?« fragte Thomas.

»Ich habe keinen Vater. Er ist tot.«

»Meine Mutter ist nicht tot. Meine Eltern sind bloß geschieden. Aber manchmal ist eine Mutter auch nicht besser als eine Hausdame.«

Elisa Arnulf ließ die Zeitung sinken und beobachtete die Kinder, aber die nahmen keine Notiz mehr von ihr.

»Du kennst meine Mami nicht, du darfst so was nicht sagen«, stieß Gaby aggressiv hervor. »Wie alt bist du eigentlich?«

»Zwölf, und du?«

»Acht, aber dumm bin ich nicht«, sagte Gaby. »Und meine Mami ist sehr lieb.«

»Dann hast du Glück. Mein Papi ist auch lieb, aber er muß ja auch arbeiten. Wir haben ein großes Geschäft. Elektrogeräte. Was habt ihr für einen Fernseher?«

»Gar keinen«, erwiderte Gaby.

»Und was machst du den ganzen Tag?«

»Vormittags gehe ich in die Schule, und nachmittags mache ich Schulaufgaben, bis Mami kommt. Mittags holt sie mich ab und bringt mich heim. Es geht nicht anders. Aber wenn wir beisammen sind, haben wir uns viel zu erzählen. Das ist schön.«

Aber dann stand Loni in der Tür. »Du bist an der Reihe, Thomas«, sagte sie.

Der Junge stand auf. »Kommst du öfter her, Gaby?« fragte er.

»Jetzt nicht mehr. Ich bin wieder gesund.«

»Schade«, murmelte er, »mach’s gut dann.«

*

Gaby saß nun wieder still auf ihrem Stuhl. Elisa Arnulf warf ihr ab und zu einen Blick zu. Es war ein hübsches Kind mit einem blonden Pagenkopf und veilchenblauen Augen.

»War die Grippe schlimm?« fragte Frau Arnulf.

»Ziemlich.« Die Kinderaugen blickten sie dabei erstaunt an.

»Das war ein netter Junge«, sagte Frau Arnulf.

»Ja, ziemlich nett«, erwiderte Gaby. »Viele Jungen sind frech.«

»Mußt du allein nach Hause gehen?« fragte Elisa stockend.

»Mami holt mich ab. Sie können ruhig vor mir drankommen, weil ich noch warten muß. Aber zehn Minuten nach zwölf Uhr ist Mami hier.«

Elisa Arnulf blickte auf ihre Armbanduhr. Es war halb zwölf.

Sie erhob sich etwas mühsam. So recht wollte das Bein noch immer nicht mitspielen, aber das hing auch ganz von den Stimmungen ab. Manchmal brauchte sie einfach eine Rechtfertigung, um Dr. Norden aufsuchen zu können.

Loni war sehr erstaunt, als Frau Arnulf dann erklärte, die kleine Gaby sei einverstanden, daß sie vor ihr an die Reihe käme, denn Loni wußte doch schon genau, daß Frau Arnulf gern bis zuletzt blieb, und sonst anderen den Vortritt ließ.

»Ein reizendes Kind«, sagte Frau Arnulf. Und sie wollte noch mehr sagen, aber da läutete es, und ei-

ne Frau, die ungefähr dreißig Jahre alt sein mochte, trat ein. Als Dame wollte sie Elisa Arnulf nicht einstufen, dazu war sie zu aufgetakelt und ihr Ton zu unverschämt.

»Ist Thomas immer noch nicht fertig?« fragte sie gereizt. »Wozu ist man eigentlich Privatpatient?«

Loni zuckte die Schultern. Aber da kam Thomas schon aus dem Behandlungsraum.

»Endlich«, sagte Ilona Hübner.

»Sie sind doch gerade erst gekommen«, konnte sich Loni nicht verkneifen zu sagen.

»Sie muß sich immer aufplustern«, sagte Thomas, und seine Stimme klang ganz anders, als Frau Arnulf sie vorhin gehört hatte.

»Vergiß nicht, deinem Vater zu sagen, daß ich gern mit ihm sprechen möchte, Thommy«, rief Dr. Norden hinter dem Jungen her.

»Nein, ich vergesse es nicht.«

»Beeil dich endlich. Dein Vater kommt heute zum Essen nach Hause«, sagte Ilona.

Frau Arnulf betrat das Sprechzimmer. »Die kleine Gaby hat mir den Vortritt gelassen«, sagte sie rasch, »und ich habe es angenommen. War das etwa die besagte Hausdame, von der der Junge im Wartezimmer gesprochen hat, Herr Dr. Norden?«

»Ja, das war sie«, erwiderte er seufzend.

»Ich habe in bißchen gelauscht. Die Kinder haben sich unterhalten. Schelten Sie mich nicht neugierig.«

»Auf den Gedanken würde ich nicht kommen.«

»Bei dem Vater des Jungen scheint Geld ja keine Rolle zu spielen, wenn er sich eine Hausdame halten kann.«

»Geld spielt keine Rolle«, erwiderte Dr. Norden nachdenklich.

»Mich interessiert die kleine Gaby. Das Kind ist sich anscheinend sehr viel selbst überlassen.«

»Zwangsweise, Frau Arnulf. Frau Dietrich muß berufstätig sein.«

»Würden Sie mir mehr darüber erzählen? Sie kennen mich jetzt doch schon lange. Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich mich mit der Kleinen doch befassen könnte, wenn sie soviel allein ist. Es ist doch nicht gut für ein Kind, wenn es sich selbst überlassen wird. Sie spricht so lieb über ihre Mami, aber Kinder wachsen heran und kommen vielleicht doch in schlechte Gesellschaft. Es ist ein so besonders nettes Kind.«

»Ja, das ist Gaby, Thomas aber auch«, erwiderte er.

»Aber er braucht nichts zu entbehren.«

»Das will ich nicht sagen. Er hat zwar alles, was mit Geld zu bezahlen ist, aber einen Vater, der wenig Zeit hat, hat er auch.« Er sah sie sehr nachdenklich an. »Was denken Sie, Frau Arnulf?«

»Vor allem möchte ich nicht als vermögende Frau auftreten. Ich würde mich gern der kleinen Gaby annehmen. Es wäre eine Aufgabe. Würden Sie mir etwas mehr über ihre Mutter erzählen?«

»Gern, aber zu einem anderen Zeitpunkt. Frau Dietrich hat nur eine kurze Mittagspause. Sie holt Gaby ab und bringt sie heim. Sie verstehen das sicher, Frau Arnulf. Ich richte es immer so ein, daß das Kind ganz pünktlich fertig ist.«

»Ich komme gern wieder«, erwiderte Elisa Arnulf. »Wann bin ich denn mal nicht gar zu lästig?«

»Lästig sind Sie nie, Frau Arnulf«, erwiderte Dr. Norden freundlich. »Aber am Samstagvormittag habe ich ein bißchen mehr Zeit, weil da nur die Patienten kommen, die ihre Spritzen bekommen.«

Loni wunderte sich, daß sich Frau Arnulf an diesem Tag nicht noch auf ein kleines Schwätzchen bei ihr niederließ, wie sie es sonst meist tat, wenn nicht zuviel Betrieb war. Sie ging mit einem freundlichen Gruß, nicht ohne zu vergessen, Loni schnell noch ein kleines Päckchen auf den Schreibtisch zu legen. Das tat sie immer erst, wenn sie ging und sie wartete kein Dankeschön ab.

Aber diesmal trat sie auch nicht gleich den Heimweg an. Sie ging über die Straße und dort auf und ab. Immer wieder blickte sie auf die Uhr, und es war genau acht Minuten nach zwölf Uhr, als eine schlanke junge Frau im schlichten Lodenmantel daherkam und dann drüben vor dem Haus stehenblieb.

Da kam auch schon Gaby heraus und fiel der jungen Frau um den Hals.

Frau Arnulf konnte nicht hören, was sie miteinander sprachen, aber allein die Gebärde, wie die Mutter die Hand des Kindes umfaßte, wie sich Gaby an sie schmiegte, verriet die tiefe, innige Zuneigung, die sie verband.

Sie kamen jetzt über die Straße. Frau Arnulf wich schnell in ein Geschäft zurück. Es war ausgerechnet ein Tabakwarenladen.

»Entschuldigung, ich habe mich geirrt«, sagte sie zu der Verkäuferin.

»Blöde Kuh«, hörte sie diese noch sagen, und wieder versetzte es ihr einen Stich. Zu oft schon hatte sie erlebt, daß die Mitmenschen unfreundlich, unhöflich und verletzend waren. Zu oft hatte sie Enttäuschung hinnehmen müssen, als daß sie unbefangen nach Gesellschaft, nach einem Gespräch zumindest suchte.

Sie waren erst vor drei Jahren in dieses Viertel gezogen, in das Haus, das genau ihren Wünschen entsprach. Ihr Mann, vierzehn Jahre älter als sie und ein hoher Staatsbeamter, war pensioniert worden und wollte nun einen Garten haben. Sie hatten ihre schöne Stadtwohnung aufgegeben und damit auch die vertraute Umgebung. Aber lange hatte ihr guter Robert den Ruhstand nicht genießen können. Ganz plötzlich war er an einem Herzinfarkt gestorben, bevor sie sich noch richtig eingelebt hatten in der neuen Umgebung.

Solche Gedanken bewegten Elisa Arnulf, als sie ganz automatisch den gleichen Weg einschlug wie Rosemarie Dietrich und ihr Töchterchen Gaby.

In einem Abstand von etwa zehn Metern gingen sie vor ihr her. Gabys bunte Strickmütze tauchte immer wieder zwischen den anderen Menschen auf.

Dann betraten sie plötzlich ein altes graues Haus und waren Elisa Arnulfs Blicken entschwunden. Aber sie betrachtete das Haus. Fünf dieser Art standen nebeneinander, und sie erinnerte sich, daß es schon manches Mal in der Zeitung gestanden hatte, daß die Häuser Neubauten weichen sollten. Hatte man nicht auch geschrieben, daß den Mietern bereits gekündigt worden sei?

Elisas Blicke wanderten an den unansehnlichen Häuserfronten hin und her, aber sie dachte nur, daß hier ein so liebes kleines Mädchen wohnte, das ihr Enkelkind sein könnte.

Sie fühlte sich dann in ihrem Haus mit fünf Zimmern und Nebenräumen doppelt einsam. Vielleicht hatte sie auch manches falsch gemacht, sich zu sehr verschlossen, nach den Enttäuschungen, die sie erlebt hatte. Aber gar zu oft hatte sie erlebt, daß man sie nur als die vermögende alleinstehende Frau ansah, die nur abgeben solle von dem, was sie besaß. Sie wollte ja geben, mit vollen Händen geben, wenn sie dafür nur ein bißchen Liebe erwidert bekäme.

Wie gern war sie vor zwei Jahren bereit gewesen, Peter bei sich aufzunehmen, auch bereit, ihm eine gute Ausbildung zuteil werden zu lassen, voller Mitleid, daß er mit vierzehn Jahren allein dastand und in einem Heim aufwachsen mußte.

Er hatte sie belogen, bestohlen und dann noch verhöhnt. Dann hatte er mit einer Bande auch noch Einbrüche begangen, und seither wurde sie von den Nachbarn gemieden, weil es ja bekannt geworden war.