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Leo Tuor, geboren 1959, verbrachte vierzehn Sommer als Schafhirt auf der Greinahochebene. 1989–2000 Arbeit an einer sechsbändigen Werkausgabe des rätoromanischen Dichterfürsten und Historikers Giacun Hasper Muoth. Leo Tuor lebt in Val. Er schreibt Erzählungen, Kurztexte und Essays, sie wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schillerpreis und dem Hermann-Lenz-Stipendium.

Claudio Spescha, geboren 1971 in Chur, studierte Romanistik in Zürich und Montpellier, lebt in Zürich und arbeitet als Bundeshauskorrespondent von Radiotelevisiun Svizra Rumantscha RTR. Er war Mitorganisator der Dis da litteratura a Domat, der rätoromanischen Literaturtage in Domat/Ems. Literarische Übersetzungen für Leo Tuor und Gion Mathias Cavelty. Claudio Spescha ist Mitglied im Stiftungsrat der Schweizerischen Schillerstiftung.

LEO TUOR

CAVREIN

Erzählung

Aus dem Rätoromanischen
von Claudio Spescha

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Anmerkung des Übersetzers

Das Rätoromanische kennt kein spezifisches Jagdvokabular, die Übersetzung verzichtet deshalb auch im Deutschen auf Begriffe, die sich nicht von selbst verstehen und verwendet allgemeine Bezeichnungen auch da, wo es jagdsprachliche Ausdrücke gäbe (etwa «Schweiss» für «Blut», «Träger» für «Hals»).

Behalte mich in guter Erinnerung und
nimm meine Meinungen nicht für
bare Münze. Schreib auf, was wir so getrieben
haben und erfinde einiges hinzu.

Tintan

Willst du ein Tal in all seinen Einzelheiten kennen lernen, einen Berg mit seinen Hängen, Felsen und Halden, mit seinen Nasen und Köpfen, seinen Tobeln, Tiefen und Winkeln, so mach dich auf die Jagd nach dem Steinbock und geh ins Hochgebirge. Es lebe dort ein eigentümlich gebildetes Tier, soll Polybius laut Strabon gesagt haben, hirschähnlich von Gestalt, abgesehen vom Hals und von der Behaarung (die seien dem Eber ähnlich), und unter dem Kinn habe es einen etwa spannenlangen an der Spitze behaarten Knochen, so dick wie der Schwanz eines Fohlens.

Unsere Dichter haben dieses Tier «Macun» genannt. Dieses Tier, an dem wir nicht mehr eine Mischung aus Hirsch, Eber und Fohlen mit dem Kinn eines Tutanchamun ausmachen, sondern nur noch seine riesigen Hörner mit den unendlichen Reihen von Wülsten und einen Knoten unter einem Bauch auf kurzen kurzen Beinen.

Wenn du nicht diese Krankheit der Männer hast, wenn du nicht unbedingt in den ersten Tagen schon eine wilde Geiss erlegt haben musst, ja, wenn du sogar in Kauf nehmen willst, nichts zu schiessen und als schlechter Jäger dazustehen, dann stell ein Gesuch für Cavrein oder Russein. Dorthin lassen die Wildhüter nicht jeden gehen. Jägern geht es schnell an ihre Männlichkeit, sie fühlen sich kastriert, wenn sie keine Beute machen. Und der Kanton kann es sich nicht leisten, dass seine Männer schlapp machen, umso weniger als die Zahl der Impotenten unaufhörlich steigt, wenn man den Patientenstatistiken aus der Psychiatrie Glauben schenken kann. Im Übrigen gibt es ja genug Möglichkeiten, in Pantoffeln halbzahme Böcke abzuknallen.

In Russein haben die Steinböcke ihren Stolz und ihre Wildheit ganz und gar bewahrt. Hier bilden sie sich in ihren fettgepolsterten Schädeln noch ein, kein Jäger könne sie jemals erwischen. Es sei denn, einer dieser Griesgrame beschliesse, trotz des abschüssigen Geländes, das die Tiere unweigerlich in den Abgrund reisst, eines abzuknallen, um ruhmbedeckt mit einem Sack Brei auf dem Rücken nach Hause zu stolpern und sich einzubilden, er stehe mit seiner Flinte über Bock und Berg.

Wenn du also den Mut hast, in diese rauen Täler zu gehen, so geh. Du wirst neue Leute und sagenumwobene Tiere kennen lernen: den Steinbock, den goldenen Stier und vielleicht auch den Vogel, der nicht wie Phönix aus dem Weiss der Asche steigt, sondern aus dem Rot des Schlamms, den Vogel, den die alten Jäger auch den «Barboter» nannten. Schon Plinius erzählt von einem Adler, quam barbatam vocant, und den die Etrusker den Knochenbrecher genannt hätten. Die Ornithologen behaupten, er fliege mit den Knochen, die er nicht brechen könne, in die höchsten Höhen hinauf, um sie auf die Steine fallen und zerbersten zu lassen. Ähnliche Geschichten erzählen auch die Lateiner. Sie berichten von einem Adler, der Ententöter genannt werde. Dieser Adler zerschmettere Schildkröten, indem er sie von ganz weit oben herunterfallen lasse. Von einer solchen Schildkröte wurde der Dichter Aischylos erschlagen: «Aischylos sass auf einem Felsen und machte sich seine Gedanken und Notizen. Er hatte eine Glatze, und so hielt ein Adler seinen Kopf für einen Stein. Er liess die Schildkröte, die er zwischen seinen Krallen hielt, fallen. Diese traf den Dichter und erschlug ihn.»

Doch jetzt zu den neuen Geschichten, auch wenn wir das alte Jägerlatein nicht zu weit beiseiteschieben wollen.

I

In einer etwas sumpfigen Ebene, zwischen zwei Steinbrocken so hoch wie sie selbst, steht die Hütte von Cavrein Sura. In dieser wohl geräumigen, aber feuchten Baracke habe ich meinen Jagdplunder verstaut und den Proviant für zwei Wochen. Ausgebreitet auf dem Tisch liegen Messer, Taschenlampe, Uhr, Stirnband, Barometer, ein Foto von meiner Frau mit den Buben und der Wittgenstein. Der Kamin ist ausgebrannt, der Herd macht nur Rauch, die Kleider, mein Kamerad Marad, der mit mir heraufgekommen ist, und ich riechen sofort nach Maiensäss. Neben der Hütte, zwischen den Steinen, gibt es ein Klo aus Wellblech. Hinter einem Felsbrocken stehen die Grundmauern der alten Hütte, in der Placidus a Spescha auf seinen Touren im Tödigebiet mehrmals nächtigte, so auch Anfang August 1788, auf dem Weg zum Stoc Grond. Cavrein ist eine Alp des Klosters Disentis.

Von Cavrein Sura aus kann man sich für die Val Gronda da Cavrein entscheiden. Oder aber für die Val Cavardiras oberhalb der Val Pintga da Cavrein und dann in die Val Surplattas hinaufsteigen. Drei Täler, eines über dem anderen gelegen. Die ersten beiden führen von Westen nach Osten, Surplattas von Norden nach Süden. Jeder Jäger wird am ersten Tag in die Val Gronda gehen. Er wird frühmorgens in der Dunkelheit die kalte Hütte verlassen und sich durch all die Steinmassen hindurchschlängeln, durch diese Lawinentöter, die die letzte Baracke des Klosters beschützen, eine luxuriöse Hütte für das 19. Jahrhundert, eine Rheumahöhle, wenn man heutigen Komfort gewohnt ist.

An einem der ersten Oktobertage kommen also zwei Männer daher, eher klein, aber guten Mutes. In der Morgendämmerung zwischen den Felsen von Cavrein stapfen sie durch die Alpenrosen, gelangen auf einen flachen Hügel mit Höckern und Heidekraut, gehen leicht abwärts gegen fettes Weideland hin, gemischt mit schmatzendem Sumpf, weiter ins Tal hinein auf dem schlängelnden Pfad bis zum ausgetrockneten Bett der Val da Cadavers, um sich dann zwischen die Felsbrocken zu legen und die Gegend mit dem Feldstecher abzusuchen, Speck kauend und Kaffee trinkend und sich immer mehr Kleider überziehend, bis zehn Uhr, wenn die Sonne kommt, das Tal erwärmt, für andere Winde sorgt und die letzten Nebelreste verscheucht. Von Steinböcken keine Spur. Das Tal wie leer gefegt. Weit, weit oben, rechts von den Curtins, reckt sich eine schwarze hornlose Gemse, am Kopf nur zwei Zapfen.

Es wird warm, die Fliegen surren, die Luft flimmert, es wird Mittag, es wird zwei, dann drei, dann vier, es wird Abend, es wird Nacht: der erste Tag.

II

Heute wollen wir Steinböcke sehen.

Plinius sagt, Steinböcke seien von einer bewundernswerten Gewandtheit, obwohl ihr Kopf mit ausladenden Hörnern, vastis cornibus, beladen sei, die aussähen wie Säbelscheiden. Mit deren Hilfe nähmen sie Anlauf, um wie Geschosse über die Felsen zu fegen, besonders, wenn sie von einem Berg zu einem anderen hinüberschiessen wollten. Und wenn sie wieder festen Boden unter den Füssen hätten, schnellten sie nur umso leichtfüssiger hoch, wo es ihnen gerade beliebe.

Chur sagt, es gebe vier Arten von Steinböcken und teilt sie in Buchstaben, Tabellen und Klassen ein, als wäre man in der Schule. Dieses Latein klingt dann so:

a) Jugendklasse A

Böcke 1 bis 2

25- bis 29-jährige Jäger

b) Jugendklasse B

Böcke 1 bis 3

30- bis 44-jährige Jäger

c) Jugendklasse C

Böcke 4 bis 5

45- bis 54-jährige Jäger

d) Mittel- & Altersklasse

Böcke 6 bis 10 und 11+

55-jährige & ältere Jäger

Es ist nicht logisch, Steinböcke in drei Jugendklassen einzuteilen und den ganzen Rest auf einen Haufen zum alten Eisen der Jäger von 55 bis 100+ zu werfen. Die Jagd kennt keine Logik. Es gibt Köpfe, die das Latein von Plinius verstehen, und es gibt Köpfe, die das Latein von Chur verstehen. Was der Steinbock verstehen würde, wissen wir nicht. Er ist der König der Alpen, wie der Löwe der König der Tiere ist. Wittgenstein: Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen. Dasselbe gilt für den Steinbock. Wir könnten ihn nicht verstehen. Wenn wir, die wir in den Tälern mit den Steinböcken leben, nicht imstande sind, diese zu verstehen, wie sollten wir dann jene verstehen, die in den Büros leben und Tabellen machen?

Das Tamtam mit den drei Kolonnen wird nur bei Böcken gemacht. Und von Jägerinnen ist in der dritten Spalte auch nicht die Rede. Die Männerwelt, schwanzgesteuert und hornfixiert, macht mit Geissen und Jägerinnen kurzen Prozess. Immerhin muss der Jäger zuerst eine Geiss erlegen, bevor er endgültig das Symbol des Kantons stürzen darf.