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Isolde Schaad, geboren 1944 in Schaffhausen, lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Zürich. Zahlreiche Studienaufenthalte in Ostafrika, Nahost, Indien. Gastautorin einer amerikanischen Universität. Ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Im Limmat Verlag sind zuletzt erschienen: Die Romane «Keiner wars» sowie «Robinson und Julia» und der Essayband «Vom Einen. Literatur und Geschlecht. Elf Porträts aus der Gefahrenzone».

ISOLDE SCHAAD

AM ÄQUATOR

DIE AUSWEITUNG DER GÜRTELLINIE
IN UNERFORSCHTE GEBIETE

Erzählungen

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Inhalt

Heftige Winde

Erhöhte Temperatur

12 000 Kilometer Nabelschnur

Unmässige Klimazone

Sammelgut am Wendekreis

Endlich Sri Lanka

Am Äquator and beyond

So nah und gedankenlos nah
waren wir nie dem nackten Geschehen …

Botho Strauss

Vorneweg

Der Äquator ist ein Faszinosum, das man nicht sieht. Das ist fatal, denn er ist der Leibesumfang der Erde, und man wundert sich, dass unser Planet nicht längst geplatzt ist, wenn siebeneinhalb Milliarden auf ihm herumkraxeln, in dichter Tuchfühlung der Ballungszonen. Die Aussicht auf den Gesamtkollaps besteht nicht nur durch die rasante Zunahme der Erdbevölkerung selber, sondern durch die Ausweitung jeder einzelnen Gürtellinie von Stockholm bis Kapstadt.

Der Äquator ist unsichtbar, weil wir ihn nicht sehen wollen. Die Zustände, die in seinem Umfeld herrschen, haben wir ins innere Verlies gesperrt. Wir halten die vor Hunger geblähten Bäuche in Afrika, Asien und Lateinamerika für eine zwar traurige, aber bereits triviale Wahrheit, für die Jean Ziegler zuständig ist; seinem Job können wir nur ein Nicken beifügen, so weit ist unser Zynismus inzwischen gediehen. Wir widmen uns lieber unserm höchstpersönlichen Äquator, der steht uns nahe, der ist im Unterschied zur planetarischen Gürtellinie täglich sichtbar, allzu offensichtlich ist er, sodass wir seiner Erscheinung je nach Epoche und Zeitgeist Namen und Rang verleihen, im 19. Jahrhundert hiess er Embonpoint und war ein Statussymbol des betuchten Bürgers, Mitte des 20. Jahrhunderts nannte man ihn schon abschätzig Pirelli(-pneu), proletarisch Blunze, Ranzen, Wampe usw. Nun ist der wachsende Wanst ein Thema der Welternährungskonferenz. Weil er keine Zierde des Wohlstands mehr ist, sondern, besonders bei Jugendlichen, ein Armuts- und Entfremdungssymptom.

Dass der Planet aus allen Nähten platzt, oben vor Überfluss, unten vor Mangel, Manko, Marasmus, haben wir als globale Norm abgehakt. Nicht einmal eine Folterstatistik kann uns noch aus der Fassung bringen; lesen wir von den Greueln, die die Unverhältnismässigkeit der Welt unterwegs anrichtet, im Verlauf der unaufhörlich flutenden, nicht abreissenden Migrationsströme von Süden nach Norden, sind wir einen Moment lang empört, um uns dann erneut dem Kreuzworträtsel oder dem Sudoku zuzuwenden. Von Ethik reden nur noch die einschlägigen Kommissionen, während die Pfarrer ihre bleichen Hände zum Gebet über der gewölbten Soutane falten, wo sich so manches verbirgt – das Fehlbare des Menschen, das Menschliche eben.

Wir sind unsere eigene Nabelschau geworden, die sogenannte Selbstoptimierung ist schon fast Pflicht, die Fitnesswerbung und Gesundheitsindustrie verrichten das ihre, während die Chirurgie den letzten Eingriff plant. Und alle drei tun sich unermüdlich an uns gütlich.

Neuerdings sagt die neurophysiologische Forschung: Unsere Gürtellinie liegt näher bei Grosshirn, Cortex und Hippocampus, als uns lieb ist, sie ist meistens der Entscheidungsträger, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Nicht nur bäuchlings, als robbender Säugling, sondern auch im aufrechten Gang sind wir – das ist wissenschaftlich mittlerweile erwiesen – dem Bauch mehr verpflichtet, als wir bisher angenommen haben; die ratio schmiegt sich dicht an die emotio, wenn sie entscheidet. Im Bauch spielt sich unser Wünschen, Wagen und Zagen ab und fügt, je älter wir werden, zum Wollen das Wägen hinzu. Den Befehl erhält er zwar aus dem limbischen System in der hinteren Schädelschlucht, die Affekthandlung aber übt er selber aus. Was wäre daraus zu schliessen?

Es ist der Bauch, der unsere Geschichte erzählt, er ist der zu- und abnehmende Mond der Agenda. Die Bauchsteuerung ist das GPS, und das Ergebnis lagert sich im Laufe der Jahre an uns ab. Wird zu Lagerfett, und da fragt sich schon, ob das zu etwas gut sei. Bedenken wir, dass eine gewisse Polsterung die notwendige Distanz zwischen uns und den Mitmenschen schafft, den unsere Raubtiernatur sonst verschlingen würde.

Könnte es sein, dass das Fett, das wir loswerden wollen, erst recht und eigentlich unserem Selbstschutz dient? Damit wir nicht jeden Tag auf jeden und jede losgehen? Vielleicht handelt es sich bei dieser satten Dichtung unseres Privatäquators um eine höhere Massnahme zur Erhaltung des Weltfriedens? Bestimmt ist sie die softere, die angenehmere und noch dazu günstigere Variante einer leiblichen Panzerung, verglichen mit dem groben Geschütz, das die Supermächte jeweils auffahren lassen, wenns anderswo brennt. Der Wulst um uns, der Speck in uns haben also eine Existenzberechtigung, sogar eine strategische Funktion. Machen wir also Frieden mit ihnen, und bedenken wir, dass der Bauch unser ständigster Begleiter ist, dabei treu wie unser Kopf niemals war.

Mein Bauch gehört mir: Das scheint ein stichhaltiges Argument zu sein, der Slogan, der die Abtreibungskampagne der Siebzigerjahre antrieb, hat sich längst selbständig gemacht. Man kann diese Optik für obszön halten, man kann Argumente dagegen auffahren, wenn alle vier Minuten ein Kind auf dieser Welt an Hunger stirbt. Darauf lässt sich in verschiedenster Weise ant worten. Jede Antwort hat ihre Berechtigung. Sie ist dann immer eine Geschichte für sich.

Sieben Erzählungen führen unsern Bauch aus, diese empfindsame, unergründliche Gegend. Von Norden nach Süden, mit einem Abstecher nach Westen, und man wird feststellen, dass dieser Bauch, je näher er dem geografischen Äquator kommt, und besonders, wenn er ihn überschritten hat, aufgeregt, fast ekstatisch nach Bedeutung heischt. Denn das sei Weltgeschichte, was dort unten abgeht. Will er sich wichtig machen? Mal sehen, wie er sich liest, wenn er in die Sätze kommt.

HEFTIGE WINDE

Er und ich – eine alte Geschichte, aber wer hätte die nicht? Auf gut Deutsch hat jede und jeder eine, sagte man mir, und eine wie ich sowieso. Dabei hatten wir für eine Geschichte gar keine Zeit, da wir in einem drastischen Migrationsschub aus Nowosibirsk in den lauwarmen Westen gespült worden waren, hier kamen wir mit klammen Fingern erst recht auf die Welt. Wohnungssuche und so, das hat gedauert, seither leben wir unzertrennlich im Grünen. Da ist pure Gegenwart, durch nichts bewegt ausser dem Staubsauger der Nachbarn. Das, was wir leben, sitzt tief: eine fatale Symbiose, die nur der Tod scheiden kann. Das letzte Pfand der Ostkirche, das uns bleibt, ausgenommen die kleine Ikone, die über meinem Nachttischchen hängt.

Immerhin verfügt unser solides Verhängnis über eine Sonnenterrasse, das muss eingeräumt werden. An milden Frühlingstagen schweigen wir gemeinsam, und es kommt vor, dass ich meine Hände österlich auf ihm falte, das mag er, gurrt oder gluckst zufrieden, und ich atme auf, weil wir unter uns sind. In Gesellschaft bringt er mich manchmal ganz schön ins Schwitzen.

Er pocht nämlich überall auf sein Recht auf Dasein und Verbleib, während ich ihn zum Verschwinden bringen will. Wollte, denn allmählich treten wir in den Stand der Duldung, und vertragen uns sogar im Nahkampfgebiet der Dreizimmerwohnung, für andere Leute eine Strapaze. Das Badezimmer ist unser einvernehmlichster Ort. Dort werden ihm wohlriechende Lotions verabreicht und nach der Dusche sanft kreisend einmassiert. Wenn er dann noch nicht ruhiggestellt ist, kneife und knubble ich ihn, und er antwortet mit einem friedlichen Brummen. Nachts, nach dem Lichterlöschen ist er oft sehr nervös, und da ich weiss, dass seine Nervosität von Ängsten herrührt, die ich zwar nicht nachvollziehen kann, ihn aber entlasten möchte, karessiere ich ihn in den Schlaf.

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Zunächst war unsere Zweierschaft in der Fremde ein Fall von Prostitution: Er arbeitete ausschliesslich für mich, er schaffte an, tat in stiller Demut seine Pflicht, solange ich ihn mit milden Gaben belohnte, Yoghurt und Kartoffelpuffer mochte er am liebsten, und ein Stück Quarktorte light zum Nachtisch. Dann folgte eine Epoche, die unser Verhältnis zurückwarf in eine finstere Vergangenheit, als es auch in Europa Leibeigenschaft gab, und so kam es, dass ich ohne die geringste religiöse Berufung zu fasten begann, um mich von ihm zu befreien. Ich fastete, bis ich Magenkrämpfe bekam und mich der Hausarzt zu einem Internisten schickte, mit Verdacht auf Divertikel. Dieser Fachmann war ein sportlicher Typ, ein Rheinländer aus Köln, nun, ich hab eben erst spät begriffen, dass die meisten Schweizer vom Fach eigentlich Deutsche sind. Der Internist trug statt des weissen Kittels einen hellblauen Jumpsuit und gab sich ungezwungen, während er mit der Maus, die durch eine Schnur mit dem Monitor des Ultraschallgeräts verbunden war, auf meinen Eingeweiden herumfuhr. Dabei prüfte er die Schummerlandschaft, die wie ein Wunder auf den Bildschirm trat, mit dem Blick des passionierten Schmetterlingssammlers, worauf die Diagnose erfolgte. Ich hatte eine Predigt wegen meiner undisziplinierten Ernährungsweise erwartet, der Internist aber schien zufrieden mit dem, was er sah.

– Sehen Sie, wie schön sich das Rektum an den Kolon schmiegt, perfekt –, sagte der Rheinländer, während ich auf die unappetitliche Verschlingung meines Darmtrakts starrte. – Was für eine Zumutung wir Menschen doch sind –, lispelte ich, dann wandte ich mich direkt an den Diagnostiker: – Stellen Sie sich vor, unser Innen wäre unser Aussen! Und die gesamte Bevölkerung bestünde aus einem gigantischen Fleischröhrengewirr, das sich nach Büroschluss durch die Strassen wälzt – eine einzige kilometerlange Monsterkrake. – Worauf der Hellblaue sich erkundigte, ob ich je an Kinderkrankheiten gelitten hätte, ob Depressionen in unserer Familie vorlägen, und derlei Unannehmlichkeiten. Ich versah ihn mit einem unwirtlichen Blick: – Machen Sie vorwärts, Mann, ist da etwas, oder ist da nichts? – Der Hellblaue schüttelte den Kopf, setzte sich, zückte den Kugelschreiber und schrieb mit grossen Schlenkern ein Rezept. Dann stand er auf, komplimentierte mich zur Türe mit den Worten: – Organisch kann ich nichts Auffälliges an Ihnen finden. Auf Wiedersehen. –

Auf dem Heimweg war alles wie vorher. Der Meinige schwieg, und ich sah, dass er schmollte. – Ich stelle fest, du bist ganz der Alte. –

Die Besänftigung galt eher mir als ihm. Trotz meines Fastens, das sich am falschen Ort bemerkbar machte, war er kein Jota von meinem Nabel gewichen. – Was hältst du von einer Paartherapie? –, fragte ich; da gab er ein paar despektierliche Laute von sich. Von Gleichstellung zwischen uns konnte keine Rede sein.

Er fühle sich eben wohler beim XY-Chromosom, bemerkte eine Freundin mutwillig, als ich ihr mein Problem mit ihm gestand. Was für ein Augenöffner, nickte ich, das muss eine einverschworene Männerfreundschaft sein. Dass er beim Manne sein natürliches Zuhause fand, kann man rundherum erkennen.

Ich ging über die Bücher. Hatte nicht weiland schon Julius Cäsar in Rom beleibte Männer für seinen Hofstaat reklamiert? Dem Patriarchat hat er ein paar Jahrhunderte lang zu Wohlstand und Respekt verholfen, je wohlhabender der Inhaber, desto mehr tat er sich hervor. Während einer vornehmen Ära sprach er ausschliesslich Französisch und nannte sich Embonpoint, später machte er sich an der Frontseite der Industriegesellschaft stark. Wen diese mit einer goldenen Uhrkette ausstattete, mit Spazierstock und senkrechtem Rückgrat, der galt als ein Herr.

Nun aber sind die Tage des Herrn gezählt; und wer auf sich hält, entlässt ihn fristlos und ohne Abfindung. Er hat sich unfreiwillig aus den Bildungsschichten verabschieden müssen, ohne eine vorauseilende Revolution. Die reiche Freizeitgesellschaft hielt ihn ein Vierteljahrhundert im panzerglasgesicherten Fitnessraum gefangen, bevor sie ihn dem hauseigenen Masseur auslieferte, der sich brachial über ihn hermachte, ihn mit Fäusten traktierte und dann in den Whirlpool schmiss, um ihn loszuwerden. Zeugen waren unerwünscht, man kennt das, wenn von Ausschaffung die Rede ist, er bekam keinerlei behördlichen Beistand. So wurde er vorübergehend heimatlos, bevor er sich in den untersten Schichten, dem sogenannten Prekariat, niederliess.

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Eines Tages wurde auch ich eine Gefangene des Prekariats. Denn ich, Olga Jawlenka Kartowa, pardon, ich vergass mich vorzustellen, also ich verlor meine Anstellung als erster Balletteusenersatz im Opernhauscorps, man warf mir schwache Knöchel und schwache Nerven vor, und als Olga aus Nowosibirsk hatte ich nichts anzubieten, was das fort- und fortdauernde Ballerinengeflatter sonst hätte stützen können. Anderseits war ich als Tänzerin schon zu sehr von meinem Russischsein entfernt. Umso mehr war ich nach meiner Entlassung in psychisch labiler Verfassung. Darben musste ich zwar nicht, ich konnte beim Arbeitsamt stempeln gehen, doch das Geld ging fast ganz in den Lustbarkeiten auf, die ich wie Stapelfood anschaffte, Kaviar dosenweise, Blinis, Senffrüchte und Trüffel, Wildlachs, dazu Macarons in vielen fröhlichen Farben. Es heisst ja nicht zu Unrecht, dass russische Tänzerinnen zu Bulimie neigen. Ich aber revanchierte mich bei meinem Gespons statt bei diesem grössenwahnsinnigen Opernhausvorstand, der in seiner Allmacht alle und alles kaufte und verkaufte. Dennoch konnte ich für diesen Popanz keinen Hass empfinden, weil Hass aus der unmittelbaren Nähe entsteht. Er aber hat nicht mal die Namen derer gekannt, die er geschasst hat; erst kürzlich wurde der Mann endlich dorthin berufen, wo er aufgrund seines Charakters hingehört, nämlich in den Vatikan. Die brauchen dort mehr opernartige Auftritte. Für mich kam das zu spät. Unser Verhältnis war schon zerrüttet. Dass ich statt den eigentlichen Verursacher meiner Frustration den Meinigen abgestraft habe, nennt man, glaube ich, eine Projektion.

Man hätte annehmen können, dass ich als Mensch mit Kinderstube die ausgesuchten Leckereien zu kosten wusste, stattdessen war meine häusliche Revanche ohne Genuss und Kultur. Als die Delikatessen alle waren, begann ich wahllos in mich hineinzustopfen, Instantfood oder direkt aus der Büchse; er jammerte, erneut ein Opfer meiner Willkür zu sein, das klang, als entziffere er eine Partitur dieses Neutöners Giörgy Ligeti, den sie jetzt überall aufführen, vielleicht tönt es jedoch für Eingeweihte eher wie Stockhausen, der ist schon länger da, dabei der reinste Sisyphus, der fängt ja immer wieder von vorne an, und der hört nicht auf.

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Peristaltik nennen sie es – was für ein blasses, realitätsfernes Fremdwort für ein äusserst dramatisches Geschehen. Bekanntlich sucht die Medizin im Lateinischen eine Ausflucht, wenn sie nicht weiterweiss. Er aber hielt durch, allen Respekt, dachte ich im Stillen, ich wusste um seine Selbstachtung, die erst in der schwersten Stunde nachlässt. Diese Stunde kannte ich nicht, ich wusste bloss, irgendwann würde Schluss mit Futtern sein, er würde streiken, angefüllt bis obenhin, wie wir waren. Vollgepropft bis zum Schlund am Ausgang der Speiseröhre mit einem Geschlicke, das zu transportieren er sich weigern würde. Es geschah zum ersten Mal an jenem Sonntag, der ein erster April war, und ich erkannte auf Anhieb: Ein Scherz war es nicht.

Das natürliche Gleitmittel hatte versagt, der Speichel alle Reste von gestern, vorgestern und jenseits der Milchmädchenrechnung, angereichert mit Fetzchen von Staniolpapier, Gummibärchen und Spearmint, unzureichend verflüssigt, Saucen und Sugoreste verstopften zusätzlich den Weg, den die kalte Pasta hätte nehmen sollen, die ganz allein unterwegs war, da die Blutspur aus roten Beeten ihr vorausging, statt sie zu begleiten, also duckte sich die Pasta, nackt wie sie war, in mich hinein und liess sich in den Biegungen meines Entsorgungskanals nieder, im Dunkel schien es ihr behaglich, sie blieb dort für Tage und Wochen, ohne Absicht, mich jemals zu verlassen.

Ich schleppte mich also wieder zum Arzt, unterdessen war ich an das HMO-System angegliedert worden, denn im Prekariat wird man vom Individuum zum Fall.

Das Wartezimmer war voll. Als ich endlich aufgerufen wurde, sprach ich deutsch und deutlich von meinem Leid. Worauf mich der diensttuende Weisskittel erstaunt ansah. – Reden Sie ruhig Mundart, ich stamme aus Münsingen, Kanton Aargau. –

– Was für eine Überraschung –, sagte ich, leider verstehe ich kein Aargauisch, wissen Sie, wir sprechen Deutsch in Aggloland, worauf er die Mundwinkel nach oben ausklinkte, das hiess: kapiert. Dann hievte mich der mehrfach Diplomierte kurzerhand auf eine Liege, versah die Sprechstundenhilfe mit der Anweisung «Bereitschaft zum Anschnallen», während er unter mir eine Spanne Küchenpapier ausrollte. Als er mich halbnackt darniederliegen sah, lichtete sich sein Ausdruck, und ich konnte den Gedankengang des Aargauers bis auf die Zungenspitze vordringen sehen. – Ich weiss, was Sie denken –, sagte ich kühn. – So? Sie sind ja eine Neunmalkluge, bloss sind die Verhältnisse –, er verschluckte den Rest des Satzes und hantierte weiter. – Machen Sie vorwärts mit den Verhältnissen, sie sind für einen plattgewalzten Appetithappen wie mich erniedrigend, das wollten Sie doch sagen –, entgegnete ich ärgerlich. Er hielt ein, wandte sich einen Moment lang ab und murmelte hinter seinem eigenen Rücken. Ich glaubte, dem dumpfen Wortlaut, den er vor mir verbarg, Folgendes zu entnehmen. Dass die Verhältnisse nicht für einen Macker wie ihn, ein typisches male chauvinist pig, gemacht seien und er umgehend kastriert gehöre, was ihm wohl bewusst sei, als Gefangener eines archaischen Triebs, der heutzutage keiner Patientin mehr zuzumuten sei. Er wandte sich mir wieder zu, und ich strahlte ihn an. So was von einem einsichtigen Typen war mir im Leben noch nicht untergekommen. Nun, ich mag mich verhört haben, schwören darauf würde ich nicht.

Es trat eine mir nutzlos scheinende Pause ein, bevor er sich erneut über mich neigte und forsch sagte: – Ich mache Ihnen jetzt ein Klistier. –

– Muss das sein? Klingt martialisch –, hauchte ich mit letzter Kraft, bevor ich mich gehenliess. Ja, das tat ich und ertappte mich dabei, wie ich fasziniert auf jedes Wort horchte, das aus dem Mund des für die mittelländische Darmflora zuständigen Aargauers kam. Die operative Erläuterung hatte begonnen und floss in gemächlichem Schweizerhochdeutsch dahin, flutete eindrucksvoll über die Klippen der Kompetenz, die mir jetzt blindes Vertrauen einflösste. Es war, als rezitierte Romulus der Grosse von Friedrich Dürrenmatt über mir, in der vom Autor freundlicherweise autorisierten Fassung für die Münsinger Laienbühne, und ich als erste Ersatzratte war entzückt.

– Ich biete Ihnen meine gesamten Ländereien an, Herr Romulus –, sagte ich, und der Aargauer hielt ein, schmunzelte (verzeih mir, Leser, Leserin, dieses vergangene Verb), während er mich an den einschlägigen Stellen diskret inspizierte. Dann lächelte, lachte er, wollte sich ausschütten vor Lachen. – Sie, also Sie. Es ist mein Ernst, Herr Romulus, falls Sie mich als Versuchsperson brauchen können, zu einem bescheidenen Preis stehe ich zu Ihrer Verfügung. Ich bin als erste Ersatzballetteuse arbeitslos geworden. Weil meine Nerven zu schwach sind. Vielleicht versuchen Sie es anstelle des Kli… –

– Klistiers –

– Anstelle dieses altväterischen Stiers besser mit der Botoxspritze. Meine Lippen sind zu dünn, oben und unten. – Er hob die Augenbrauen, es waren zwei dichte, mit weissen Fäden durchsetzte Büschel, er musste auf die fünfzig zugehen, dachte ich und bemerkte, dass ihn meine Vertraulichkeit rührte, ja, gegen seinen Willen in Wallung brachte. Vielleicht bildete ich mir das bloss ein, und er hatte lediglich zu hohen Blutdruck. Eine Pause trat ein, während er geschäftig mit seinem Besteck hantierte. Dann kam es verhalten – Sie sind ganz schön anzüglich. Eine Verführerin wie Sie weiss genau, wie sie die Männer einbuchten und kassieren kann. Was nun? Was tun wir mit einer wie Ihnen? –

Statt eine Antwort abzuwarten, hielt er mir den prallgefüllten Sack, der an einem Kunststoffrohr hing und mein gesamtes Foodstuffunternehmen enthielt, unter die Nase, ich muss zugeben, er hatte es schonend abgezapft, doch nun sah ich meinen Darminhalt wie einen offenen Siphon, den ein pflichtvergessener Sanitär hatte liegenlassen, in seiner Faust, ich fing an zu reden, wurde laut und lauter, um die aufsteigende Übelkeit hinunterzuwürgen.

Ich konzentrierte mich auf jede Silbe, das half.

– Sie werden meine Avance überstehen –, sagte ich, – das haben schon mächtigere Männer, also im Ernst, Doktor, ich habe gelesen, Botox helfe gegen Depressionen. –

– Mumpitz –, sagte der Aargauer, – sie sollten nicht alles glauben, was in diesen Heften steht, die sich fachmännisch geben, es sind nur gezinkte Inserate, die das behaupten. Wissenschaftlich ist das keineswegs bewiesen, das kann ich Ihnen versichern. –

– Kommen wir zur Sache, was raten Sie einer Ersatzratte, die entlassen wurde als ein permanenter Wechselschrat, einmal dick und einmal dünn? –

– Was wollen Sie eigentlich von mir? –, sagte er unglücklich. Ich hatte mich inzwischen aufgesetzt und das Küchenpapier über meinen Schoss gebreitet.

– Das Mindeste, was mir zusteht, Doktor, bei diesen exorbitanten Kassenprämien –, sagte ich, – ist ein sachkundiger ärztlicher Ratschlag. – Er schwieg, ich insistierte. Er trat ans Fenster, sah hinaus, und ich sah einen Rücken, der nicht so breit war, wie ich vermutet hatte.

Ich wartete, dann drehte er sich brüsk um und empfahl mir ein ... wie bitte? Ein Praktikum beim Zirkus. – Mit Ihren kuriosen Einfällen und Ihrem rotzfrechen Charme sollte das möglich sein. Ich werde sehen, ob ich Ihnen eins verschaffen kann –, sagte der Aargauer. – Ich habe einen Patienten von und mit Knie. Ja, dem hängt die ganze Sippe am Knie. Er verschafft mir freien Eintritt zu jeder Vorstellung. – Ich schluckte leer. – Aber –, sagte ich.

– Kommen Sie mir bloss nicht mit Ausreden, ich werde Ihre Fortschritte verfolgen, ich werde keinen ihrer circensischen Purzelbäume auslassen. So ist das. –

Wir schauten uns mitten ins Gesicht. Die Offenheit, die jetzt zwischen uns lag, war unverstellt und gegenseitig. Und da war zusätzlich etwas anderes, das noch nicht benannt sein wollte.

Leider kam es nicht dazu.

Warum? Ist doch klar.

Er hatte sich gemeldet.

Der voraussichtlich Gehörnte. Fing an zu protestieren, rülpste und röhrte, stiess dermassen schmatzende Salven aus, dass der Aargauer die Stirne runzelte und sich noch einmal hinsetzte. – Ich verschreibe Ihnen etwas Mildes gegen Sodbrennen. Da scheint doch etwas vorhanden zu sein. –

– Er, nichts als er –, schrie ich in die Praxe hinein und schlug mit der Handkante auf den Nabel. In einem Mix von Ohnmacht und unterdrückter Wut kam es aus mir:

– Der braucht ein Piercing, keine Pastillen. Ein Piercing, das ist die Antwort. Doktor –, flehte ich, und der Aargauer sah, wie es um mich stand.

– Bitte, Herr Doktor, wenn Sie uns ein Piercing verordnen könnten, das hilft garantiert. – Ich presste die Handflächen gegeneinander und spreizte die Unterarme, eine Geste der Demut und des huldvollen Aufbegehrens, die den Widerspruch in sich auflöst: Ich hatte sie von jeher an den Madonnenbildern der italienischen Meister bewundert, gleichzeitig sah ich den Ausdruck in des Doktors Augen, sie waren nun ohne Farbe, irgendwie flüssig.

Es vergingen Sekunden.

Und dann. Alles verflogen. Der Aargauer stand auf, sah auf die Uhr und sagte sachlich: – Es tut mir leid, ich muss Sie verabschieden. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau … Wie war doch der Name? –

Das gab mir den Rest. Ich spürte die Tränen aufsteigen und wischte mit dem Ärmel vorsichtshalber über die Augen. Ich nahm meine abgewetzte Handtasche an mich wie ein schützenswertes Neugeborenes und stapfte mit steifem Rückgrat zur Tür. Hinter mir gab es Geräusche, und dann fiel der Flattersatz in meinen Rücken: – Hören Sie, ich kann das nicht, ich darf nicht, darf nicht. In Fleisch bohren. –

– Oh doch, Sie können, und wir beide wüssten wie … –

Obschon mein Zorn vernehmlich war, schloss sich die Türe des Ordinationszimmer sanft und beharrlich. Und sehr, sehr langsam. Ein seltsamer Trost, aber ein Trost.

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Wir lebten weiter ohne Piercing. Die Drohung hatte meinen Ewigen eingeschüchtert. Er antwortete mit Dünnpfiff. Als hätte ein Wolkenbruch stattgefunden, schoss es aus ihm. Die Vorstellung, gepiesackt zu werden, nicht von einem ehrbaren Rivalen, sondern von einem Dunkelmann, der keine Handschuhe trug und sein Business fern jeder Hygienemassnahmen betrieb, bekam ihm nicht. Mir übrigens ebenso wenig. Sodass ich ihn nun doch mit den Pillen fütterte, die ich besorgt hatte, aus reiner Sentimentalität. Ich würde ihn niemals wiedersehen, den Aargauer. Ich konnte nicht zurück in jene Praxis, das versteht jede, die mit etwas Geschmack und Feingefühl ausgestattet ist.

Dabei hätte ich, wenn er nicht. Er. Er. Er. Nach der verpatzten Nacht, in der ich kein Auge schloss und keine Lippe öffnete, da der Bettgenosse räsonnierte, randalierte wie Samuel Pepys an den finstersten Tagen seines Tagebuchs, gönnte ich uns beiden eine Auszeit. Dann war alles wieder wie ehedem. Er und ich, wir zwei.

ERHÖHTE TEMPERATUR

Das Bild kannte er seit seiner Studienzeit. Es war am Ende des Ersten Weltkriegs als Leihgabe ins Kunsthaus gekommen und wurde von seinem Semester mit Verachtung gestraft, die Sechzigerjahre in Z. hatten nichts übrig für das Erbe der Schweizer Kunst: Was kann von Erben, die Rütschi heissen, schon kommen. Obschon er nicht zu den Scharfmachern zählte, ging auch ihn dieses Gemälde nichts an, Hodler war eine vaterländische Pflichtübung, die man im kunsthistorischen Seminar geflissentlich überging. Nur die Braven, die Angepassten beeilten sich, die Figur und ihre schattenhafte Entourage zu skizzieren, als Gedächtnisstütze sollte das dienen, da es noch keine Digitalfotografie gab, die klick machte und das Sujet erhaschte wie im Schmetterlingsnetz. Das Bild war zu grandios komponiert: im Vordergrund der Mädchenakt, die Lichtgestalt, umgeben von den rückwärts rückenden Vermummten. Aber das Wesen, das sich als Die Wahrheit ausgab, war zu ätherisch, um einen Erstsemestrigen mit Flaum am Kinn zu fesseln, denn der war mehr an handfesten Titten interessiert.

Er erinnert sich: – Ein Höhepunkt des Symbolismus! – Der Oberassistent hüstelte im Abglanz des Gemäldes, das er im Massstab 1 : 2 vergeblich zu projizieren versuchte, es fuhr ihm hörbar in den Rachen. Damit machte er sich vollends zu jener Witzfigur, die lustlose Studenten brauchen, um sich über die Runden zu bringen. Lustlose Studenten sind grausam und wissen es nicht. Ihre Grausamkeit ist ja nichts anderes als eine Spielart unter geschlechtsreifen Rangen, und die hätte man besser im Urwald ausgesetzt, um das Menschenbild zu studieren. Stattdessen hatte man im Kunsthaus anzutreten, dem Hort des Edlen, Guten und so weiter.

Dieser da, der Lotterpuppe, wie sie der Studienfreund nannte, der bald darauf zum Bankfach überlief, stachen die Rippen aus dem Brustkorb, und auf dem Schambein, das nur knapp mit Haut überzogen war, befand sich kein einziges Härchen. Geschlechts- und geheimnislos war die und alles andere als eine erotische Attraktion für einen Jüngling, der abends mit der Lambretta ins Kino knattert und sich ein Busenwunder auf den Rücksitz wünscht. Nouvelle Vague mit der BB war angesagt, von der scharfe Fotos kursierten, die man in der Innenseite der Mappe kleben hatte, sozusagen als Notproviant.

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Nun ist er intim mit ihr, nun liegt er über ihr, gewissermassen in der Missionarsstellung, um sie zu restaurieren, Hodlers Wahrheit. Eine von oben delegierte Zumutung. Er fährt sich durchs Haar, knappe sechs Zentimeter Abstand verlaufen zwischen seinem Hosenbund und ihrem Genital, das er nicht Muschi nennen mag. Ein deutscher Mitstudent hatte das Wort seinerzeit eingeführt, Muschis waren Freundinnen, die fortwährend an einem herumzupften und quengelten, bis sie mit ihrem Goldjungen von der gleichnamigen Küste in Paris gewesen waren. Dann bettelten sie, bis er sie nach Rom mitnahm, worauf London, Prag und Amsterdam an die Reihe kamen. Heute gibt es die Muschitour wahrscheinlich nicht mehr, sie würde zu weit führen müssen, bestimmt bis nach Dubai, Shanghai, Hongkong und Tokio, das aber bald weg vom Pflichtprogramm wäre; nicht etwa wegen Fukushima und der Strahlungsgefahr, oh nein, Atomkraftwerke sind kein Thema für Muschis, sondern der illegale Walfang, der sie nicht ergötzt, denn Muschis haben ein Herz für aussterbende Tiere. Er selber blieb einigermassen sauber, ausgenommen, nun ja. Sein Kumpel ist ihm Lehrbeispiel genug gewesen, der hat jene Vollbusige, Mütterliche, die ihn entjungferte, dann heiraten müssen. Sie war elf Jahre älter als der werdende Vater, und die gemeinsame Zukunft kann man sich denken.

Die da ist eine andere, er lernt sie kennen, jeden Tag neu, seit Wochen und Tagen, versucht er sie zu entziffern. Ihre Vulva hat der Maler in zwei dürftigen Strichen angedeutet, und das Beckenskelett sorgfältig gerundet, der Zugang wäre also ideal für einen zartbesaiteten Bräutigam. Von einem Triumphbogen zwischen den Beinen kann allerdings kaum die Rede sein, Gott, was hat er bloss für Assoziationen, was für ein schäbiges Altherrenlatein. Der Künstler Hodler ist zwar kein Kostverächter gewesen, aber bestimmt kein Pädophiler. Das Modell kann höchstens siebzehn Jahre alt sein, doch in seiner Darstellung kommt sie wie aus alter Zeit herüber, eine Lolita, die früh altern wird.

Er ächzt. Nicht gerade bequem, diese Lage, aber anders als bäuchlings ist Hodlers Wahrheit nicht beizukommen, er liegt auf einer Filzmatte und hantiert von oben, von der verschiebbaren Brücke her, die auf den grossen Holzwagen montiert worden ist. So liegt die Leinwand unter ihm, und er arbeitet sich Millimeter um Millimeter zum Bildzentrum vor, verkörpert von diesem seltsamen Girl.

Je näher er ihr kommt, desto mehr schwindet sie, löst sich in Glanzflecken und Schadstellen auf. Abschnittweise, als Ganzheit nicht überblickbar, wird die Arbeit zu einem rein technischen Vorgang, der Bildinhalt und Bedeutung aufsaugt. Bis gestern haben ihn die Figur und ihre tatsächlich bedrohliche Situation auch nicht wirklich interessiert. Aber heute, an diesem Tag, weiss der Teufel.

Es ist, als spüre er eine Regung von ihr, wenn er zunächst mit dem Kunsthaarpinsel, der ist verlässlicher als der Marderpinsel, zum Venushügel vordringt, um dort mit dem befeuchteten Wattebäuschchen die Lasur aus Schmutz abzutupfen, der Reinigungsvorgang kommt ihm plötzlich rituell vor, als appliziere er eine sexuelle Initiation, wie frevelhaft, wo doch zwinglianische Rituale immer über der Gürtellinie stattfinden, er darf also bloss ein wenig um die Leibesöffnung herum tamponieren, die Zeremonien des Züribergs, wo er aufwuchs, sind eine religiöse Trockenübung. Er ist ihr Kustos, Hüter ihrer Reinheit, ach was, das klingt fast schon katholisch, also zu theatralisch. Die Situation verhält sich doch so, dass ihr nichts geschehen darf, nicht das Geringste darf ihr geschehen. Zu Hodlers Zeiten, da ein Modell dem Künstler schutzlos ausgeliefert war, ist ihr wahrscheinlich schon zu viel passiert.

Die Anstrengung knackt in den Knochen, wenn er sich nach eineinhalb Stunde erhebt, um sich von seiner fragwürdigen Position kurzfristig zu erholen. Ein Endfünfziger, der sich über eine Minderjährige hermacht. Kompromittierend ist das, weil es sich um eine gemalte Minderjährige handelt. Lebendig sind sie ja keineswegs wehrlos, im Gegenteil, die kämpfen jetzt mit harten Bandagen, da bist du als Mann vor keinem Schlagring, vor keiner Fingerkralle im Gothic Style sicher.

Er schiebt nun das Holzgestell, das als Brücke dient, so zurecht, dass er an der Beinpartie arbeiten kann, was für prächtige Waden sie hat. Ihre Wölbung hat der Maler mit dem Pinsel liniert, dann rötlich schraffiert, wieder laviert, damit die typisch Hodler’sche Plastizität entsteht. Hodlersche Beine sind immer gewappnet, straff und energisch. Während der Meister die Füsse und manches am Torso im Ungefähren belässt. Was dem Restaurator besser gefällt als das martialische Pathos, das Hodler später entwickelt, sodass in jeder muskulösen Wade eine kommende Schlacht steckt, auch die Frauenwade ist dann ein Marignano am Vortag, wenn der Sieg noch gewiss ist. Das bleiche Mädchen erhebt die Hände, für heute genug, scheint es zu sagen, für ihre gute Durchblutung wird er morgen sorgen.

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Eigentlich braucht der Unterleib keine Retusche, beschliesst er am nächsten Tag. Seine Standfestigkeit erträgt das wankende Gelände, ein Hochmoor, aus dem sich der mit brackigem Grün bedeckte Felsen abzeichnet, da sind ein paar schüchterne Blümchen, sie verheissen keinen Frühling.

Der Beauftragte des Fachkollegiums nennt das berühmte Bild aus dem Jahre 1902, von welchem Hodler zwei Fassungen herstellte, die Apotheose vor dem Untergang. Er selber hält den Vorgesetzten für einen Schwärmer, dabei begriffsversessen, als ob man diesem Maler mit Theorie beikommen könnte. Das ist ein Naturbursche gewesen, ein Pinselberserker, der Augen zu sehen hatte und Hände zu formen.

Der Restaurator sieht hier ein Mädchen, das Hodler auf die Füsse stellt, nur im Stand kann es sich wehren, und der Meister stellt diese Wahrheit nicht auf die Frühlingswiese, wie gesagt, sondern auf eine diffus lavierte Leerstelle. Das ist eine Information.

Der Restaurator legt die Handfläche über das linke Auge und schickt das rechte wie einen fotografischen Sucher über die Leinwand, in Slow Motion schwindet jede theoretische Überhöhung, so kommt, dass der Symbolismus, der diese Epoche (der Secession, an der Hodler teilnimmt) verbrämte, hier nichts mehr zu suchen hat. Hier tut sich eine Brache auf, sie gähnt ihn an, sie irritiert, da ausgerechnet im Umfeld des Mädchens, warum. Enthält sie vielleicht den archimedischen Punkt, an dem der späte Hodler entspringt, über das Nichts springt, den Abgrund, der ihm der Alltag zuweilen sein mag, hinauf zu den Alpen und ihrer kantigen, hochgradigen Präsenz. Ihre Majestät, die Hodler’schen Alpen, da gibts dann nix mehr zu deuteln, da sind dann alle vereint auf dem Gipfel der interpretatorischen Eindeutigkeit.

Die Wahrnehmung steckt im Auge, nicht im Hirn, nur bring das mal einem Experten bei. Die Wahrnehmung des Restaurators hat kein Urteil, je länger er an einem Gemälde arbeitet, umso weniger. Für den Restaurator hat ein Meisterwerk sakrosankt zu sein. Der sieht eine Fläche voll Können vor sich, ein Können, das auch ein Wissen ist und furios über die Fläche fegt, da und dort von Diagonalen gebrochen, welche mit Rötel liniert sind; sieht aus wie Ölkreide, ist aber Hodlers virtuoser Pinselstrich, der wechselt zu Magenta, schlägt weiter rechts ein als violetter Blitz in die Gewandung der schwarzen Schattengestalten. Als wollte er die weghaben, bestimmt wollte er ihre Absichten durchkreuzen, damit sie dem Mädchen nichts antun. Damit sie sich nicht plötzlich wenden, um ihr das Grinsen des Totentanzes einzupeitschen.

Der Restaurator bemerkt, dass er auf der Holzbrücke überm Sinnieren in die Knie gegangen ist. Er seufzt, ist ja nicht gerade die für ihn typische Position. Weiter, er muss weitermachen. Eigentlich würde er das ganze Bild so belassen. Der Schmutz, der sich auf dem Bild niederliess, hat wie ein schützender Firnis gewirkt. Hat Schatten gebildet auf der gelblichen Hauttönung des Mädchenaktes, der ihm jetzt kräftiger erscheint als früher. Er hielt sie für magersüchtig, damals, aus Distanz. Anorektisch ist die, hat er gemurmelt, als sie wie auf dem Leichenwagen ankam. Als das monumentale Gemälde, geschoben von vier Spediteuren, dirigiert vom verantwortlichen Museumskurator, in der Werkstatt anrollte und für ihn vertäut wurde. Festumzug für eine Nackte und vier bis fünf Racheengel, hat er bei sich gedacht, weil er das Bild nicht mochte, es erinnerte ihn zu sehr an die Uni und alle verpatzten Jahre, die folgten, das ist ihm nicht geheuer, doch ja, wer weiss, vielleicht ist die Arbeit an der Jugend eine Verjüngungskur? – Die hat Power, die kann sich wehren –, rief die Assistentin begeistert.

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Er legt den Pinsel nieder und rappelt sich auf. Erst halb zwölf Uhr. Was ist bloss mit ihm los. Er streckt sich und klettert vom Holzwagen hinab. – Ich bin dann mal weg–, sagt er etwas zu laut, zu burschikos. Und die beiden Frauen, die an den Staffeleien zugange sind, die Assistentin und die Praktikantin, schauen verwundert auf. – Ist es schon Mittagszeit? – Er antwortet nicht, er macht sich davon. Diese Unruhe in ihm. Er trollt sich in den Park, der dem Kunsthaus gegenüberliegt, er geht den Kiesweg hinauf und hinab. Das Gelände ist jetzt schon voller Baubaracken, da bald die Kunsthauserweiterung beginnt. Ob der Baulärm bis zu ihnen, an die Rückseite des Altbaus dringt? Es ist ihm, als ob seine Sinne unter einem Brennglas gleissen, als ob darin tausend Sonnen bersten und gegen ihn ausholen. Dabei liegt der Park im Schatten. Er setzt sich auf eine mit Kisten vollgestapelte Bank, sie lassen eben noch ein Eck frei für ihn.

Wahrscheinlich rührt der Schwächeanfall von seiner Hast am Morgen, da er sich nie richtig zum Frühstück hinsetzt. Er nimmt morgens einen Cappuccino an der Cafeteria, dazu eine Brioche, die schmeckt, als sei das Gebäck vorgestern in Zellophan von einer Autobahnraststätte importiert worden. Egal, es geht lediglich darum, den Blutzuckerspiegel zu stabilisieren. Zurück in die Werkstatt, in das gedämpfte Licht, dann ein Blick auf die Staffeleien im Hintergrund, die Kleinmeister des achtzehnten Jahrhunderts sind stets problemlos gewesen, das Brot vieler Jahre, die er hinter sich hat. Er steigt erneut auf die Holzbrücke, prüft die unter ihm lagernde, vom Holzrahmen gelöste Unergründlichkeit. Mehr Abstand zur Figur hat er gewollt, sie neu sehen, was also sieht er jetzt? Eine Fremde ist eingezogen auf dem einst monumentalen Gemälde, das sich nun wie Marschland mit Untiefen ausbreitet. Erst hat er eine Theaterkulisse vor sich gesehen und diese Sicht wieder verworfen.

Hodler hat die Leinwand nicht grundiert. Ein Vollblutmaler schert sich wenig um die technischen Aspekte, ausserdem hat man zu seiner Zeit noch wenig von der Zukunft von Öl auf Leinwand gewusst. Dass sie brüchig wird und krakeliert, sogar verpudern kann, heikle Partien, die er mit hauchdünnem Japanpapier ausbessern wird. Dass die Leinwand sich zu Schüsseln aufwirft, die man mit Störleim bearbeiten muss, mit einer hauchdünnen Folie anpressen, um sie flachzulegen, Teufel auch, die Anzüglichkeit ist nicht mehr wegzukriegen, ist das die Rache des Bildes an seinem ehemaligen Desinteresse? Die Burschenschaft, in der er war, hat vor nichts zurückgeschreckt, was ausserhalb der Vorlesungen Programm war, das waren quickmuntere Animierdamen, keine dürren Frauenakte. Er war auf der Hut gewesen, zu feige, denkt er jetzt. Er war der Statist in der Bande. Sein Leben lang ist er Statist.

Er tunkt den Pinsel in den Klebstoff, der aus der Schwimmblase des Störs gewonnen wird. Hodler hat alles aus der Natur geschöpft, die Natur heilige die menschliche Figur. Hat er in seinen Vorträgen vertreten, er war ja in späten Jahren noch Akademielehrer gewesen, was man sich schwer vorstellen kann, dieser Vollblutkünstler hinter dem Katheder. Ja, die Kunst fordert ihren Tribut.

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Was will das Bild von ihm? Wer oder was ist die Wahrheit, an die Hodler gedacht hat? Der Stör ist vermutlich das letzte Opfer jener Erhabenheit eines Meisters, die er als Restaurator sicherzustellen hat. Mitte des letzten Jahrhunderts verschwindet sie, und mit ihr die Aura der Kunst. Dann tritt der Starkünstler auf die Bühne und ersetzt die Erhabenheit durch Selbstdarstellung, durch schrankenlosen Exhibitionismus. Ein Geschwurbel, Mann, dieser Jeff Koons, sagt der ahnungslose Neue, er ist Kurator für die Altäre des Mittelalters, was ihm wohl kaum in die Wiege gelegt worden ist, so wie der daherkommt, wie er redet. Woher das alles stammt, möchte er wissen. Auf Wikipedia betrachten sie zusammen Duchamps Pissoir und den Akt, eine Treppe herabsteigend. Dann zeigt er dem Novizen einen Youtube-Film über die ehemalige Wahrhol-Factory. Das Fazit ist kurz. – Mit Marcel und Andy fängt die Homestory der Kunstgeschichte an –, kommentiert der Neuling. Der Restaurator sagt nichts.

Hodler hat alles andere als eine Homestory durchgemacht, auf einem lodernden Grat ist er gegangen, alles in ihm war gestaltende Energie. Eine Sippe voller Todesfälle, ein Leben voller Tode hat er verarbeiten müssen, daraus unerhörte Kraft der Formgebung geschöpft, was manchmal übermenschlich anmutet. Hodler, obschon kunsthistorisch gesehen ein Moderner, Hodler ist alte Schule, was die künstlerische Integrität anbelangt. Und dabei die Ausdauer in der Wucht, als hätte er mit den Fäusten gemalt. Dabei die darstellerische Kompromisslosigkeit in der Nähe zum Liebsten, was er hat. Umpflügen das Klischee seiner Epoche und ohne Tränen bis ins Sterben hinein. Das ist grosse Klasse, und die möchte er, Hanskonrad Arter, genannt HK, sichtbar machen. Die Aura muss bleiben, wie schafft er das. Eine andere, eine neue Wahrheit hervorkratzen, was für eine? Probeweise presst er mit Folie den sparsam getupften Leim auf die defekte Stelle. Eine Wüste, das Bild, technisch gesehen.

Eine schlaflose Nacht. Das Ticken des Weckers hat ihn ins Bad getrieben, präzis um drei Uhr siebzehn hat er zwei Pillen eingeworfen, der Ausdruck stammt aus der Zeit, da der Joint und LSD angesagt waren. (Er ist nicht von gestern, wie die Museumskollegen annehmen.) Er geht auf Zehenspitzen, um die Frau nicht zu wecken. Das Päckchen steckt noch im Badzimmerschrank, wahrscheinlich längst abgelaufen, die Filmtabletten kaum gebraucht, doch der Tranquilizer, den ihm die Therapeutin einst zugesteckt hat, wirkt sofort.