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Geboren 1962 in Schaffhausen, Ausbildung zur Buchhändlerin in Schaffhausen und zur Schauspielerin in Berlin (Fritz-Kirchhoff-Schule). 1989 bis 1992 Engagements als Schauspielerin bei Bühne und Film, seit 1992 freie Autorin. Schreibt Theaterstücke, Hörspiele und Prosa. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem «Lenz Preis für neue Dramatik der Stadt Jena». Katharina Tanner hat zwei Töchter und lebt als Autorin und Buchhändlerin in Basel und Berlin.

KATHARINA TANNER

DA GEHT SIE

Roman

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Ich weiß nicht wieso, aber ich fürchte mich vor Bern, hat Lisette einmal an Christoph geschrieben, da war Linn noch ein Kind. Fürchte dich nicht, schrieb er zurück, ich bin in Bern geboren, ich habe die Schulen von A–Z in dieser Stadt besucht, ich habe hier studiert, ich habe hier meine Band gegründet, meine Familie, fast alle meine Freunde leben in Bern.

Es war das A–Z, das Lisette verunsichert den Bleistift spitzen und mit geschlossenen Augen auf den Brief tippen ließ. Bei W fielen ihr willensstark, warm und wachsam ein, bei F fürsorglich und bei H handsome, handlungsorientiert und hellhörig. Bei A brach die Bleistiftspitze ab.

Seltsam, lachte ihre Freundin Helene, es gibt keinen Grund, vor der Schweizer Hauptstadt Angst zu haben, ich habe selbst einmal mit einem Berner in Bern zusammengewohnt. Oder willst du dich einfach nie mehr vom Bodensee wegbewegen? Lisette dachte an Christophs kleine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen.

Als ihr der Drang, auf einer Bühne zu stehen, dann plötzlich abhanden kam, als sie sich immer öfter zusammenrollen musste, um noch einen Restzipfel davon zu erhaschen, zog sie mit Linn zu Christoph nach Bern.

1, schrieb sie in die Agenda für den ersten Tag des neuen Lebens.

Die Gewohnheit, frühmorgens draußen auf der Türschwelle die Temperatur großer Städte aus aller Welt und die Wassertemperatur der Schweizer Seen in der Tageszeitung zu studieren, nahm sie an die Aare mit.

Jahre später, der Sommer wird von der ‹Berner Zeitung› Jahrhundertsommer genannt, fährt Lisette in einem Außenquartier durch die leere Wohnstraße im Slalom an quadratischen Blumenkisten vorbei. Bunt bemalte Kinder aus Sperrholz säumen das Trottoir. Im Autoradio spricht ein Ornithologe aus Norddeutschland von einer Schmarotzerraubmöwe, die schon am 26. Juli elbabwärts geflogen sei. Vor den Siebzehnuhr-Nachrichten macht Lisette das Radio aus.

In ihrer Handtasche klingelt das Telefon. Die Zwillinge werfen die aufgeblasenen Schwimmreifen durchs Autofenster auf das glühende Pflaster vor dem Haus. Sie befreien sich gegenseitig aus den Kindersitzen, Lisette öffnet ihnen die Wagentür.

Meine Zirkusschule wird immer größer, sagt sie zu Helene am Telefon, für das nächste Semester habe ich eine mongolische Akrobatin mit einem schweren Zopf engagiert.

Du hast richtig entschieden, sagt Helene. Es war damals genau der richtige Zeitpunkt.

Die Buben klettern aus dem Auto.

Ich habe mir das neue Leben selbst beigebracht, sagt Lisette.

Ich würde gerne einmal in die Mongolei fahren.

Ich auch.

In Regensburg könnte ich kurzfristig den ‹Lebkuchenmann› inszenieren.

Ich weiß nicht.

Anton und Hannes rennen mit den Schwimmreifen um den Bauch die Straße auf und ab. Sie rufen Namen in die heiße Luft und halten Ausschau nach Nachbarskindern, enttäuscht, niemanden anzutreffen.

Wenn mein neues Kind auf die Welt kommt, sind die Quitten reif, sagt Lisette. Ich werde die Früchte abreiben, bis sie nicht mehr pelzig sind, ich werde sie zerstückeln und einkochen und pürieren. Ich will dem Kind eine Blechdose voll rotgoldenem Quittenspeck zur Geburt schenken.

Quittenmarmelade?

Nein, Quittenspeck. Dass der ‹Lebkuchenmann› überhaupt noch gespielt wird.

Vielleicht sollte ich mir auch ein neues Leben beibringen, sagt Helene.

Lisette schließt den Wagen ab und wählt eine neue Telefonnummer. Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hie ßen, Emma bitte dick unterstreichen, diktiert sie Christophs Praxishilfe, dann ruft sie laut nach den Buben.

Linn

Anton

Hannes

Emma

Wie elegant sich dieser pausbackige Namen an ihre drei Kinder schmiegt.

In der Küche tischt Lisette Brot und Käse auf, sie zerdrückt zwei Bananen und füllt den Brei in je eine Schalenhälfte zu Schiffchen. Eine Radiohörerin wünscht sich Klaviermusik von Schubert.

Emma. In Gedanken an endlose unbesiedelte Elbauen zerrt Lisette ihre Stützstrümpfe von den Beinen und stopft sie in den Abfallkübel. Christoph soll ihr nie mehr fleischfarbene Schläuche herunterrollen müssen. Möwen, die elbabwärts fliegen, tragen keine Stützstrümpfe, sagt sie beim Essen zu den Zwillingen. Die Buben kichern.

Für die L-Form der Küche hat sie sich mit Christoph auf Rat des Architekten entschieden. In einem Familienalltag mit vier Kindern könne arbeiten am Herd und essen in einem Raum nur in einem L stattfinden, sagte der Architekt und schaute dabei auf ihre Brust, der Blick vom Esstisch auf die unaufgeräumte Arbeitsfläche nähme einem sonst den Appetit.

Anton deutet stumm auf eine Postkarte, die am Kühlschrank klebt. Liebe Mama, lieber Christoph, lieber Anton, lieber Hannes, die Berliner Seen sind alle Pissbrühen geworden, liest Lisette zum wiederholten Male vor, an meinem Geburtstag habe ich zuerst den Kopf ins Wasser getaucht und dann die ganze Nacht gefeiert. Liebe Grüße und Küsse, Linn.

Linn ist eben schon sechs, sagt Anton zu Hannes. Hannes streckt vier Finger in die Luft und sagt: Und ich so und älter als du. Lisette korrigiert: Eure Schwester ist schon sechzehn.

Unter dem Dach staut sich die Luft seit Wochen. Lisette legt die nassen Badetücher und Badehosen über den Wäscheständer. Die Abendsonne brennt einen Lichtstrahl durch eine runde Luke. Die Zwillinge jagen einander durch die engen Gänge der Bettwäsche und versuchen, den orangen Lichtkegel zu packen. Langsam nimmt Lisette die steife Wäsche von den Leinen, die gespannten Schnüre scheinen die letzten Tage in die Höhe gewandert zu sein, ihr Bauch beginnt, sie unbeweglicher zu machen. Sie faltet die großen Laken zusammen, legt sie auf den Boden und wirft die übrige Wäsche darauf.

In der Wohnung klingelt das Telefon. Schritt für Schritt steigt Lisette die steile Treppe hinunter, als sie den Telefonhörer aufnimmt, ist es zu spät. Das Band meldet drei neue Anrufe. Beim ersten glaubt sie, Linn weinen zu hören. Beim zweiten sagt Linn: Ich habe dich gesehen. Im Club der böhmischen Versager. Gefilmt und nackt. Mit einem Pappschild vor der Brust. Zum Kotzen.

Ich kenne keinen Club der böhmischen Versager, sagt Lisette zum Telefonhörer, im Hintergrund wimmert Linn leise weiter.

Niemand darf wissen, dass die Zirkusschule nur ein Experiment ist, das ich jederzeit abbrechen darf, überlegt sich Lisette, während sie die Treppe zum Dachboden hinaufsteigt. Auf dem Wäscheberg liegen die Zwillinge und sind eingeschlafen. Sie deckt sie mit einem frischen Laken zu, legt sich zwischen sie und überlegt, ob Helene diesen böhmischen Club in Berlin wohl kenne.

Und der Donnerstag vor neun Jahren, die Stadt am Bodensee, der Berggänger und die Säntisbank sind zum Greifen nah.

 

Der Donnerstag begann genau so, wie Lisette ihn seit Wochen geplant hatte. Ihre Hand schlug dem Wecker ein Schnippchen, bevor er sie mit seinem Piepsen ärgern konnte, und machte ihn ganz beiläufig arbeitslos für diesen Tag, auf den sie seit langem setzte.

Der Bodensee hatte laut ‹Thurgauer Zeitung› vierundzwanzig Grad. Lisette hüpfte am Kreuzlinger Bahnhof mit Linn an der Hand aus dem Bus, die Sohlen ihrer Schuhe quietschten leise und freuten sich auf einen glücklichen Gang.

Es musste ein wenig früher gewesen sein als die Morgen davor. In den Geleisen knackte es und eine Weiche verschob sich, am Imbissstand lagen der Sonnenschirm aus Bastimitat und die Schiefertafel ‹Heute Döner Kebab› träge an ihrer Eisenkette. Lisette speicherte den Veilchenparfumduft der Buschauffeuse, stampfte mit dem rechten Fuß kurz auf, zog das vor Müdigkeit noch schwere Kind die menschenleere Bahnhofstraße stadteinwärts hinter sich her und kräuselte die Haut zwischen den Brauen.

Der plötzliche Wunsch, dem Bus nachzurennen, im Schatten seiner vorgegebenen Route mitlaufen zu dürfen, in großzügigem Bogen den Hang hinauf, bis zum Seerücken hoch und wieder hinab zum Wasser, einmal, zweimal, dreimal um Kreuzlingen herum, leichtfüßig und ohne abzusetzen, bestätigte ihre Ahnung: Ein von langer Hand vorbereiteter Tag, der das Leben radikal in ein neues Fahrwasser lenken sollte, musste, um warm und biegsam und so geistreich wie nur möglich zu werden, etwas außer Plan bieten. Wahrscheinlich war es sogar seine Pflicht, um beim Vorsprechen auf der großen Bühne termingerecht zu gelingen.

Heute Abend würde sie sich am Stadttheater in Konstanz einen festen Vertrag erspielen!

Das Kind begann ein Lied zu summen, kaum hörbar, ‹Kraut und Rüben haben mich vertrieben›. Lisette liebte es, wenn Linn summte oder sang, und schloss sich dem Kind dankbar an. Sie beobachtete, wie der Ton auf ihrem Nasenbein sich in zwei Hälften teilte, schwungvoll die Augen umrandete, den Seitenscheitel entlang über den Hinterkopf flitzte und schließlich den schwarzen Pferdeschwanz zwischen den Schulterblättern hinunterrutschte. Bis Linn sich für das Summen ihrer Mutter genierte und mit strengem Ton befahl, still zu sein. Dann sang das Kind alleine weiter.

Lisette tastete in ihrer Handtasche durch gedörrte Aprikosen, Lippenstifte, einen zerfledderten Taschenweltatlas nach einer Telefonkarte und steckte dem Kind ein Stück Traubenzucker in den Mund. Sie prüfte die Rutschfestigkeit ihrer Gummisohlen mit zierlichem Zehen-in-den-Boden-Stubsen, um im Notfall auch abrupt stoppen zu können, wie mit einem eleganten Parallelschwung auf Skiern, doch ohne Anlauf und ohne zu stieben.

Sie wollte Daniel vom Triumph über den Wecker berichten und von einem leicht ansteigenden Lampenfieber vor dem Vorsprechen heute Abend. Ganz kurz nur, so lange, wie sich einmal morgenschläfrig auf seinen Bauch rollen, so lange, bis sie ihm zu schwer würde. Sie hörte sich von seiner Stimme bei ihrem Namen genannt, obwohl sie ihn jetzt in der Frühe doch noch in Hamburg wusste. Sie versuchte, sich seine schlacksige Gestalt vorzustellen, seinen elegant federnden, der Welt großzügig entgegentretenden Schritt, und schlug sich vor Vorfreude auf ihn mit der Hand gegen die Stirn. Linn lachte verwundert auf.

Der Bodensee habe schon vierundzwanzig Grad, das Wetter sei ein Traum, das Kind summe und lache. Sie trüge seine Lieblingsbluse, die Glücksbluse aus Berlin, die lindgrünen Turnschuhe, einen knielangen Leinenrock dazu, fast neu, beige, nicht gestohlen. Schade, dass er nicht bei ihnen sei, wollte sie ihm sagen, vielleicht noch, sie liebe ihn und sei voll Zuversicht. Selbst der Gedanke an die kommende Herbstnebeldecke am See könne sie nicht mehr erschrecken. Sie habe die Kanzleien im Telefonbuch gezählt, eine mehr oder weniger dürfte nicht ins Gewicht fallen. Und sie wollte ihn zum Schluss noch Helenes neue Flamme erraten lassen – darauf würde er nie kommen, nie –, ein abgewickelter Botschafter eines abgewickelten Landes als Liebhaber!

Die Telefonkarte blieb unauffindbar.

Ein immer aufdringlicheres Verlangen aber, die seltsam schwer werdenden Lider zu schließen, bedrängte Lisette bald zum Nachgeben. Sie ließ sich von Linn die Bahnhofstraße mit geschlossenen Augen widerstandslos weiterführen. Das Spiel, einen blinden Menschen um Hindernisse herum zu lotsen, kannte das Kind aus seinem Berliner Kinderladen. Es kicherte, blieb schon nach wenigen Metern unvermittelt stehen, bestaunte wie jeden Tag im Schaufenster des Baby-House den blau-grün karierten Zwillingswagen und schnitt vor einer Parksäule eine kühne Kurve. Dass sich sogar ihre Augendeckel auf den Vorsprechtermin vorbereiteten und sie mit einer Wahrnehmungsübung überraschten, stimmte sie heiter. An diesem Donnerstag schienen auch kleinste Hautfetzen ihres Gesichts mit ihr am gleichen Strick zu ziehen.

Es blitzt aus dem Gleis, rief Linn. Selbst durch die geschlossenen Lider fühlte Lisette die Sonnenstrahlen an den blanken Eisenbahngeleisen abprallen und in der heißen Luft farbig zucken.

Das rechte Knie auf der Erde, den linken Fuß daneben, den Oberkörper vornübergebeugt, die Handinnenflächen flach gespreizt neben Knie und Fuß, hörte sich Lisette fragen, wer zuerst in Konstanz sei.

Ich, rief das Kind, nahm die gleiche Stellung ein, rannte los, kam nach ein paar Metern zurück und begann nochmals von vorne.

Lisette zählte alle Dörfer der Bahnlinie seeaufwärts auf. Sie fragte, wer zuerst in Bottighofen sei, in Altnau, in Uttwil, in Rorschach, in Bregenz über der Grenze und in Lindau über der Grenze und noch einmal über der Grenze, bis der Zug den Bodensee hinter sich ließ und sich übermütig eine neue Strecke suchte. Wer zuerst in Innsbruck sei, fragte Lisette, in Linz, in Budapest, weiter, immer weiter. Und das Kind jauchzte laut. Es wusste sehr genau, in gewissen Momenten war Widerspruch zwecklos, manchmal musste eine Bodenseelinie eben einfach weitergeführt werden. Wer zuerst in Craiova sei: Ich!, in Bukarest: Ich!, in Sewastopol: Ich!, in Krasnodar: Ich!, trompetete das Kind, rannte los und trabte die weiten Wege wieder zurück.

Und genauso hatte sich Lisette, als sie selbst gerade kein Kind mehr war, das Leben mit einem Kind vorgestellt, wollte sie Linn später einmal erzählen: Als ein endloses Marschieren, Hand in Hand, zwei Wanderer beide, berstend vor Kraft, verschwitzt und hungrig, unerschrocken und mutig, mit der freien Hand Zäune, Mauern und Hecken entlangstreifend. Ein Dach oder gar ein Haus hatte sich nie in ihre Vorstellung geschoben. Schutz bot allein das ununterbrochene Weiterziehen bei jedem Wetter. Mit wilden Liedern von stürmischen Winden, geschnitzten Weidenpfeifchen, Stichen und Hieben, von schönsten Abendsternen und betrogenen Lieben auf den Lippen. Hinaus, hinauf, weiter, weiter, ohne einen Blick zurück von einem Ort zum anderen, sie und das Kind, ein winziges, friedliches Heer, leichtgemut und immer gleichbleibend leise heiter, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Es blitzt aus dem Gleis, wiederholte Linn. Wie einen lebhaften Tanz nahm Lisette es mit geschlossenen Augen wahr. Ein Flimmern, nicht brennend, sondern fordernd, ein Hin-und Herwiegen, schimmernd, wie ein funkensprühendes bengalisches Zündholz.

Von Kreuzlingen nach Krasnodar! Das R rollte! Der Zug rollte! Linn jubelte! So weit waren sie noch nie zusammen weggefahren.

Es war gestern Abend nach dem schweren Gewitter, als die Sonne noch einmal am Himmel erschien und die Linde vor Lisettes Küchenfenster wie gereinigt glänzen liess. Der Sommerdunst über dem See war längst einem scharfen Endsommerlicht gewichen, und wie jedes Jahr bedauerte sie, dass das träge Hochsommerflirren nicht mehr zu halten gewesen war. Nun schien die Sonne, als müsste sie die milden Hügelzüge rund um den Bodensee vor dem langen Herbstnebel noch einmal gerecht ausleuchten.

Linn schlief bereits. Vor dem Badezimmerspiegel zupfte Lisette ihre Augenbrauen und versuchte, den Pferdeschwanz in einen Dutt zu verwandeln. Der Blick einer Kamera auf einen weiblichen Hinterkopf mit Dutt sei ein russisches Zeichen für Warten, wusste sie von Tarkowskij, und der Dutt brachte sie dem Aussehen einer gelangweilten Russin des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts möglichst nahe.

Der blickdichte Vorhang aus Jeansstoff, mit dem das Kind in der hellen Jahreszeit das Dunkel zum Einschlafen selbst herbeischaffte, hing schon in der neuen Wohnung. Der Saum war behelfsmäßig mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt. Lisette beschloss, in ihrem eigenen Zimmer nur noch Futon und Leselampe zu dulden, als eine laue Zugluft die Postkarte von Vermeers Brief lesendem Mädchen im Gleichschritt mit einer Staubmaus übers Parkett taumeln ließ.

Liebe Lisette, stand auf der Rückseite der Karte, liebe gefährlichste Unruhe meines Lebens, als ob der holländische Meister von dir gewusst hätte. Alles wird gut, meine Schauspielerin! Lass die alte Welt hinter dir, die große, graue Stadt auf Sand! Nur mich nimm bitte mit. Und ein wenig größer geschrieben: Auf zu neuem Glanz im Süden am See, Dein Daniel.

Im Wohnzimmer warteten Bücherregale auf ihren Aufbau und das senfgelbe Sofa auf einen abendsonnebeschienenen Winkel, als gäbe es ein Gewohnheitsrecht auf milde Wärme. Den Wänden entlang stapelten sich Kartonkisten, von Helene irgendwo hingestellt. Der Umzug konnte ihr nicht schnell genug gehen, sie wollte weiter, nach Bregenz, noch am selben Abend. Sie stand mitten in den Proben zum ‹Menschenfeind›.

Die Küche war eingerichtet. Eingestopft, hatte Helene gemeint und ihren Hauptdarsteller Alceste einen Zwitter aus Ziegenbock und Gockel geschimpft. Eingestopft, das Kind wiederholte das Wort immer wieder, wollte es Daniel erzählen, es wollte alles sofort weitererzählen. Und während Lisette in den Umzugskisten nach Haarnadeln suchte, um ihren russischen Dutt festzustecken, rief Daniel an.

Mit dem Telefon in der Hand begann sie in der Küche auf und ab zu wandern. Sie zog das Kabel hinter sich her, sie kühlte die nackten Fußsohlen und versuchte gleichzeitig, ziegelrote Flecken im Steinboden aus den ockerbraunen, gelbweißlichen und schiefergrauen herauszuzählen. Dabei sprach sie mit Daniel über die Kampfscheidung seines Kanzleipartners, über Linns Lehrer, über den Vorteil großer Flure und über das Verschwinden ausgegossener Steinböden. Über Zwetschgen, als Kuchen, Kompott und Konfitüre. Über sein Kommen am nächsten Tag, ihrem großen Donnerstag, und den allgemeinen Trost hoher Räume.

Als Daniel von portugiesischen Zimmermädchen und Kellnern im Oberengadin, ihrer Sanftmut und ihrer ziellosen Bescheidenheit zu schwärmen begann, schien es Lisette, als stünde sie plötzlich auf der äußersten Kante des westlichen Europas. Auf portugiesischem Boden, barfuß, gebannt und erwartungsvoll. Den Rücken dem Festland zugewandt. Das Gesicht mutig im rauhen Wind. Daniel lachte über die Anziehungskraft dieses schweigsamen Menschenschlages ausgerechnet auf sie, Lisette. Warm glucksend schallte es durch die Telefondrähte von Hamburg nach Kreuzlingen. Ausgerechnet die Portugiesen!

Lisette holte ein Bier aus dem Eis, konnte den Flaschenöffner aber weder beim Besteck noch bei den Holzkellen noch in einer anderen Schublade finden. Eine Kirchenuhr schlug Mitternacht. Sie zählte die Schläge und rief sich die verschränkten Vorderpfoten eines naiv gemalten Appenzeller Sennenhundes ins Gedächtnis, dabei zitierte sie ihren kürzlich verstorbenen Großvater: ‹Das Arme-und-Beine-verschränken-Können gehört zum Privileg der Menschheit, und nur der Menschheit! Warum aber hat der Herr Maler einen Hund seine Pfoten verschränken lassen?›

Ihr Großvater nannte alle ihm verehrungswürdig scheinenden Männer ‹Herr›. Er sprach vom inneren Exil des Herrn Maler Dix in Hemmenhofen auf der Höri. Er sprach vom Herrn Jesus Christus am Kreuz. Manchmal fragte er Lisette: Wie geht es Herrn Daniel Fink?

Daniel schwärmte vom Blick des Hundemalers im schweizerischen Berlingen am Untersee auf das gegenüberliegende deutsche Ufer, die Höri. Er nannte ihn den Dix’schen Gegenblick. Bald verloren sie sich aber in der immer gleichen Frage: Ob man in einer fremden Stadt mit über vierzig noch eine Rechtsanwaltskanzlei gründen könne. Sowohl im Allgemeinen wie auch in Daniels Fall. Sie feixten über den Intendanten des Oldenburger Theaters, bis sie den Grund vergaßen und sich die Überlegung danach erübrigte. Sie sprachen über die Hitze von Augustnächten und noch ein wenig über das Kind.