Ein Inselreich

Ein Inselreich

Helmut Pisecky

Seifert Verlag

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Anmerkungen

Der österreichischen Beamtenschaft gewidmet

»Seneca war der Meinung, der kluge Stoiker solle sein Engagement für das öffentliche Wohl einstellen, wenn man nicht auf ihn hört und das Staats­wesen unwiderruflich korrumpiert ist. Es zeugt von größerer Weisheit zuzuwarten, bis es sich selbst zerstört.«

Nassim Nicholas Taleb, Kleines Handbuch für den Umgang mit Unwissen

Prolog

Er legte das Messer in aller Ruhe auf dem schlichten Holztisch ab, ohne dabei auf die Blutspuren zu achten, die die Mordwaffe dort hinterlassen würde. Das Röcheln war längst erstorben, nur das ruhige Atmen des Mörders war im Raum zu hören. Von draußen drang das rhythmische Rauschen des Meeres herein, in den Palmkronen säuselte der nächtliche Wind.

Es war viel einfacher gewesen, als er jemals gedacht hätte. Wenn nur der Dolch nicht zufällig auf dem Tisch gelegen wäre! Aber nun war es zu spät, die Entscheidung war gefallen. In einem unbeachteten Moment das Messer fest in die Hand nehmen, aber nicht zu fest, bloß nicht die Hand verkrampfen. Dann kam alles auf den richtigen Moment an. Er hatte nicht von hinten zustechen wollen, das wäre nicht angemessen gewesen. Schließlich war dies kein heimtückischer Mord, vielmehr ein Akt der kollektiven Selbstverteidigung. Das Inselreich musste gerettet werden, das konnte mitunter drastische Maßnahmen erforderlich machen. Wie kann man nur so verstockt sein, ohne Verständnis für die große Verantwortung, die jeder trägt, der die Wahrheit kennt? Nun, er hatte den Preis dafür bezahlt!

Dann der Gesichtsausdruck des Opfers, als er zustach. Hatte er eher überrascht oder enttäuscht gewirkt? Enttäuscht darüber, dass seine Suche nach der Wahrheit, nach der wahren Wahrheit so honoriert worden war? Oder hatte er geahnt, wohin ihn dieser Weg führen würde? Er hatte doch nicht wirklich annehmen können, dass diese subversive Wühlarbeit unbemerkt bleiben würde. Wer Fragen stellt, fällt schließlich auf. Vor allem, wenn man diese Art von Fragen stellte und die Ordnung unterminierte. Die Ordnung musste schließlich aufrechterhalten werden! Der Entschluss war ihm schwergefallen, aber der Kaiser hätte diese drastische Maßnahme sicher goutiert.

Nun musste zunächst die Leiche beseitigt werden. Die Leiche beseitigen: Diese Phrase erinnerte ihn zu sehr an einen ordinären Meuchelmord. Er drehte und wendete den Satz so lange, bis er eine bessere Formulierung gefunden hatte: Der Verräter war zur Verantwortung gezogen worden, nun mussten die Spuren beseitigt werden. Der Staat und der Zusammenhalt des Inselreiches waren geschützt worden, auch das klang brauchbar. Er hatte angesichts der Notlage das Nötige getan, das war sicher. Der Kaiser hätte das ebenso gesehen.

Es entsprach nicht seinem Selbstverständnis, den leblosen Körper einfach zu verscharren. Auf einer kleinen Insel mit knapp 400 Einwohnern würde man das Verschwinden des bekanntesten Journalisten ohnehin rasch bemerken. Da war es viel besser, das Versteckspiel gleich zu vermeiden und stattdessen den Stier bei den Hörnern zu packen. Er würde die Leiche einfach hier liegen lassen, nur das Messer wollte er an einer abgelegenen Stelle ins Meer werfen. Er wollte schließlich nicht das Risiko eingehen, doch noch aufzufliegen. Die Welt da draußen hatte sich verändert, und wer wusste schon, über welche technischen Möglichkeiten die Gendarmerie inzwischen verfügte. Man lebte ja nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, auch wenn dies die offizielle Lesart war …

Er löschte die Kerze und öffnete vorsichtig die Tür. Keine Menschenseele auf der nächtlichen Straße, nur die Wellen und der Wind waren zu hören. Niemand bemerkte, wie er einen länglichen Gegenstand unter seinem Umhang verbarg, langsam und leise aus dem Haus schlich und im Dunkel verschwand.

Er hatte zweifellos das Richtige getan. Das Inselreich war auf dem Spiel gestanden, Chaos und Anarchie hatten gedroht. Der Kaiser würde für die Tat Verständnis zeigen, wer sollte sich denn besser auf die Notwendigkeiten der Staats­räson verstehen? Vielleicht würde er ihn, seinen treuen Diener, sogar auszeichnen? Wofür eigentlich auszeichnen? Dafür, dass er sich schuldig gemacht hatte im Namen des Reichs? Würde sich der Kaiser damit nicht selbst beflecken? War der Kaiser nicht geradezu gezwungen, ihn den Schächern auszuliefern, um die Reinheit der Krone zu bewahren? Hatte er das Richtige getan?

Es war zu spät, um darüber nachzusinnen. Jetzt musste er nur noch warten, bis die Leiche entdeckt würde, und dann die notwendigen administrativen Schritte einleiten. Vor allem würde er das tun, was von einem treuen Diener des österreichischen Staates zu Recht erwartet wurde: bei der zuständigen Behörde Meldung erstatten. Ordnung musste schließlich sein, wo käme das Inselreich sonst hin? Andernfalls wäre alles umsonst gewesen …

1

Herr Direktor, Chefinspektor Graf wäre jetzt da!«

Der Behördenleiter sah von seinem Handy auf, auf dem er gerade die letzten Mails quergelesen hatte.

»Ah, ja, er soll gleich reinkommen.«

»Herr Graf, Sie können gleich weitergehen«, war es leise aus dem Vorzimmer zu hören.

Chefinspektor Eberhard Graf, 46 Jahre alt, trat mit misstrauischem Blick in das Büro. Der kurz getrimmte Vollbart des Ermittlers war schon ein wenig angegraut, andererseits hatten Zeit und Stress seinem dichten, vollen Haar kaum etwas anhaben können. Die Vorliebe des Chefinspektors für Hausmannskost und Gerstensaft hatte sich hingegen deutlich sichtbar niedergeschlagen. Nur gut, so dachte er hin und wieder, dass die moderne Polizeiarbeit in der Regel eher intellektuelle als körperliche Höchstleistungen erforderte. Die ruhige Behäbigkeit, die er auf den ersten Blick ausstrahlte, stand in krassem Gegensatz zu seinem markanten Kinn und den blitzenden Augen, die eine tief sitzende Lust an der detektivischen Arbeit verrieten. Eine Freude am Beobachten, Kombinieren, Analysieren, Nachdenken und Zusammenzählen, die im besten Fall im erfolgreichen Abschluss eines Falles mündete. Es war der pure Jagdinstinkt, der ihm seine Energie verlieh und ihn motivierte. Jetzt, da diese Kraft brachlag, da der Bore-Out das größte Berufsrisiko darstellte, wurde ihm diese Tatsache jeden Tag aufs Neue schmerzlich bewusst.

Die Krawatte über dem weißen Hemd war sorgfältig gebunden. Heute war die rot-blau gestreifte an der Reihe, die Graf nicht besonders mochte. Aber der Trick funktionierte: Er wechselte täglich die Krawatte, sodass bisher kaum jemandem aufgefallen war, dass er seit Jahr und Tag denselben dunkelgrauen Anzug trug, den er indes sorgfältig pflegte. Ein genauerer Blick hätte allerdings enthüllt, dass Graf in Bezug auf Schuhe und sonstige Accessoires solche Sorgfalt vermissen ließ. Er war sich seiner Nachlässigkeit durchaus bewusst, dennoch hielt er seinen amtsinternen Spitznamen – Chef­inspektor Columbo – für reichlich unpassend.

Die Aufforderungen zu einem Gespräch mit dem Chef waren grundsätzlich unangenehm, zumal man in der Regel nicht erfuhr, um welche Angelegenheit es sich handelte. Meist ging es dabei um angebliche oder tatsächliche Verfehlungen, die sich oft genug als Getratsche missgünstiger Kollegen herausstellten. Absurder, so dachte sich Graf in diesem Moment, waren nur die Karrieregespräche mit dem unmittelbaren Vorgesetzten. Im öffentlichen Dienst hatte er den Begriff »Karriere« immer für etwas unfreiwillig Komisches gehalten, aber vielleicht war er einfach schon zu lange bei der Polizei.

»Nehmen Sie Platz, mein lieber Graf! Kaffee?«

»Gern, Herr Direktor!« Er setzte sich an den ausladenden Besprechungstisch und versuchte, möglichst selbstsicher zu wirken. Es wollte ihm nicht so recht glücken, dafür kannte ihn der Direktor wohl schon zu lange.

Der Direktor ging zur Tür. »Zwei Kaffee, Frau Woschnagg! Sie wissen ja, wie ich ihn trinke.« Dann schloss er die Tür, nahm einen dünnen Aktenordner von seinem Schreibtisch und setzte sich zu Graf an den Besprechungstisch. Eine rote Kartonhülle, dachte Graf. Seiner Erfahrung nach bedeutete dies selten etwas Gutes. Aber wahrscheinlich war er heute einfach nur schlechter Stimmung. An diesem kalten und trüben Novembermorgen konnte man es ihm kaum verübeln.

»Wie geht es Ihnen, mein lieber Graf?«, fragte der Direktor, und er bemühte sich, dabei zumindest oberflächlich empathisch zu wirken.

Graf war nicht beeindruckt. »So wie die anderen wollen, dass es mir geht, Herr Direktor.«

Der Behördenleiter überging die spitze Bemerkung. »Sie wissen, mein lieber Graf, dass ich Sie sehr schätze! Wäre es nur nach mir gegangen, so hätte ich Sie in der Mordkommission belassen und nicht auf den Posten zur besonderen Verwendung versetzt. Mir ist schon klar, dass Sie sich dort ein wenig auf dem Abstellgleis fühlen. Sie sollten das übrigens nicht persönlich nehmen. So eine vorübergehende Einteilung kann jeden treffen, der …«

»… das falsche Parteibuch hat«, führte Graf den Satz zu Ende. »Besondere Verwendung ist übrigens ein wenig hoch gegriffen. Zumindest ein eigenes Telefon hätte man mir symbolisch auf den Schreibtisch stellen können.«

»Jetzt seien Sie mal nicht zu empfindlich, mein lieber Graf. Sie wissen doch selbst, wie es hier in Österreich läuft! Mal bleibt die Roulettekugel auf der einen Farbe liegen, dann wieder auf der anderen. Und bei jeder Wahl wird die Kugel neu geworfen.«

Der Direktor überlegte kurz, dann setzte er fort: »Übrigens, mein lieber Graf, und das soll jetzt überhaupt nicht sarkastisch klingen: Aber was machen Sie derzeit eigentlich den ganzen Tag?«

Der Chefinspektor räusperte sich. »Äh, ich betreibe Fort- und Weiterbildung im Selbststudium, Herr Direktor!«

»Was?«

»Rein methodisch kann man von Hercule Poirot noch einiges lernen. Schauen Sie: Es gibt da einen deutlichen Unterschied zu Sherlock Holmes. Der eine verwendet die induktive, der andere die deduktive Methode, zum Beispiel im Roman …«

»Ist gut, ich kenn mich aus. Also, zurück zum Thema!«

»Sehr wohl, Herr Direktor!« Graf klang resigniert, dabei war es eher Gleichgültigkeit, vermischt mit ein wenig Ironie. Der Chefinspektor blieb misstrauisch. Zumindest konnte es sich bei dem knallroten Ordner nicht um seinen Personalakt handeln, dafür war er eindeutig zu dünn.

»Eigentlich, mein lieber Graf, wollte ich mit Ihnen nicht über Ihre, nun ja, vorübergehend wenig zufriedenstellende Position sprechen.« Der Direktor bemühte sich sichtlich, das Gespräch wieder in freundliche Bahnen zu lenken. »Das heißt: Doch, es geht natürlich schon um Ihre Arbeit.« Er nahm den Aktenordner in die Hand und schlug ihn sorgfältig auf. Dann entnahm er dem Karton eine Plastikfolie, die ein offensichtlich handschriftlich erstelltes Schreiben enthielt. »Sehen Sie sich das hier mal an, mein lieber Graf. Können Sie diese Schrift lesen?«

Der Chefinspektor warf einen Blick auf das Dokument. Offensichtlich handelte es sich um einen mit großer Sorgfalt handgeschriebenen Brief. Links oben der Absender, rechts das Datum, darunter ein Fließtext. Große, schlanke Anfangsbuchstaben, gefolgt von gezackten, kaum unterscheidbaren Kleinbuchstaben. Das elegante und geordnete Erscheinungsbild des dicht beschriebenen Blatts stand in seltsamem Kontrast zur Lesbarkeit. Graf vermutete, dass es mit einer Füllfeder geschrieben worden war, an der Oberkante waren undeutliche Spuren eines Stempelabdrucks zu erkennen. In der Plastikfolie befand sich auch das Kuvert, in dem der Brief eingetroffen war. Anscheinend hatte der Schreiber des Briefes auch den Umschlag beschriftet. Ein Wunder, dass die Postbeamten das Schreiben richtig zugestellt hatten. Hatten sie es überhaupt richtig zugestellt? Graf nahm das Kuvert aus der Folie und begutachtete die sorgfältig aufgeklebten Briefmarken. »Der Brief ist in Kiribati aufgegeben worden?« Er sah den Direktor ratlos an. »Kiribati? Ist das nicht im ­Pazifik?« Der Direktor lehnte sich zurück und nickte.

Der Chefinspektor nahm das Blatt vorsichtig aus dem Ordner und hielt es gegen das Licht. »Sie erwarten von mir doch nicht, dass ich das entziffere, Herr Direktor? Nach dem Schriftbild würde ich sagen, dass der Brief aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, aber da müsste man wohl einen Experten fragen.«

Der Direktor lächelte triumphierend. »Das ist bereits geschehen, mein lieber Graf! Wir haben uns dafür allerdings an einen Historiker wenden müssen, der Sprache, Formulierung, Buchstabenform und so fort analysiert hat. Das mit dem neunzehnten Jahrhundert dürfte wohl stimmen, sehr scharfsinnig!«

»Danke. Und? Was steht in dem Brief?«

»Wir haben uns den gesamten Text transkribieren lassen. Wir kennen jetzt den Inhalt. Ich weiß nur noch nicht, ob es sich um einen guten oder einen schlechten Scherz handelt.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Hier ist die Transkription, sie werden noch Gelegenheit zum detaillierten Studium haben. Ich gebe Ihnen einfach mal die Kurzfassung, dann sage ich Ihnen, was Sie davon zu halten haben.« Er räusperte sich. »Ich meine, dann würde ich gerne wissen, was Sie davon halten. Also, das Schreiben wurde vor etwa drei Wochen in einem Ort namens ›Novara, Neu-Österreich‹ geschrieben und offensichtlich in Kiribati aufgegeben. Es ist vor drei Tagen bei uns eingetroffen, per Dienstpost vom Verteidigungsministerium. Dort ist es ursprünglich eingegangen, dann aber wegen Unzuständigkeit an uns weitergeschickt worden. Wir haben inzwischen bei der Post nachgefragt und die Zustellung rekonstruieren können. Der Brief ist über Kiribati, Neuseeland und Australien transportiert worden. Kiribati, ja, die Insel im Pazifik, die nahe an der Datumsgrenze liegt. Kurzum, irgendein Scherzbold muss sich da große Mühe gegeben haben.«

Der Chefinspektor hörte aufmerksam zu und schüttelte den Kopf: »Verteidigungsministerium? Ich verstehe nicht ganz, was …«

Der Direktor warf einen kurzen Blick auf den Besprechungstisch, sprang auf und ging zur Tür. »Frau Woschnagg, wie geht’s denn meinem Kaffee?« Graf hörte ein erschrockenes »Oh, Entschuldigung«, gefolgt von hektischem Stuhlrücken.

Dann schloss der Direktor die Tür und setzte sich kopfschüttelnd wieder auf seinen Platz. »Also, zurück zum Thema: Das Schreiben wurde von einem gewissen Anote von Bonholtz verfasst und unterschrieben, der sich als ›Inselhauptmann‹ bezeichnet und – und jetzt kommen Sie ins Spiel, mein lieber Graf – einen Mordfall zur Anzeige bringt. Über eine Insel namens ›Neu-Österreich‹ liegen hier selbstverständlich keine Unterlagen vor. Auffallend ist auch die Form des Briefes, wie Sie ja bemerkt haben. Alles wirkt so, als würde es aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen, die Form, der Inhalt, die Schrift, selbst die Sprache. Außerdem war das Schreiben an das ›k.k. Ministerium für Landesverteidigung, k.k. Gendarmerie‹ adressiert. Wie Sie wissen, war die Polizei im neunzehnten Jahrhundert Teil des Verteidigungsministeriums, darauf scheint sich diese seltsame Adressierung zu beziehen. Aber das wissen Sie natürlich.« Der Chefinspektor war nicht beeindruckt. Wahrscheinlich, so dachte er, hat sich der Direktor gerade erst den Wikipedia-Artikel über die österreichische Gendarmerie von Frau Woschnagg ausdrucken lassen. Graf nickte langsam und sagte kein Wort. »Also, was halten Sie davon, mein lieber Graf?«

»Vielleicht eine Verzögerung?«

»Was meinen Sie?«

»Naja, vielleicht wollte uns ja wirklich jemand einen Streich spielen. So um 1850 herum, und der Brief hat halt besonders lange zu uns gebraucht. Ich hab auf ein Paket einmal vier Monate …«

»Ich glaube, mein lieber Graf, dass Sie die Sache nicht ernst genug nehmen! Faktum ist, dass wir uns der Angelegenheit annehmen. Und wenn ich sage ›wir‹, dann heißt das natürlich, dass Sie sich darum kümmern werden. Ich möchte jedenfalls nicht der Anlass dafür sein, dass die Ministerin wegen Untätigkeit einer Behörde eine parlamentarische Anfrage bekommt, verstehen Sie?«

»Jawohl, Herr Direktor!«

»Also zurück zu dem Brief.« Der Direktor legte die einzelnen Dokumente wieder sorgfältig in den Ordner. »Zumindest mir ist so eine Kuriosität im Lauf meiner bisherigen Karriere nicht untergekommen«, setzte er seinen Vortrag fort, »und dann ausgerechnet Kiribati. Kiribati! Die haben ja auch keine Botschaft in Österreich, bei der man einfach mal nachfragen könnte. Nun ja.« Der Direktor atmete tief durch. »Das alles wird uns natürlich nicht davon abhalten, unserer Zuständigkeit nachzukommen.«

»Ich verstehe aber noch immer nicht, Herr Direktor«, erwiderte Graf nach einer kurzen Pause, »was das Ganze mit uns zu tun hat, wenn auf einer Insel im Pazifik jemand ermordet wird? Und selbst wenn sich diese Insel als ›Neu-Österreich‹ bezeichnet, hat das ja nichts zu bedeuten. Wenn in einem Neuengland-Staat der USA ein Mord verübt wird, dann wird auch nicht Scotland Yard tätig, sondern die lokale Polizei.«

Frau Woschnagg unterbrach die Besprechung. Sie klopfte vorsichtig an, kam mit einem Tablett herein und stellte zwei Tassen Kaffee auf den Besprechungstisch. Dann verschwand sie ebenso unauffällig, wie sie hereingekommen war. Erst als sie die Türe geschlossen hatte, nahm der Direktor das Gespräch wieder auf.

»So einfach ist das leider nicht, mein lieber Graf«, setzte der Direktor an. »Wir haben diese Frage natürlich auch intern erörtert und sind zu dem Entschluss gekommen, uns um diese Sache zu kümmern. Erstens können wir nicht ausschließen, dass in irgendeiner Art und Weise eine Zuständigkeit unsererseits besteht, zumal die Tat ja direkt an das österreichische Verteidigungsministerium zur Anzeige gebracht worden ist. Anders ausgedrückt: Die Sache ist bereits aktenkundig. Außerdem handelt es sich um ein Offizialdelikt, wir können es also nicht einfach ignorieren.« Er atmete tief ein. »Darüber hinaus habe ich den kuriosen Fall bereits der Frau Bundesminister vorgetragen.«

»Und? Was hat sie gesagt?«

»Ich zitiere wörtlich: ›Kümmert’s euch darum.‹ Meines Erachtens ist das eine eindeutige Willensbekundung der politischen Führung. Wir sollten das entsprechend würdigen, kommt schließlich nicht allzu oft vor. Ach ja, noch etwas, mein lieber Graf. Aufgrund der aktuellen Grippewelle sind ein paar Dienstreisen nach Brüssel ausgefallen. Da sich das Jahr dem Ende zuneigt, laufen wir Gefahr, am 31. Dezember noch zu viel Geld aus dem Reisebudget nicht ausgegeben zu haben. Sie verstehen, Herr Chefinspektor?«

Graf lehnte sich zurück. Langsam wurde im klar, wohin die Reise ging, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. »Jawohl, Herr Direktor. Was erwarten Sie also von mir?«

»Nun, ich gehe nach wie vor davon aus, dass es sich dabei um einen Scherz oder zumindest ein Missverständnis handelt. Wenn ich Sie mit der Aufklärung des Falles offiziell beauftrage, dann sollten Sie das also auch als Zeichen der Wertschätzung betrachten, in Form eines quasi dienstlichen Badeurlaubs im Pazifik. Es ist bereits alles organisiert. Sie werden Ende nächster Woche über Australien nach Kiribati fliegen und dort bei den lokalen Behörden vorsprechen. Man wird Sie dort schallend auslachen, dann werden Sie darüber einen Aktenvermerk anlegen und anschließend eine Woche am Strand liegen. Nach Ihrer Rückkehr wird die Sache zu den Akten gelegt und abgeschlossen, womit wir alle unsere Pflicht erfüllt haben, verstehen Sie? Ich kümmere mich inzwischen um die Staatsanwaltschaft, den Untersuchungsrichter und die sonstigen Formalitäten. Nun, wie klingt das für Sie, mein lieber Graf?«

»Ich bin etwas ratlos, ehrlich gesagt. Ich würde zur Sicherheit aber gerne noch ein paar Ermittlungen vor meiner Abreise anstellen. Wann, haben Sie gesagt, geht mein Flieger?«

»In einer Woche. Das ist übrigens eine gute Idee. Tun Sie also so, als würden Sie ermitteln!« Der Direktor lachte kurz auf, dann wurde er plötzlich wieder ernst. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Bringen Sie mir eine Postkarte aus Kiribati mit, mit Meer und Strand und dem ganzen Grünzeug.«

»Palmen, Herr Direktor?«

»Kakteen, mein lieber Graf! Es muss dort ganz großartige Exemplare davon geben.« Der Direktor dachte kurz nach, dann drückte er dem Chefinspektor den Aktenordner in die Hand. Er trank einen Schluck Kaffee, stand auf und fügte noch hinzu: »Das wäre alles. Gute Reise!« Der Direktor wirkte sehr zufrieden mit sich. Eberhard Graf wusste nicht so recht warum.

2

Frau Doktor Stelzhammer? Bin ich richtig bei Ihnen?«

»Ja, kommen Sie nur herein! Chefinspektor Graf vom Bundeskriminalamt, nicht wahr?«

»Ja, genau. Entschuldigen Sie meine Zurückhaltung … Ich hatte am Staatsarchiv nicht gerechnet mit …«

»Einer jungen Frau als Forscherin? Ja, es ist vielleicht etwas überraschend, aber hier arbeiten nicht nur alte Jungfern und vertrocknete Bürokraten. Das Staatsarchiv ist nämlich eine höchst dynamische Institution!« Sie lächelte ihn verbindlich an. Hübsch, dachte er, wenn sie nur nicht diese extravagante Brille tragen würde, die sie wie eine Eule aussehen lässt. Irgendwie schien Frau Doktor Stelzhammer ganz gut in ein Archiv zu passen.