Wölfe im Frühling

Wölfe im Frühling

Ein Leben im Zeichen der Diktatur

Mijo Jurić

Seifert Verlag

Inhalt

Vorwort

1. Zwei, drei Worte am Anfang

2. Wo alles begann …

3. Kindheit in Drijenča

4. In der Stadt

5. 1966, Tito zu Gast in Tuzla

6. Bei den Dominikanern in Bol

7. Provokateur

8. Tuzla

9. Zagreb

10. Tuzla (II)

11. Der Streik

12. Karađorđevo

13. Das Gefängnis

14. Die Flucht

15. Die Todeszelle

16. Sarajevo

17. Die Reise beginnt

18. Im Orient-Express

19. Wien

20. Flüchtlingslager Traiskirchen

21. Deutschland

22. Bad Reichenhall

23. Salzburg

24. Flüchtlingslager Traiskirchen (II)

25. Die siebente Verhaftung

26. Wiener Neustadt

27. Der Hungerstreik

28. Verzweiflung

29. Gerichtsverfahren in Wiener Neustadt

30. Wien (II)

31. UDB-a-Terror in Tuzla

32. Der »deutsche« Agent

33. »Aktion Rama«: Die UDB-a in Wien

34. Der Minister

35. 1979: Aktion »Krk«

36. Nachtrag

Nachwort: Bosnien von damals bis heute

Danksagung des Autors

Anmerkungen

Vorwort

Wir haben in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg ein demokratisches System geschaffen und schrittweise ausgebaut. Trotzdem konnten wir uns nicht wirklich glücklich und sicher fühlen, solange in unmittelbarer Nachbarschaft menschenverachtende Ideologien und Diktaturen herrschten. Man kann sich doch nicht restlos glücklich schätzen, wenn nur einige hundert Meter jenseits der Staatsgrenze Menschen unterdrückt, gefoltert und in jeder Hinsicht diskriminiert werden.

Natürlich haben Diplomaten und Politiker des Westens immer wieder durch Vorsprachen und eindringliche Appelle versucht, von außen Erleichterungen zu erreichen. Aber viel Erfolg hatten sie damit nicht. Umso wichtiger ist es, den Widerstand der betroffenen Menschen öffentlich zu machen ebenso wie die Tatsache, dass sie sich die demokratischen Errungenschaften in ihren Ländern selbst erkämpft haben.

Wir Österreicher haben großen Respekt, ja Bewunderung, für die Menschen in diesen Diktaturen empfunden, die aufgestanden sind und mutigen Widerstand geleistet haben. Dafür haben viele von ihnen oft jahrelange Haftstrafen erleiden müssen. Um ihr nacktes Leben zu retten gingen manche das Risiko einer abenteuerlichen Flucht in den demokratischen Westen ein. Nicht wenige fanden dabei den Tod.

Jedes Flüchtlingsschicksal mit politischem, religiösem oder rassischem Hintergrund ist eine Tragödie. Das bedeutet immer zuerst Verfolgung, Folter, Haft und als „Rettung“ dann Heimatverlust, Trennung von Familie und Freunden und eine ungewisse Zukunft. Mijo Jurić, der Autor des vorliegenden Buches, hat diese traurige Erfahrung schon im Alter von 17 Jahren machen müssen.

Er kam aus dem ehemaligen Jugoslawien, das vielfach nicht als Land des Ostblocks, sondern als neutralistischer Staat angesehen wurde. Durch den Bruch mit Stalin im Jahre 1948 verstand es Josip Broz Tito, begünstigt durch die besondere geopolitische Lage seines Landes, jahrzehntelang mit seiner Schaukelpolitik in Zeiten des „Kalten Krieges“, sein Regime als „Diktatur mit menschlichem Antlitz“ zu verkaufen. Dabei wurden leichtfertig übervolle jugoslawische Gefängnisse und Gulags, Unterdrückung jeder freiheitlichen Initiative und die ungeheure Brutalität des kommunistischen, jugoslawischen Geheimdienstes übersehen. Das bittere Ende dieses Staates und der kommunistischen Regime in Europa überhaupt ist hinlänglich bekannt. Wir Österreicher haben das als Bewohner des Nachbarlandes hautnah miterlebt.

Durch die Lektüre des Buches „Wölfe im Frühling“ erfährt man vieles, von dem man als einzelner Bürger, Tourist oder sogar als Politiker nichts gewusst bzw. gesehen hat. Es ist nicht nur spannend zu lesen, sondern eindeutig ein zeitgeschichtliches Dokument, auch aus österreichischer Sicht.


Dr. Alois Mock

Vizekanzler a. D. und Außenminister a. D.

der Republik Österreich

1

Zwei, drei Worte am Anfang

In den letzten Jahren erschienen in Kroatien und Bosnien und Herzegowina eine ganze Reihe von Büchern über Verfolgung von politischen Flüchtlingen durch den berüchtigten jugoslawischen kommunistischen Geheimdienst UDB-a1. Es wurden sowohl viele Täter/Agenten als auch ihre Opfer katalogisiert.2

Darin wurden Auszüge aus Dossiers veröffentlicht, die diese Spionageorganisation über viele Kroaten, die dem Jugoregime und dem »Waldmarschall« Josip Broz Tito verdächtig waren, gesammelt hatte. In all diesen Büchern wird auch mein Name erwähnt. Nichts Besonderes eigentlich. In den UDB-a-Geheimakten stehen auch die Namen der Personen, die mich bespitzelt und jene ungeheuerlichen Anschuldigungen gegen mich erhoben haben, die mich über viele Jahre in Lebensgefahr brachten: die »UDB-aschi«, die auch eiserne Faust des Jugoregimes genannt wurden. Kazimir Katalinić3 spricht in diesem Zusammenhang von »Moral-Gesindel«. Die jugoslawische Kommunistische Partei und die UDB-a waren dazumals eins, »ein Körper und eine Seele!«

Mitte der 80er Jahre wurde meiner Familie durch einen Lehrer aus unserer Volksschule – »natürlich« ein Mitglied der Partei – diskret mitgeteilt, dass unser Nachbar C. J. beauftragt sei, unser Haus zu überwachen! Und diesen Auftrag hatte er nicht von der UDB-a erhalten, sondern – von der Kommunistischen Partei!

Erst Ende April 2006 sprach ich in Tuzla zufällig mit einem ehemaligen UDB-a-Agenten, der mir gestand, dass er ab dem Jahr 1977 mit glühender Begeisterung für die UDB-a gearbeitet hatte, um Jugoslawien und Präsident Tito zu schützen. Fünf Sicherheitsringe, sagte er, seien um Tito formiert gewesen, und wenn es ihnen an Staatsfeinden gemangelt habe, dann hätten sie selbst welche erfunden! »Keine Information – kein Geld!«, habe die Parole in den Reihen der UDB-a gelautet. Dann seien sie eben an den Abenden in die Gasthäuser gegangen, hätten völlig unbescholtene Männer unter Alkohol gesetzt und ihnen zweifelhafte politische Aussagen abgerungen. Heute wisse er, dass er eine schmutzige Arbeit verrichtet habe, aber damals sei die UDB-a ständig damit beschäftigt gewesen, die Notwendigkeit ihrer eigener Existenz unter Beweis zu stellen. Und nur durch stete Erfolge hätten sie sich Geld und Privilegien sichern können.

Die Opfer der auf solche Art zustande gekommenen Unterstellungen mussten außer einer meist langjährigen Haftstrafe dauerhafte Verfolgung, totale Ausgrenzung aus der Gesellschaft, Vorenthaltung wirtschaftlicher oder kultureller Erfolge, Ausreiseverbote und ähnliche Sanktionen ertragen. Nur unwesentlich milder ging man gegen die Familienmitglieder solcher »Staatsfeinde« vor! Oft mussten sie sich glaubhaft von den gebrandmarkten Angehörigen distanzieren und dem Tito-Regime mit Spitzeldiensten ihre Ergebenheit beweisen.

Bis zum heutigen Tag, also genau zwanzig Jahre nach dem Zerfall des Kommunismus im ehemaligen Jugoslawien, ist mir kein einziger Fall bekannt, dass sich einer der UDB-a-Agenten bei seinem Opfer entschuldigt oder gar um Vergebung gebeten hätte. Vielmehr halten sie sich selbst für die Opfer einer ungerechten Hetze! Als diese Spitzel und Mitarbeiter des UDB-a in den Jahren 1990/91 in Massen »entlassen« wurden, verordnete man ihnen auch strengste Geheimhaltung. Sie halten sich daran, bis heute. Sie scheinen zudem noch immer bestens vernetzt zu sein, und beschützen sich gegenseitig.

Da ich nicht zulassen will, dass die UDB-a-Unterstellungen gegen mich weiterhin für bare Münze gehalten werden, habe ich mich spontan entschlossen, dieses Buch zu schreiben und darin die Wahrheit zu bezeugen: Dies ist die Geschichte eines bosnisch-kroatischen Gymnasiasten, eines 18-jährigen Rebellen und Antikommunisten, der, geleitet durch die Liebe für sein Volk und seine Heimat, in den Jahren der kroatischen Studentenbewegung 1971 plötzlich aus der Wärme der vertrauten heimatlichen Umgebung gerissen wurde. Dies ist ein authentisches Dokument, eine kleine persönliche Geschichte. Aber Hunderte und Tausende solcher kleinen persönlichen Geschichten bilden die große Epoche, die in die kroatische Geschichte als der Kroatische Frühling 1971 eingegangen ist.

2

Wo alles begann …

Von Zagreb nach Split zehn Stunden Fahrt! Dazu die schreckliche Juli-Hitze, ohne Klimaanlage der glühenden Sonne ausgesetzt. Zum Glück war ich allein unterwegs. Eine halbe Stunde ging es voran, und dann folgte genauso lang Stillstand, ohne ersichtlichen Grund. Doch, fiel mir ein, es war Samstag, und wie immer im Sommer fand an den Wochenenden der große Urlauberwechsel statt. Von Gračac in Richtung Knin und weiter nach Split ging es plötzlich wieder zügig voran. Um etwa 19 Uhr kam ich nach Split und fuhr gleich Richtung Hafen. Weil die nächste, zugleich die letzte Fähre nach Supetar erst um 21 Uhr fuhr, nutzte ich diese unerwartete Gelegenheit, das Dominikanerkloster in der Hrvojeva-Straße, gleich hinter dem Markt und unmittelbar neben dem Diokletianpalais, zu besuchen. Dort lebte mein alter Latein-Professor, Pater Kerubin Mekjavić, dem ich bei unserem letzten Treffen vor einiger Zeit verschiedene Skripten und Kopien versprochen hatte. Außerdem musste ich mich bei ihm bedanken, weil er mir ein Zimmer in Bol organisiert hatte.

Pater Kerubin Mekjavić war schon weit über 80, aber wir unterhielten uns eine halbe Stunde überaus angeregt. Beim Abschied schenkte er mir ein Buch (»Dass dir nicht langweilig wird in Bol!«), und im Speisesaal warf er mir noch heimlich einige Feigen und Pflaumen in eine Papiertüte (»Für die Überfahrt!«). Dann verabschiedete sich mein alter Professor und Klassenvorstand von mir in einer Art, die vermuten ließ, dass es für immer sein würde.

Trotz meiner Müdigkeit war die Fahrt auf der Fähre Lastovo für mich ein echter Genuss. Meeresluft, wundersamer abendlicher Blick auf die Stadt Split, die Röte auf der offenen See, und das Gefühl, endlich im Urlaub und dem Ziel nahe zu sein, das alles verschaffte mir Entspannung und Zufriedenheit. Bald erreichten wir die Insel Brač, und von der Stadt Supetar aus führte mich mein Weg über die kurvenreiche Inselstraße nach Bol. Ich hatte es eilig, denn ich wusste, dass das Empfangspersonal meinetwegen länger im Dienst blieb. Und wie jedes Mal, wenn ich auf die südliche Seite der Insel gelange und unten in der Tiefe Bol erblicke, überkam mich ein Entzücken, das schwer zu beschreiben ist, getragen von dem Gefühl des Heimkommens, der Rückkehr dorthin, wohin die Träume dich immer wieder entführen. Mein Bol ist voller Perlen, aber die zwei schönsten liegen an seinen Grenzen; an einem Ende ist es der berühmte und einzigartige Strand Zlatni rat (»Goldenes Horn«) und am anderen das Dominikanerkloster.

Es war schon ziemlich spät, als ich endlich zum Dominikanerkloster kam. Leichte Bora erfrischte den Abend und strich durch die Kronen der riesigen Pinienbäume vor dem Klostergebäude. Sofort erkannte ich die einzigartige Melodie der Bora in den Pinien, wie damals, vor 35 Jahren, als ich sie das erste Mal wahrgenommen hatte. Tausende solche Bäume wachsen in Kroatien, Millionen davon auf der ganzen Welt, aber diese Musik entströmt nur den Pinien rund um das uralte Kirchlein der Heiligen Johannes und Theodor aus dem 9. Jahrhundert, vor dem fünfhundert Jahre alten Kloster in Bol. Für mich war dies immer ein besonderer Ort, geprägt von reicher Geschichte und vielfältiger Schönheit. Diese Musik der Bora in den Kronen meiner Pinien, das Tönen und Brausen, seit ich sie vernommen habe, klingt sie mir schöner als jede andere Melodie!

Mir wurde das Zimmer Nummer 23 zugeteilt, eine typische karge Mönchzelle, genauso wie ich es erwartet hatte. Von Müdigkeit übermannt, schlief ich bald tief und fest ein, froh, ohne größere Schwierigkeiten an mein Reiseziel gekommen zu sein.

Am nächsten Morgen weckten mich die Kirchenglocken. Ich stand auf, und noch vor dem Frühstück suchte ich den Klostergarten auf, wo es mich vor allem zur Gospina špilja, der »Lourdesgrotte«, hinzog, vor der wir seinerzeit jeden Abend gebetet hatten.

Der Klostergarten ist heute ein wahres Paradies! Die Touristen zahlen sogar dafür, dass sie neben dem Museum auch diesen wunderschönen Garten sehen dürfen. Seit die Insel Brač durch eine Untersee-Wasserleitung mit dem Kernland verbunden ist, werden die Gärten regelmäßig bewässert, wodurch die Vegetation viel grüner und üppiger geworden ist. Die Palmen im Garten, die wir damals mühelos übersprungen haben, sind jetzt an die sechs, sieben Meter hoch! Überall im Garten stehen Tongefäße mit verschiedenen Pflanzen, die liebevoll gepflegt werden. Neben der Mariengrotte leben seit Jahren einzelne Landschildkröten, die erklärten Lieblinge der hier urlaubenden Kinder.

Die Ortschaft Bol selbst ist heute hübscher, mondäner, als sie damals war. Aber das einst berühmte Priesterseminar gibt es nicht mehr! Die Klassenzimmer und Schlafräume sind jetzt für Touristen in kleinere Zimmer und Appartements geteilt worden. Für mich ist dies ein schmerzlicher Verlust. Das Dominikanerkloster, gegründet im Jahre 1475, ist noch heute ein Ort in den man mit besonderer Ehrfurcht hineingeht. Für jemanden, der hier keine persönlichen Erinnerungen hat, ist es nur ein kleines Paradies mit einem starkem Hauch vergangener Jahrhunderte. Wie gerne würde ich unsere Bühne wiedersehen, und den schwarzen Bösendorfer-Flügel im großen Speisesaal, an dem Pater Redžo (Reginald Klapež) manchmal nach dem Essen Mozart gespielt hatte. Aber es ist, wie es ist, ich sollte nicht lamentieren, sondern mich entspannen und das Meer, die Ruhe, die klösterliche Küche und den Wein genießen. Und versuchen, etwas zu arbeiten. Denn dazu war ich eigentlich hergekommen. Als ich auf die Idee verfallen war, dieses Buch zu schreiben, hatte ich gleichzeitig den Wunsch verspürt, dies in Bol zu tun, im Kloster. Denn meine Geschichte hat gewissermaßen hier den Anfang genommen.

Zu Mittag zeigte mir das freundliche Personal im Speisesaal den Tisch, an dem ich die nächsten Tage sitzen würde. Ich nahm Platz und betrachtete interessiert die unzähligen Ölbilder an den Wänden. Plötzlich wurde mir bewusst, dass genau an derselben Stelle auch damals mein Tisch gestanden hatte, vor genau 35 Jahren!

Nach dem Mittagessen setzte ich mich, mit Schreibutensilien bewaffnet, in den Garten, von wo aus man auf die Insel Hvar blickt. Unter dieser Terrasse hatten sich damals unsere Umkleidekabinen befunden, wo wir die Kleider gegen Badehosen tauschten, bevor wir ins Meer sprangen. Meine Augen wanderten zum Horizont. Spiegelglattes, ruhiges Meer lag vor mir, in Kroatien nennt man diese Phase bonaca (»glatte See«), weil sich das Meer so zahm und still ausbreitet.

Unweigerlich fühlte ich mich nach Drijenča, in meinen Geburtsort, zurückversetzt, wo mein Leben begonnen hatte. Jemand hat einmal gesagt, dass der Charakter eines Menschen bereits in den ersten fünf Jahren seines Lebens geformt wird, danach wird er nur noch vervollständigt und korrigiert. Das scheint auch mir so.

3

Kindheit in Drijenča

Familienfoto, Drijenča 1958. Mutter Tomka, Schwester Marija, Mijo, Bruder Petar, Vater Rafo und Schwester Finka

Familienfoto, Drijenča 1958. Mutter Tomka, Schwester Marija, Mijo, Bruder Petar, Vater Rafo und Schwester Finka

In dem bosnischen Dorf Drijenča, ungefähr zwanzig Kilometer von Tuzla entfernt, verlebte ich meine Kindheit, ohne Strom, ohne Radio, ohne richtigen Spielplatz oder echten Ball, aber dennoch weitgehend sorglos und fröhlich. Die einzige technische Errungenschaft, die wir besaßen, war ein Wecker! Und dieses Gerät ließ mir keine Ruhe, ich musste es immer wieder öffnen und das geheimnisvoll darin liegende Uhrwerk bewundern. Solche Verhältnisse waren damals, in den Fünfzigern, typisch für ein bosnisches Dorf. Das Leben spielte sich auf dem Feld, am Hof, im Wald, am Fluss Drijenačica, neben Kühen und Hunden ab. Wir kletterten auf Kirschbäume, fuhren auf selbst gebastelten Skiern, meist Zaunbretter, die wir zurechtbogen, liefen im Winter in ebenso selbst gefertigten Schlittschuhen Eis auf zugefrorenen Teichen, die wir an heißen Sommertagen mit Dämmen befestigten und durchschwammen. Sogar eine dorfeigene Variante von Baseball pflegten wird. Wir spielten mit unermüdlicher Begeisterung Ring, Blischke (Anmäuerln, Tschortschik), ließen im Frühsommer die Borien, Trompeten aus der Weiderinde, erschallen, und dazwischen knallten die Tscheparen, Pistolen aus Holunderholz, in die wir Hanfknöllchen hineinpressten. Um die Osterzeit hörte man überall das Krähen unserer Ratschen und am Abend vor dem Tag des heiligen Elias erstrahlte das ganze Dorf im Feuer der Lila, das waren Fackeln, die wir aus getrockneter Kirschbaumrinde zusammenbanden und die lange und lichterloh brannten.

Von der großen, weiten Welt, bekamen wir Kinder überhaupt nichts mit. Wenn im Sommer ab und wann einige Kinder aus der Stadt aufkreuzten, und z. B. von »Dick und Doof« erzählten, hörten wir uns ihre Geschichten an, als ob sie von einem anderen Planeten stammten. Entsetzt waren wir aber, wenn uns die Älteren erzählten, dass die in der Stadt sogar beim Tisch »einen fahren lassen« – eine Handlung, die bei uns am Land einer beichtwürdigen Sünde gleichkäme.

Die Sommer meiner Kindheit waren heiß, die Winter waren kalt und schneereich, die Frühlings- und Herbstzeiten hatten je ihren eigenen Reiz, alles schien in Harmonie und Einklang mit seiner Bestimmung zu sein. Drijenča war damals auch voller Kinder. Niemand hatte die Möglichkeit, während der Schulferien in Urlaub zu fahren, und so mangelte es uns nie an Spielkameraden. Und während wir Kinder spielten, erklang in einiger Entfernung das Singen und Gelächter der jungen Frauen und Männer, die auf den Feldern arbeiteten.

Wenn es dunkel wurde, kehrten wir erschöpft in unsere Häuser mit den zwei Wohnräumen zurück, nahmen auf unseren Schemeln an der Sinija, einem runden, sehr niedrigen Tisch, Platz, aßen gemeinsam aus der Pfanne zu Abend und beteten im schwachem Licht der Petroleumlampe. So verstrich ein Tag nach dem anderen.

Dieses Dorf Drijenča, das jahrhundertelang von keiner einzigen Straße durchquert wurde, am Ufer der Panonien und Posavina gelegen, unmittelbar an der Schwelle zur Antemurale christianitatis, dem »Bollwerk der Christenheit«, wie Papst Leo X. die Kroaten im Jahr 1519 bezeichnet hatte, als sie gegen die Ausbreitung des Osmanischen Reiches nach dem heutigen Europa Widerstand geleistet hatten, bot seinen Bewohnern keineswegs ein bequemes, modernes Leben. Die Äcker am Fuße des Berges Majevica, geheimnisvoll, schön und dunkel und für uns Kinder unendlich weit, waren karg und steil und erlaubten keine ertragreiche Landwirtschaft. Meinem Großvater Marijan hatten die Kommunisten im Jahre 1945 fast das gesamte Hab und Gut geraubt und ihn für einige Jahre ins Gefängnis gesteckt, weil er es abgelehnt hatte, seinen relativ großen Besitz in eine Volksgenossenschaft (Kolhos) eingliedern zu lassen. Die Volksregierung machte darauf kurzen Prozess, beschlagnahmte sein gesamtes Vermögen, ein Partisanengericht verurteilte ihn als Volksfeind zu drei Jahren Haft, und er wurde darauf nach Foča am Drina-Fluss in den Kerker verfrachtet. So wurden wir aus einer reichen Bauernfamilie über Nacht buchstäblich zu Hungerleidern. Erst Jahre später, nachdem Großvater aus dem Gefängnis entlassen wurde, bekam er einen Teil seines Besitzes wieder. Auch anderen Bauern aus der Gegend erging es wie uns. Ich erinnere mich an Mato Pavlović, genannt Beg, an Mijo Stjepić-Mandić und andere, die ebenfalls verhaftet und enteignet wurden.

Ab dem Jahre 1960 ging ich ins benachbarte Šibošnica, ungefähr zwei Kilometer von uns entfernt, in die Grundschule, im Sommer barfuß, und sonst in Gummistiefeln. In der Schule bekamen wir zur Mahlzeit eine Schnitte Brot und eine Schale Milch, die aus Milchpulver angerührt wurde. Das Pulver stammte aus einer ausländischen Spendenaktion, ich erinnere mich noch, dass die Säcke englische Beschriftungen trugen. Manche Kinder erhielten auch Kleidung vom Roten Kreuz. Die Schule in Šibošnica nahm Schüler aus mehreren Dörfern in der Umgebung auf, allerdings war Drijenča das einzige mit kroatischer Bevölkerung. Gleich am Anfang verbot uns unser Lehrer Dušan den katholischen Gruß Hvaljen Isus (»Gelobt sei Jesus Christus«), der seit eh und je bei uns üblich war, und es noch heute ist. Für uns Kinder aus Drijenča war die Begrüßung mit »Guten Tag« damals ausschließlich kommunistische, also atheistische Gepflogenheit.

Schläge durch die Lehrer waren alltäglich. Wir wurden aus jedem noch so geringen Anlass geschlagen. Mangelhafte Hausaufgaben waren ein hinreichender Grund dafür, oder auch wenn wir zu spät zum Unterricht kamen oder wenn wir keinen Sliwowitz von zu Hause mitgebracht hatten! Der Lehrer gab uns, der Reihe nach, jeden Samstag eine leere Flasche mit, die von den Eltern mit Schnaps gefüllt werden sollte, und wenn ein Schüler oder eine Schülerin die Flasche einmal leer zurückbrachte, setzte es regelmäßig Schläge. Lehrer, Milizionäre und Steuereintreiber galten als unantastbare Autoritäten, sodass niemand es wagte, eine solche Handlungsweise in Frage zu stellen. Manche Eltern kamen sogar in die Schule und verprügelten die eigenen Kinder vor den Augen der Mitschüler, wenn ihnen der Lehrer gemeldet hatte, dass das Kind nicht spurte oder schlecht lernte!

Eines der größten Vergnügen war es für uns, wenn wir mit den Eltern auf Besuch bei Verwandten oder Freunden waren und aus den dämmrigen, von Petroleumlampen spärlich erhellten Ecken den abenteuerlichen Geschichten lauschen durften, die unsere Großväter, um sich wichtig zu machen manchmal sogar auf Deutsch, aus der k.u.k.-Zeit erzählten. Natürlich machten sich manche dabei ein wenig wichtig und brüsteten sich mit ihren Erfahrungen, aber uns Kindern ersetzten diese Stunden Märchenbücher, Radio und Fernsehen. Manchmal jedoch, wenn es um politische Dinge ging, z. B. über Stjepan Radić1 oder andere kroatische Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte, zogen sich die Erwachsenen in andere Räume zurück, damit die Kinder nichts hörten, was sie dann womöglich in der Schule ausplaudern könnten. Und was taten wir Kinder? Wir lauschten heimlich, wie sollte es auch anders sein.

Auf diese Weise erfuhr ich zum Beispiel, was mit meinem ältesten Onkel Blaško geschehen war. Er war Domobran2 und zu Weihnachten 1943 auf Urlaub nach Hause gekommen. Er hatte damals schon drei kleine Kinder. Vor dem Haus erschienen plötzlich serbische Partisanen in deutschen Uniformen. Sie redeten ihn auf Deutsch an, und während er sich mit ihnen unterhielt, schnappten sie ihn und legten ihn in Fesseln. Ungefähr zur selben Zeit und mit demselben Trick entführten sie auch einen gewissen Nikola Mandić aus dem benachbarten Dorfteil Toljaci. In einem Bach in der Nähe unseres Hofes rissen sie ihm brutal den Schnauzbart aus und brachten ihn dann zusammen mit Onkel Blaško zunächst ins Dorf Piperi, eigentlich eine Tschnetnik-Hochburg, und weiter in das Partisanendorf Jablanica. Weil weder mein Onkel noch Nikola Mandić bereit waren, sich den Partisanen anzuschließen, wurden sie brutal ermordet. Erst ein halbes Jahr später, als Jablanica durch deutsche Soldaten erobert wurde, konnte mein Großvater Marijan den Leichnam seines Sohnes heimbringen und im Familiengrab bestatten.

Auf der anderen Seite kamen die (kroatischen) Partisanen vom Husino – die nach dem Krieg sogar zu Volkshelden aufstiegen – Mijo Kerošević-Guja und Pejo Marković oft nach Drijenča, zechten dort gemeinsam mit den Ustaschas3 und Domobranen auf Heimurlaub. Auch sie versuchten zwar, die Drijenčaner zum Übertritt zu den Partisanen zu überreden, jedoch ohne Erfolg, und trotzdem ging man nach solchen Treffen friedlich auseinander, jeder auf seine Seite. Zum Abschied feuerten sie von den Hügeln je einen Schuss in die Luft!

Im Dorf hatten wir damals keine Kirche, sondern nur eine kleine Kapelle aus Holz. Ungefähr zehn Meter von der Kapelle gab es einen Glockenturm, ebenfalls aus Holz, der ein bisschen den Salzpumpen-Türmen in Tuzla ähnelte. Durch die Spalten in den Kapellenwänden pfiff der Wind, und im Winter fegte der Sturm sogar den Schnee auf den kleinen Altar, dass die Kerzenflammen flackerten. Diese Kälte, die flackernden Kerzen und Windstöße in der kleinen Kapelle blieben mir bis heute in Erinnerung. Vielleicht sind dies die Momente, die einen Menschen an die Orte seiner Kindheit fesseln und ihn das ganze Leben nicht loslassen? Nur gelegentlich kam der Pfarrer, Fra Stanko, nach Drijenča, um die Messe zu lesen, normalerweise gingen wir nach Breške, ungefähr 13 Kilometer von Drijenča entfernt.

Die Glocke von Drijenča ist im Laufe der Jahrzehnte zu einem wahren Symbol der tiefen Verbundenheit der Drijenčaner mit ihrem Glauben geworden. Wann immer sich dunkle Gewitterwolken über dem Dorf zusammenballten, griff man zum Glockenstrang und läutete so lange, bis die Wolken verschwunden waren! Viele, vor allem ältere Drijenčaner, darunter auch meine Mutter, schworen, dass es keinen einzigen Hagelschaden mehr im Dorf gegeben hätte, seit man die Sturmglocke läutete.

Nach Breške gingen wir jeden Sonntag selbstverständlich zu Fuß, und zwar bei jedem Wetter, im Sommer bei glühender Hitze oder heftigem Unwetter, im Winter bei Tiefschnee und klirrender Kälte. Wir Kinder mussten zuerst los, weil wir dort auch den Religionsunterricht besuchten, die Eltern kamen dann später, und um elf Uhr feierten wir gemeinsam die Messe. Zum Überdruss kam auch die damalige kirchliche Verordnung, wegen der Kommunion ab Mitternacht keine Nahrung zu sich nehmen zu dürfen, aber wir hielten auch das durch. Am liebsten hatte ich die Mitternachtsmetten zu Weihnachten, wenn ich mit dem Vater und den Onkeln nachts über das tief verschneite Majevicagebirge nach Breške ging. Einmal begegneten wir dabei sogar einem Wolf. Wir konnten ihn im hellen Mondlicht klar erkennen, er war nur wenige Meter von uns entfernt.

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Drijenča das östlichste kroatisch-katholische Dorf in Bosnien ist. Es gibt dort vier katholische Pest-Friedhöfe, Stetschack-Grabsteine mit christlichen Ornamenten, aber auch eigenartige, vermutlich heidnische, Obelisken ohne jeglichen Schmuck. Dieser Teil der Posavina befand sich lange Zeit unter ungarischer Herrschaft, und es gibt nur sehr spärliche schriftliche Quellen über die Geschichte der Gegend. Mündlicher Überlieferung zufolge wurde das Dorf vorwiegend von Flüchtlingen aus allen Teilen von Bosnien und Herzegowina, vor allem aus Usora und Žepče, besiedelt. Auf der Flucht vor den Türken in Richtung des Sava-Flusses und Slawoniens (Kroatiens) fühlten sich manche schon im gebirgigen und von dichten Wäldern umgebenen Drijenča in Sicherheit und blieben gleich da.

Aus der Türkenzeit ist in Drijenča wie im übrigen Bosnien ein eigentlich schrecklicher Brauch bis heute erhalten geblieben. Fast alle älteren Frauen tragen Tätowierungen, ein Kreuz an jedem Finger und am Unterarm den Namen sowie das Geburtsdatum. Auf eine solche Weise sollte das weibliche Kind in den Augen türkischer Machthaber »wertlos« gemacht werden. Denn man erzählte sich, dass in alter Zeit viele Kinder von den Türken entführt worden seien. Manche wurden als Sklaven verkauft, andere wurden zu Janitscharen ausgebildet, wenn es sich um Jungen handelte und die Mädchen wurden in einen Harem gesteckt. Heute noch befindet sich im Besitz unserer Familie ein Waldstück, das Prosina heißt. Und in diesem Wald liegt, verborgen hinter dichten Buchenstämmen, eine Quelle, die den Namen »Haidukenwasser« trägt. Dort sollen sich christlichen Freischärler versteckt gehalten haben. Eine andere Sage berichtet, dass die Türken einmal aus dem kroatischem Dorf Zovik ein katholisches Mädchen entführt hätten, das einem ihrer Heerführer zur Frau gegeben werden sollte. Die Männer von Drijenča überfielen jedoch den Hochzeitszug auf dem Weg nach Gornja Tuzla (»Ober Tuzla«), und es kam zu einem erbitterten Kampf, in dem alle Entführer, aber auch das Mädchen den Tod fanden. Am Dorfrand von Drijenča erinnert seither ein Tschalma genannter Obelisk an dieses blutrünstige Ereignis.

Der Schutzheilige Drijenčas ist der heilige Antonius von Padua, und seit jeher ist der diesem Heiligen gewidmete 13. Juni dort ein besonderer Festtag. Er ist für die bosnisch-kroatischen Katholiken ein Symbol der Erhaltung und Verteidigung ihres Glaubens. Wie hoch er verehrt wird, mag der bekannte Scherz zeigen, wonach die Kroaten Gott bitten, er möge Ihre Anliegen dem heiligen Antonius weiterleiten. Am Festtag des heiligen Antonius wurde immer ein Hochamt im Freien gefeiert. Zahlreiche Gäste aus den benachbarten kroatischen Dörfern fanden sich ein, Missionare, Zuckerbäcker, Fotografen, Volks-Milizionäre, und für uns Kinder gab es sogar Eis und richtige Bonbons. (Unvergesslich bleiben die rot-weißen Zuckerstangen, die wie ein Spazierstock gebogen waren). Opa Mijan aus dem Dorfteil Lučići, ein weißbärtiger alter Mann, der stets in Drijenčas Volkstracht gekleidet war, scharte dann uns Kinder um sich und erzählte spannende und lustige Abenteuergeschichten. Dies war für mich damals immer etwas besonderes, vielleicht auch deswegen, weil mein Großvater Marijan starb, als ich nur dreieinhalb Jahre alt war. Als einzige Erinnerungen an ihn ist mir ein Lächeln, und das Kreuz auf seinem Sarg geblieben.

Das muslimische Dorf Nahvioci und das serbisch-orthodoxe Piperi sind die Nachbarorte von Drijenča. Von politischen Querelen oder Feindschaften wussten wir Kinder nichts. Unser Großvater lud vielmehr traditionellerweise zu Weihnachten eine befreundete serbisch-orthodoxe Familie ein, und 14 Tage später wurden dann wir nach Piperi eingeladen, wenn sie Weihnachten feierten. Eine ebenso große Freundschaft pflegte unsere Familie mit der Familie des Rašid Hodžić aus Šibošnica, der einer der angesehensten Moslems in der Gegend war.

Ziemlich viele Männer aus Drijenča arbeiteten als Kumpel in den Kohlebergwerken in Tuzla-Kreka, unter ihnen auch mein Vater Rafo. Nur an Sonntagen, weit nach Mitternacht, konnte er uns besuchen kommen, und bereits nach dem Mittagessen am nächsten Tag musste er sich wieder auf den Weg machen, zu Fuß nach Kreka. So nahm er nach der schweren Arbeit im Kohlebergwerk Woche für Woche fünfzig Kilometer Fußmarsch auf sich, um uns für drei, vier Stunden sehen zu können. Oft erschreckten uns Nachrichten aus Tuzla über tödliche Unfälle in den Bergwerkstollen. Jedes Mal zitterten wir vor Angst, dass auch Vater darunter sein könnte. Aber er hatte Gott sei Dank Glück, und außer einem kleineren Unfall stieß ihm nie etwas zu. Aber immer wieder kamen Kameraden aus seiner nächsten Umgebung in den Stollen ums Leben. Im Frühsommer 1964 erwischte es Onkel Anto Divković. Meine Mutter weinte tagelang, nachdem man uns die Nachricht von seinem Tod überbracht hatte, blieb doch nun ihre Schwester Mara plötzlich allein mit drei kleinen Kindern zurück.

Bald begann Vater, Abendkurse zu besuchen. Nachdem er die Berufsstufe »Qualifizierter Fahrer« erlangt hatte, teilte er uns mit, dass er das Bergwerk verlassen und eine Stelle als Rettungsfahrer in Tuzla annehmen würde. Uns allen fiel ein großer Stein vom Herzen. Das war Anfang der 60er Jahre, und kurz darauf beschlossen unsere Eltern, in die Stadt zu ziehen. Vater verkaufte einen Teil unseres Landbesitzes und von dem Erlös baute er in Solina, einem Vorort von Tuzla, ein neues Haus für uns. Wir, einschließlich der Mutter, haben das neue Haus erstmals gesehen, als wir Anfang September 1965, einen Tag vorm Schulbeginn, dorthin mit einem Pferdewaggon umgezogen sind. Schweren Mutes haben wir unser Geburtsdorf verlassen, in das just zur selben Zeit endlich auch der Elektrische Strom kam. Ein Problem war aber noch zu lösen: Wir hatten eine Kuh namens Brezulja und die Mutter hat es nicht übers Herz gebracht, diese Kuh einfach »wie ein Stück Vieh« zu verkaufen, und stand ziemlich ratlos da. Diese Kuh hat uns, die wir inzwischen bereits sechs Kinder waren, praktisch ernährt. Und die Mutter wusste genau, was die Kuh für unsere Familie bedeutete. Zwei bis drei Wochen vor dem Umzug ging die Kuh durch, und lief wild herum, bis wir sie wieder einfangen konnten. Trotz aller Hilfsversuche der Nachbarn und auch des herangerannten Onkels gab es keine Hilfe mehr, Brezulja verstarb noch vor unseren Augen. Ein lautes Weinen und Winseln brach aus. Wir hatten sozusagen ein Familienmitglied verloren. Einige Männer schlugen vor, die Kuh zu schlachten und das Fleisch zu nutzen, doch Mutter lehnte rigoros ab. Stattdessen haben wir sie würdevoll in der Ecke unseres Anwesens begraben.

4

In der Stadt

Anfang September 1965, einen Tag vor Schulbeginn, zogen wir also mit einem Pferdewaggon in die Stadt. Uns Kindern und auch meiner Mutter fiel der Abschied vom Dorf sehr schwer, aber es blieb uns keine andere Wahl. Unser neuer Nachbar in Tuzla war die Familie des Nazif Malohodžić, mit dem unser Vater schon voher, während des Hausbaus einen freundschaftlichen Kontakt gepflegt hatte. Der nächstgelegene Lebensmittelladen war ungefähr zwei Kilometer entfernt, auf der Brčanska Malta. Zum ersten Mal in unserem Leben mussten wir nun auch die Milch in einem Laden kaufen. Aber als dies unser Nachbar, den wir Onkel Nazif nannten, bemerkte, bot er meinem Vater gleich Hilfe an:

»Wir haben eine Kuh«, meinte er, »und solange es Milch für meinen Hamdija gibt, gibt es auch Milch für deinen Zoran!« Nazifs jüngster Sohn Hamdija und mein jüngster Bruder Zoran waren zu jener Zeit drei Jahre alt. Die beiden Familien befreundeten sich schnell, und so blieb es auch, bis heute.

Wir lebten uns in der neuen Umgebung sehr schnell ein, vielleicht auch deswegen, weil alle Nachbarn erst vor kurzem vom Land in die Stadt gezogen waren. Dennoch vermisste ich das Dorfleben sehr, vor allem das Herumstreifen in der freien Natur fehlte mir, denn die endlosen Felder und Wälder hatten wir gegen einen relativ kleinen, engen Garten tauschen müssen.

In der neuen Schule, die nach dem bosnischen Dichter Petar Kočić benannt war, wurde ich auch das erste Mal wegen des katholischen Religionsunterrichts, den wir in der Pfarre besuchten, schikaniert. Einmal zum Beispiel mussten wir katholischen Kinder, also alle, die den Katechismus-Unterricht besuchten, uns erheben und die Standpauke einer Lehrerin über uns ergehen lassen, die uns wegen unserer Primitivität und Rückständigkeit schalt. Auch manche Mitschüler verspotteten uns deswegen. Ein anderes Mal fragte die Lehrerin im Musikunterricht, ob einer wohl ein ländliches Volkslied singen könne? Benedikt Odobašić, der mit seiner Familie erst kürzlich aus der Posavina zugezogen war, meldete sich und begann laut ein Lied vorzusingen, das von einer Nonne handelte. Sogleich unterbrach ihn die Lehrerin und hieß ihn, sich zu setzen. Am nächsten Tag wurde Benedikts Vater wegen dieses »Skandals« in die Schule bestellt und erhielt einen Verweis.

Dieselbe Lehrerin, die uns wegen des Religionsunterrichtes gerügt hatte, hielt mich eines Tages auf dem Schulkorridor auf und fragte mich, auf den Dinamo-Sticker auf meiner Weste deutend, forsch:

»Wieso bist du ausgerechnet Dinamo-Anhänger? Es gibt so viele andere Fußballclubs!«

»Welche denn?«, fragte ich keck zurück.

»Nun ja, Roter Stern, Partizan«, beide, wie ich sehr gut wusste, Belgrader Clubs.

»Danke«, erwiderte ich darauf trotzig, »aber ich bin Dinamo-Fan!«

(Der Fußballclub aus Tuzla »FK Sloboda« /«Freiheit«/ war damals dauerhaft in der Zweiten Liga, und obwohl wir die Spiele des Clubs regelmäßig besuchten, war doch jeder von uns Anhänger eines Clubs aus der Ersten Liga.)

Nach der Schule, wenn die Hausaufgaben erledigt waren, stieg ich gern mit meinem Bruder Pero und den anderen Kindern auf den Gradovrh, einen steilen Berg in unmittelbarer Nähe unseres Hauses. Dort oben waren wir wieder die Bauernkinder aus Drijenča. In dieser Zeit träumte ich davon, einmal Autor von Wildwest-Romanen zu sein. Wahrscheinlich, weil wir hier in der Stadt zum ersten Mal die Bekanntschaft mit Western-Comics machten, die wir regelrecht verschlangen. Wir spielten auch ununterbrochen Cowboy und schossen dabei aus selbst geschnitzten Holz-Revolvern wild durch die Gegend. Von Nachbarn hatten wir fantastische Geschichten über den Berg Gradovrh gehört. Oben, nahe dem Gipfel, hatte es einst ein Maria-Theresien-Schloss gegeben. Eine Wasserquelle unterhalb des Gipfels trug immer noch den Namen Maria-Theresien-Quelle. Man erzählte sich von geheimnisvollen Türen, die in die Keller des Schlosses führten, aber als wir oben waren, fanden wir weit und breit nichts, was auch nur entfernt an ein Schloss oder an eine Schlossruine erinnert hätte. Vermutlich handelte es sich um eine der vielen lokalen Sagen, in denen immer ein sagenhafter Schatz eine Rolle spielte.

Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass der Gradovrh (»Die Stadt auf dem Gipfel«) auch als heiliger Berg galt. Ein Flurname – »Fratres-Acker« – weist auf das Franziskanerkloster hin, das hier gestanden hatte und von den türkischen Besatzern 1688 niedergebrannt worden war. Erbaut hatten es Graf Ivan von Maglašević und dessen Sohn Pavao zusammen mit einer großen Kirche im Jahre 1541. Das Kloster wurde bald zum geistlichen Zentrum für Katholiken in weiten Gebieten des nordöstlichen Bosnien. Gradovrh dürfte in dieser Zeit eine blühende kleine Stadt gewesen sein. Petar Zlojutrić zum Beispiel wurde hier geboren, der spätere Bischof von Sofia, und er liegt auch, nachdem er 1623 hier verstarb, auf dem Boden des Gradovrh-Klosters begraben.

Nach dem Eindringen der Türken und dem Pogrom von 1688 wurde das wundertätige Madonnenbild, das nach dem Franziskanerkloster in Zvornik/Drina und in Gornja Tuzla eben im Gradovrh-Kloster Zuflucht gefunden hatte, von Mönchen wiederum unversehrt nach Bač (Bacs) in der heutigen Vojvodina gebracht.

Die 150-jährige Geschichte des Klosters war geprägt von zahlreichen gewaltsamen Übergriffen seitens der türkischen Besatzer. Einerseits waren die Mönche dazu gezwungen, im Einvernehmen mit den Türken an den orthodoxen Patriarchen von Peć (alb. Pejë/Peja, im heutigen Kosovo) Kirchensteuer zu zahlen, andererseits aber mussten die Fratres die Türken auch immer wieder bestechen, weshalb sie bald in große Schulden gerieten. Die Besatzer drohten sodann, wenn sie ihre Schulden nicht beglichen, die Kirche in eine Moschee umzuwandeln! In jener Zeit mussten viele Mönche ihr Leben lassen, so fielen einmal an nur einem Tag zwölf Franziskaner einem Pogrom zum Opfer, nur zwei konnten dem Massaker heil entkommen. Am 22. Juli 1682 wurde im Gradovrh-Kloster der Guardian Fra Bernardin bei lebendigem Leib verbrannt, der Pfarrer Fra Luka wurde erdolcht, und der Portier Fra Tadija Soilo wurde aufgespießt! Besonders brutal gingen die Türken zur Zeit der Belagerung Wiens 1683 vor, weil die katholische Bevölkerung mit Österreich sympathisierte. Im Jahre 1688 mussten die Franziskaner schließlich das Kloster endgültig verlassen, und sie flohen nach Bacs in der Vojvodina, das ein Jahr zuvor von den Türken befreit worden war. Dort fanden sie ein Kloster vor, das die Türken schon im Jahre 1529 in eine Moschee umgewandelt hatten. Die Franziskaner bauten die Kirche wieder in ein katholisches Gotteshaus um und gründeten ein Noviziat. Seitdem wird das Bacser Kloster auch Gradovrher Kloster genannt.

Oben, auf den Hängen des Gradovrh, fanden sich damals nur noch Reste der Grundmauern und zwei Brunnen. Inzwischen sind auch diese Steine verschwunden, sie wurden nämlich beim Bau einiger Häusern in der Umgebung verwendet.