image

image

image

Ray Kurzweil

DANIELLE

CHRONIKEN EINER
SUPERHELDIN

Mit Illustrationen von
Amy Kurzweil

Aus dem Englischen von
Elborg Nopp

image

Copyright © Lola Books GbR, Berlin 2019
www.lolabooks.eu

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf in keinerlei Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Titel der englischen Originalausgabe:
Danielle: Chronicles of a Superheroine
Copyright © 2018 Ray Kurzweil
Published by Arrangement with Ray Kurzweil
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische
Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Alle Rechte vorbehalten

Druck: masquelibros, Jaén
Printed in Spain
ISBN 978-3-944203-40-9
eISBN 978-3-944203-52-2

INHALT

Vorwort

ERSTER TEIL
DER TANZ AUF DEM TREIBSAND

Vielleicht ist sie anders

Danielle im Wunderland

Ein Schwein im Matsch

Niemand schien es zu bemerken

Der Preis der Gerechtigkeit

Die Kanalisation wird genutzt

Beweismittel werden vergraben

Ich bin gleich zurück… als Mädchen

Sei hilfreich. Sei klug.

Entschuldige, dass ich dein Auto mit dir in die Luft gejagt habe

Nie wieder

ZWEITER TEIL
DER SPRUNG ÜBER DIE GROßE MAUER

Ein versteckter Paartanz

Und wenn ich ihm die Beine brechen muss

Etwas unerbittlich Endgültiges

Vorsitzendes Mädchen

Bester Sänger

Die chinesische Demokratie muss chinesische Züge tragen

Heute ist in drei Tagen vorbei

Wir sind fehlbar, oder nicht?

Nur manchmal tosen Worte

Ich seh so frisch geküsst aus

Bewahrt für immer den Frieden

An alle Danielles

Lasst euch von niemandem
sagen, ihr könntet die Welt
nicht verändern

Eine alternative Realität

Jede Ähnlichkeit mit – oder
Abweichung von – historischen
Figuren und Ereignissen ist
durchaus beabsichtigt

Vorwort

Ray Kurzweil

Ich erinnere mich daran, wie mein Großvater 1955, als ich sieben Jahre alt war, von seiner ersten Rückkehr nach Europa erzählte, siebzehn Jahre nach seiner Flucht vor Hitler 1938. Er durfte die Originale der Notizbücher Leonardo da Vincis mit Beschreibungen und Illustrationen seiner Erfindungen in seinen eigenen Händen halten. Er beschrieb dieses Erlebnis mit ehrfürchtigen Worten. Und doch waren diese Dokumente nicht von Gott geschrieben worden, sondern von einem Menschen. Das war sozusagen die Religion, mit der ich aufwuchs: dass die Ideen der Menschen die Macht haben, die Welt zu verändern. Diese Philosophie richtete sich ganz persönlich an mich: du, Ray, kannst diese Ideen finden.

Bis heute bin ich von dieser Grundphilosophie überzeugt. Egal, wie sehr wir in Bedrängnis sind – seien es Schwierigkeiten im Beruf, Krankheiten, Beziehungsprobleme, oder die großen gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen unserer Zeit –, es gibt eine Idee, die uns da heraushilft. Wir können und müssen diese Idee finden. Und wenn wir sie finden, müssen wir sie in die Tat umsetzen.

Die Mutter der Mutter meiner Mutter, Regina Stern, lebte nach dieser Philosophie. 1868 erkannte sie, dass Mädchen nach der neunten Klasse nicht weiter zur Schule gehen konnten und gründete daher mit ihrer Familie die Stern’sche Mädchen-Lehr- und Erziehungsanstalt, die erste Schule in Europa, die Mädchen eine höhere Schulbildung ermöglichte, und zwar vom Kindergarten bis zur vierzehnten Klasse (Oberschule und die ersten zwei Jahre der Berufsfachschule). Die Idee traf auf erbitterten Widerstand, und meine Urgroßmutter hielt in ganz Europa Vorträge darüber, warum Mädchen eine Schulbildung erhalten sollten, und wie man dies richtig machte. Ihre Schule hatte Einfluss auf die Bildung von Mädchen und Frauen. Ihre Tochter, meine Großmutter, wurde ein Musterbeispiel der Philosophie ihrer Mutter und bekam als erste europäische Frau einen Doktortitel in Chemie verliehen. Sie übernahm die Schule, und die zwei Frauen leiteten sie nacheinander siebzig Jahre lang, bevor sie im Sommer 1938 aus Wien flohen, nachdem Hitler Österreich annektiert hatte. 1948 schrieb sie eine Autobiographie und erzählte die Geschichte der Schule. Im Titel, Ein Leben ist nicht genug, steckte bereits die Vorahnung, dass ich mich für Lebensverlängerung interessieren würde. Als ich fünf war, zeigte sie mir die mechanische Schreibmaschine, auf der sie ihr Buch geschrieben hatte, was mich dazu inspirierte, Erfinder zu werden, aber das ist eine andere Geschichte.

In den letzten dreißig Jahren ist mir eine wichtige Meta-Idee bewusst geworden: die Macht der Ideen, die Welt zu verändern, vergrößert sich von selbst immer schneller. Obwohl die Menschen dieser Beobachtung bereitwillig zustimmen, wenn man sie einfach so ausspricht, lässt sich ihre tiefere Bedeutung viel schwerer erkennen. In den nächsten Jahrzehnten werden wir Ideen zur Anwendung bringen, die uralte Probleme bewältigen – und nebenbei auch ein paar neue einführen.

Das also ist Danielles Philosophie. Obgleich uns Danielles Heldentaten unglaublich erscheinen, würde ich sagen, dass jede ihrer Leistungen heutzutage von einem Menschen, sogar von einem Kind, vollbracht werden kann. Tatsächlich verändern junge Menschen bereits die Welt. Die größten Tech-Unternehmen – Microsoft, Apple und Google, die insgesamt beinahe zwei Billionen Dollar wert sind und die Welt wahrlich verändert haben – wurden von Studenten gegründet, die kaum älter als zwanzig waren. Wir sehen Gymnasiasten, die lebensverändernde Ideen entwickeln, beispielsweise nicht-invasive Tests zur Früherkennung von Krebs, neue Lösungen zur Behandlung von Alzheimer und Techniken zum Reverse Engineering des Gehirns von Tieren.

Gibt es eine Danielle in der heutigen Welt? In gewisser Hinsicht kann jeder zumindest teilweise eine Danielle sein, wenn er mutig die Annahmen in Frage stellt, die dem menschlichen Einfallsreichtum beim Lösen von Problemen Grenzen setzen. Das Begleitbuch Wie du eine Danielle werden kannst ist eine Anleitung für angehende Danielles.

Gibt es einen Menschen mit Danielles außerordentlichem Mut und Talent? Wahrscheinlich nicht, zumindest noch nicht. Dieser Roman experimentiert mit dem Gedanken, was wäre, wenn es eine Danielle gäbe.

Wie ich jedoch in meinen Sachbüchern schreibe, werden wir in den kommenden Jahrzehnten mit der von uns geschaffenen intelligenten Technologie verschmelzen. Dieser Roman ergründet, was eine einzige Danielle in der Welt bewirken kann. Nun stellt euch vor, wir würden alle zu Danielles. Spätestens 2045 ist es soweit.

image

Ray Kurzweil

Dieser Roman sollte Seite an Seite mit zwei Sachbüchern von Ray Kurzweil gelesen werden

Eine Chronik von Ideen: Eine Anleitung für Superheldinnen (und Superhelden)

und

Wie du eine Danielle werden kannst

Nur Ideen können die Welt verändern. Das begleitende Sachbuch Eine Chronik von Ideen: Eine Anleitung für Superheldinnen (und Superhelden) ist online unter www.danielleworld.com frei zugänglich, allerdings nur auf Englisch. Es führt durch die wissenschaftlichen, technischen, medizinischen, unternehmerischen, politischen, geschichtlichen, literarischen, musikalischen, philosophischen und psychologischen Ideen, die die Welt der Hauptfigur, Danielle (und auch meine Welt!), bevölkern. Fast dreihundert Ideen in diesem Roman sind mit Zahlen gekennzeichnet, die zu Einträgen führen, die Seite an Seite mit den Einträgen in diesem Begleitbuch gelesen werden können.

Wie du eine Danielle werden kannst liegt ebenfalls in deutscher Übersetzung vor. Es liefert praktische Ideen für angehende Danielles jeglichen Alters, die sofort in die Tat umgesetzt werden können: wie wir mithelfen können Krankheiten zu besiegen, Konflikte beizulegen, Intoleranz zu überwinden und unsere Welt freundlicher, verspielter und musikalischer werden zu lassen.

Anmerkung des Herausgebers

Vielleicht wäre die Übersetzung von Eine Chronik von Ideen: Eine Anleitung für Superheldinnen (und Superhelden) ein interessantes Schulprojekt. Ähnlich den Schulprojekten, die im Roman von Danielle bearbeitet werden. Diese Idee, die sowohl individuell als auch in der Gruppe umgesetzt werden könnte, reichen wir hiermit weiter an alle Leserinnen und Leser, die sich inspiriert von Danielle fortan dem Learning by Doing widmen wollen.

Carlos García Hernández

Berlin, Juli 2019

Erster Teil

image

DER TANZ AUF
DEM TREIBSAND

image

Hinweis: Die hochgestellten Zahlen im
Text beziehen sich auf die Einträge in dem
begleitenden Sachbuch Eine Chronik von
Ideen: Eine Anleitung für Superheldinnen (und
Superhelden)
mit meiner (und Danielles)
Erläuterung des entsprechenden Begriffs.

Mit null bis einem Jahr

VIELLEICHT IST SIE
ANDERS

image

Es gibt etwas, das stärker als alle Armeen der Welt ist, und das ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist.

Victor Hugo

Gib niemals auf. Gib niemals auf. Niemals, niemals, niemals, niemals – weder in großen Dingen noch in kleinen, in wichtigen oder unbedeutenden – gib niemals auf, außer aus Gründen der Ehre oder der Klugheit.

Winston Churchill

Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Wie Danielle und ich mit Oberst Gaddafi debattierten. Wie sie die Koranschulen herausforderte. Wie sie sich mit der Behörde für Lebensund Arzneimittel anlegte. Ihre Festnahme. Wie sie es mit der Roten Armee aufnahm. Der Tod ihres Mitarbeiters und Seelenpartners. Aber ich greife vor. Fangen wir am Anfang an.

image

Hallo, ich bin Claire. Ich will euch erzählen, wie Danielle meine Schwester wurde. Ich war sechs Jahre alt und war um zwei Uhr nachmittags aus der Schule gekommen. Ich saß auf dem Lehmboden in der Fabrik – die einzige Aktivität nach der Schule, die ich kannte – neben Mama und ihrer Nähmaschine und spielte mit meinem liebsten und so ziemlich einzigen Besitz, und zwar mit Alices Abenteuer im Wunderland1 und meiner Gitarre. Mein Buch war auf Englisch, und alle waren ganz schön beeindruckt, dass ich es alleine lesen konnte. Meine Gitarre war eine kleine, weiße, viereckige Schachtel mit einem runden Loch. Sie musste einmal eine Holzschachtel für Farbstifte gewesen sein, denn es waren noch die typischen Kritzeleien darauf zu sehen. Jemand hatte ihr ein Griffbrett, eine Kopfplatte und Saiten angeklebt, und sie funktionierte überraschend gut. Ich fand sie im Müll der Fabrik liegen, und Mamas Musikerfreunde reparierten die Dellen und polierten die Kratzer weg. Eine Saite fehlte, und ich hoffte immer noch, sie zu finden.

Ich spielte und sang oft für die Frauen in der Fabrik, während sie Blusen mit Knöpfen und lange Röcke nähten, die sich in meiner Vorstellung auf den Hüften ihrer zukünftigen Trägerinnen wiegten. Die meisten Frauen begannen, zu lächeln, wenn ich für sie sang. Ich denke mal, dass ihre Arbeit dadurch weniger eintönig wurde. Einige summten mit. Andere wippten mit den Füßen. Ich überblickte mein ›Publikum‹ und stellte mir vor, ich sei in einer riesigen Konzerthalle. Vor mir Reihen von Frauen an Nähmaschinen, baumelnde Elektrokabel und bunte Kleidungsstücke in leuchtendem Rot, Blau, Grün und Weiß an Wäscheleinen, soweit mein Blick reichte.

Wie sehr ich schon damals meine Musik liebte.

Ich erinnere mich an Mama, wie sie an jenem Tag mit blauem Faden ein weißes Kleid nähte. Sie sagte mir, wie stolz sie war auf das neue Lied, das ich auf meiner Gitarre spielte. Ich kann mich nicht an die Melodie erinnern, ich hatte sie mir gerade erst ausgedacht. Alle lächelten breit, als ich fertig war. Mehrere Frauen unterbrachen sogar das Nähen, um zu klatschen.

Plötzlich erbebte das Gebäude, und Mamas Kaffee schwappte mir entgegen. Ich schrie auf, als mir die Flüssigkeit das Gesicht verbrühte. Die Tasse flog gegen die Nähmaschine, wo sie in tausend Scherben zersprang. Dann explodierte das Gebäude, die Erde bebte, und der Boden tat sich auf. Ich weiß noch, dass ich mir vorkam wie Alice. Ich fiel auf einmal durch das Kaninchenloch hinab und landete an einem völlig dunklen Ort voller Hindernisse – Steine, spitze Nadeln, metallene Zahnräder, Knöpfe, die wie Geschosse umherflogen, Kabel, tropfendes Öl, Stücke aus Wänden und Decken. Wenn ich diese Geschichte erzähle, gehen die Leute davon aus, dass ich schreckliche Angst gehabt haben muss, und das hatte ich wohl auch, aber das Ganze war so seltsam und geschah so schnell, dass es sich für mich so anfühlte, als sei ich in meinem Buch aufgewacht.

»Mama… wo bist du…? Mama…?«

Niemand antwortete. Ich geriet nicht in Panik. Ich nahm an, dass es sich um eine Art Spiel handelte, in dem ich sie finden musste. Ich tastete in der Dunkelheit umher und räumte Gegenstände beiseite, oder zumindest solche, die den Kräften einer Sechsjährigen nachgaben. Ich bewegte mich von einem dunklen Raum zum nächsten und erwartete, jeden Moment eine Wasserpfeife rauchende Raupe zu sehen.

Ich wusste nicht, dass mich ein Mann namens Richard beobachtete, der nach Haiti gekommen war, um beim Aufbau einer Schule zu helfen, jedoch schnell dazu übergegangen war, bei den Bergungsarbeiten nach dem Erdbeben mitzuhelfen.2 Er sah mich verschwommen, als er mit einem speziellen Radar nach Überlebenden suchte. Später sagte er, ich hätte »wie das Ultraschallbild eines Fötus ausgesehen«. Die Leute taten die Bewegungen auf dem Bild als einen unter den Trümmern gefangenen Hund ab. Den Erzählungen nach war Richard jedoch nicht derselben Meinung. »Nein, es bewegt sich nicht wie ein Tier. Das ist ein kleiner Mensch – womöglich ganz allein. Wir werden dieses Kind finden… und wenn es niemanden hat und nirgends hingehört… dann adoptieren wir es«. Manche bezweifeln jetzt, ob sich die Vorankündigung der Adoption wirklich so abgespielt hat, aber ich weiß genau, dass es so war.

Ich schlief in meinem Wunderland ein und benutzte zerrissene Kleider als Matratze. Neben mir lag ein großer Zementbrocken, und das war gut, denn er bewahrte mich wahrscheinlich davor, zerquetscht zu werden. Ich wurde von dem fieberhaften Lärm geweckt, mit dem die freiwilligen Helfer vor Ort mit bloßen Händen Geröll und Ziegelsteine beiseite räumten. Als sie mich endlich aus den Trümmern zogen, starrten mich die Leute nur staunend an, als sei ich die Alice von Haiti – allerdings sah ich, dass dies nicht das Wunderland war. Auf dem Foto, das ich von meiner Rettung habe, bin ich ganz mit schwarzem Ruß bedeckt, stecke in zerfetzten Kleidern und halte noch immer meine Gitarre fest.

»Wo ist Mama?«, fragte ich.

»Na, schauen wir mal nach«, sagte Richard. »Wie heißt du denn?«

»Claire Pierre-Louis.«

»Das ist aber ein hübscher Name«, sagte er zu mir. Ich erinnere mich, dass er ein weißes T-Shirt trug, das hell in der Mittagssonne zu leuchten schien und nur ein paar Schmutzflecken hatte, während alles Andere im Gegensatz dazu völlig verdreckt war. Den Fabrikeingang, der wie ein großes Scheunentor aussah, erkannte ich wieder, aber der Rest der Fabrik war verschwunden.

Es schmerzt mich jetzt, wenn ich an die folgenden Stunden denke – das Warten, das Suchen, die verletzten und benommenen Überlebenden, all die zu sehen, die es nicht geschafft hatten.

Endlich beantwortete Richard bedrückt meine Frage. »Deine Mama sitzt auf deiner Schulter«. Ich war zuerst verblüfft, aber dann verstand ich allmählich, was er meinte. Ich schaute ewig lange nach unten, sah meine Mama auf meiner Schulter sitzen, und dann umarmte ich Richard. Meine Mama sitzt immer noch dort.

Einige Tage später war ich immer noch im Schockzustand, aber ich verstand, was mir Richard vorschlug. »Wie wäre es, wenn ich jetzt dein Dad wäre?«

»Toll, ich wollte schon immer einen Dad haben«, antwortete ich.

»Und Sharon, meine Frau, könnte eine zweite Mom sein. Wir kümmern uns um dich, und du kümmerst dich um deine Mama auf deiner Schulter«.

Ich mochte den Gedanken – je mehr Mamas, desto besser, fand ich. Ich hatte Angst, es würde Mama auf meiner Schulter nicht gefallen, aber sie sagte, dass sie es gut fand.

Einige der einheimischen Männer, die ich kannte, waren jedoch nicht so begeistert. »Mèsi pou ede ou, men timoun nan rete isit la…« Danke für Ihre Hilfe, aber das Kind bleibt da. Wir wollen nicht, dass man unsere Kinder stiehlt.

Ich blickte mich um und sah eines der Nähmaschinenpulte auf der Seite liegen. Es hatte noch drei Beine, also stellte ich es auf und kletterte hinauf, wobei ich den großen Spalt in der Mitte mied.

»Aber es ist, was ich will!«, stieß ich hervor, ohne überlegen zu müssen. Ich fühlte mich wie eine dieser Erwachsenen, denen ich im Fernseher der Fabrik dabei zugesehen hatte, wie sie Reden hielten, so wie der Typ, von dem mir Mama sagte, er sei der wichtigste Mann Amerikas. »Ich hab euch alle lieb. Mein Herz wird immer hier sein. Und ich komme zurück.«

Alle, selbst ich, waren ergriffen, wie reif ich klang.

So wurde ich im Alter von sechs Jahren Claire Pierre-Louis Calico.

image

Wir lebten in Pasadena, einer Vorstadt von Los Angeles, in einem Haus aus Holz und Glas, das nach Zwiebeln roch, oder zumindest tat es das in meiner Erinnerung. Mom kochte alles damit. Für mich wurde das der Geruch von Zuhause. Und Zuhause war auch der Anblick von Geranien im und vor dem Haus. Ich liebte diese Blumen. Ich liebe sie immer noch.

Dad erklärte allen, dass das Haus von »einem Typen namens Frank Lloyd Wright«3 gebaut worden war. Er ist jetzt mein Lieblingsarchitekt. Es gab einen gewundenen Bach, den man durch das riesige Fenster im Wohnzimmer sehen konnte. Naja, es was kein echter Bach, aber das wusste ich damals nicht. Es was alles so anders als in dem Mietshaus in Cap-Haïtien, an das ich gewohnt war. Dad sagt immer, das Einzige, was ein Zuhause für ihn haben muss, ist ein Blick aufs Wasser.

Das einzige, was er an dem Haus bedauerte, war, dass es bei all den Glaswänden nicht genug Aufhängemöglichkeiten gab für all die Fotos, die Mom von der Familie machte, und für seine Kunstsammlung, zu der auch Großmutter Hannahs wunderschöne Blumenbilder gehören.

Ich hatte ein eigenes Zimmer, das ich mit Postern von Haiti schmückte. Da war ein Bild von einem kleinen Mädchen, das aussah wie ich und in sein Schulheft schrieb und dafür eine Holzbank als Schreibtisch benutzte, ein Bild von fünf Frauen, die Körbe voller Obst auf dem Kopf trugen, und ein Mann watete durch einen Fluss, an dessen Ufer Blumen in allen Farben blühten. Alle lächelten.

Ich fühlte mich in diesem großen Zimmer einsam – ich war es gewöhnt, mir mit Mama in einem Raum mit drei anderen Familien ein Bett zu teilen. Die Mama auf meiner Schulter teilte immer noch mein Bett, aber sie nahm jetzt nicht mehr so viel Raum ein wie früher. Ich genoss es, ihr jeden Abend von meinem Tag zu erzählen, aber ich vermisste ihre Finger, die immer meine Stirn streichelten, und die Art, wie das Bett unter ihrem Körper in der Mitte durchhing. Anstatt mich einsam zu fühlen, fand ich, sollte ich lieber zu Gott beten und ihm dafür danken, dass er mich gerettet hatte, aber Mama sagte, das würde sie übernehmen.

image

Danielle kam zwei Jahre später auf biologische Weise dazu, als ich acht war. Ich weiß noch, wie Mom, Dad und ich um ein Uhr morgens eilig ins Krankenhaus fuhren. Mom warf sich nur den schicken schwarzen Mantel, den sie zu Partys anzog, über das Flanell-Nachthemd. Dad schien auf den Moment vorbereitet, war fertig angezogen und trug die Übernachtungstasche. Ich zog mir schnell meine Sportsachen über den Schlafanzug, was albern aussah.

Als wir ins Krankenhaus kamen, wurde ich in einem riesigen weißen Wartesaal bei einer Schwesternhelferin zurückgelassen. Ich sagte mir, dass es eine lange Nacht werden und ich von der Warterei verrückt werden würde. Ich zählte die großen weißen Kacheln – acht mal sechs Reihen. Wieder und wieder zählte ich sie. Ich maß die Zeit, um zu sehen, wie schnell sie auf diese Art und Weise vorüberging, aber jeder Durchlauf der achtundvierzig Kacheln dauerte immer nur zwei Minuten.

Doch Danielle zögerte nie, wenn sie sich für etwas entschlossen hatte, und war da, bevor ich die Kacheln zum hundertsten Mal gezählt hatte. Ich wurde eilig in ein Zimmer gebracht und verliebte mich sofort.

Sie war in eine geblümte Decke eingewickelt, und ihr Kopf war voller dunkler Haare. Mom sagte mir, dass Neugeborene eine unbewusste Mimik haben, aber ich hätte schwören können, dass sie mir mit ihrem schönen, O-förmigen Mund sagte, wie wundervoll sie die Welt fand. Da war kein Wimmern oder Weinen. Ich erinnere mich, dass sie mir wie eine weise alte Frau vorkam, die friedlich die Welt betrachtete.

image

Dass Danielle frühentwickelt war, war von Anfang an klar.

Ich weiß noch, dass sie mit mir im Alter von drei Monaten ein Wegschauspiel spielte, das sie sich selbst ausgedacht hatte. Ich schaute sie an, und sie schaute schnell weg. Wenn ich dann wegschaute, schaute sie mich an, aber wenn ich sie dabei erwischen wollte, wandte sie sich wieder ab. Sie ertappte mich jedes Mal, wenn ich zur ihr hinsah, und gewann immer. Jedes Mal erschien dann auf ihrem Gesicht ein breites Lächeln, als wollte sie sagen, Erwischt.

Als sie sechs Monate alt war, hatte sie ihre Lieblingspuppen, denen sie leidenschaftlich treu war. Sie setzte sie wie Schülerinnen in einer Reihe vor sich hin. Mobiles und Lernspielzeug reizten sie nicht, oder besser gesagt, sie waren ein paar Minuten lang interessant und wurden dann nie wieder beachtet.

Sie spielte liebend gern mit Büchern jeglicher Art und Form. Oft saß sie mitten in ihrem Zimmer auf dem Boden, blätterte die Seiten um und machte dabei wie ein Pantomime übertriebene Gesten. Offensichtlich hatte sie sich Moms, Dads und meine Reaktionen beim Lesen abgeschaut.

Als sie 15 Monate alt war, war ihre Büchersammlung beträchtlich gewachsen, nachdem sie sich Exemplare im ganzen Haus zusammenstibitzt hatte, darunter sogar ein paar Bände für Erwachsene, die größer waren als sie. Ich versuchte, ihr über die Schulter zu schauen und zu sehen, ob ihre Gesten irgendetwas zu tun hatten mit dem, was sie da auf der aufgeschlagenen Seite sah; aber immer wenn ich näherkam, klappte sie das Buch zu, als wollte ich einen Blick auf ihr Tagebuch erhaschen.

Sie weinte fast nie, zeigte mir jedoch mit einem bösen Gesicht, dass es sie störte. Unersättlich blätterte sie weiter Bücher durch, machte die Reaktionen der Erwachsenen nach und tat so, als würde sie lesen, und ich bemühte mich weiter, zu erkennen, was sie da las. Auch daraus wurde ein Spiel. Einmal drehte sie das Buch plötzlich herum, als wollte sie sagen, Okay, du Neugierdsnase, da! Das Buch stand auf dem Kopf. Bis heute frage ich mich, ob sie das tat, um mich loszuwerden.

image

»Vielleicht ist sie… anders«, hörte ich Mom eines Abends nach dem Abendessen mit gerunzelter Stirn zu Dad sagen. »Sie spricht immer noch nicht«. Sie wussten nicht, dass ich hinter der Tür stand, die von der Küche zum Esszimmer führte; dort versteckte ich mich immer, wenn ich ihnen zuhören wollte.

»Oh, bestimmt ist sie anders«, antwortete Dad. »Aber ich würde mir keine Sorgen darüber machen, ob sie spricht«.

»Und darüber, ob sie läuft?«, fügte Mom hinzu.

»Sie wird schon sprechen, wenn sie etwas sagen möchte«, entgegnete Dad.

»Und laufen, wenn sie irgendwo hin möchte?«, fügte Mom hinzu.

»Genau.«

image

Danielle schlief gerne ein, indem sie sich auf meinem Schoß fest einrollte. Das genoss ich, aber wenn ich etwas anderes machen wollte, wurde es etwas problematisch. An vielen Abenden schlief ich selbst einfach ein, während sie da lag.

Mit zwei Jahren

DANIELLE IM
WUNDERLAND

image

Danielle sprach und lief immer noch nicht, obwohl sie schneller krabbelte, als die meisten Zweijährigen laufen konnten. Trotzdem litt ihr Sozialleben darunter. Andere Zweijährige wollten nicht mit einem Mädchen befreundet sein, das sich noch wie ein Baby benahm.

Mom hatte ihre liebe Mühe, andere Kinder zu finden, die sie zu ihrem zweiten Geburtstag einladen konnte, was Danielle anscheinend bemerkte. Mom lud noch drei Kinder ein, und zwar Cousin James, der ein Jahr alt war, und die zwei Jahre alten Zwillinge Rachel und Ryann von nebenan. Mom hängte Girlanden und Ballons auf, aber sie lächelte nicht dabei. Ich weiß noch, dass ich etwas peinlich berührt war, weil keine wirkliche Partystimmung aufkam. Danielle lächelte auch nicht. Ich versuchte, die Kinder zu Spielen wie ›Steck dem Esel den Schwanz an‹ zu animieren, aber es war nicht mein größter Partyerfolg.

image

»Ich habe Dr. Sonis gebeten, morgen vorbeizukommen«, sagte Mom zu Dad an jenem Abend während einer ihrer vielen Unterhaltungen über Danielles ›Anderssein‹.

»Na, schaden wird es nicht, obwohl ich es wirklich unnötig finde«, antwortete Dad. »Aber du bist hier die Kinderpsychologin.«

»Mein eigenes Kind kann ich nicht beurteilen«, sagte Mom. »Vielleicht habe ich nicht den nötigen Abstand. Ich weiß einfach nicht, was wir mit ihr machen sollen.«

Abends aßen wir meistens im Esszimmer an einem Panoramafenster mit Blick auf den Bach. Ich wurde meistens damit beauftragt, Mom beim Tischdecken zu helfen. Mom legte großen Wert darauf, dass alles fertig angerichtet war, bevor wir uns zum Essen setzten. Meine besondere Aufgabe war, die Stoffservietten so zu falten, dass sie wie kleine Berge aussahen. Damals fand ich diese Abendessen selbstverständlich, aber jetzt gehören sie zu meinen liebsten Erinnerungen.

Dr. Sonis stattete seinen Besuch ab. Ich könnte schwören, dass Danielle ein freches kleines Grinsen auf dem Gesicht hatte, als sie ihm vorgestellt wurde. Sie spannte ihn sogleich ein, indem sie ihm drei ihrer Puppen aufs Knie setzte, ihnen Schürzen umband und sie mit Tee bewirtete. Ich war zu der Gesellschaft eingeladen und führte meine Serviettenfaltkünste vor.

Am nächsten Abend unterhielt ich mich beim Essen mit Mom und Dad über Alices Abenteuer im Wunderland, das immer noch mein Lieblingsbuch war. »Die Raupe4 ist eine echt interessante Figur«, erklärte ich.

»Sie macht es Alice nicht leicht, oder?«, beteiligte sich Dad.

»Sie macht es niemandem leicht«, gab ich zurück.

Bei meiner Antwort lächelte Mom. Sie hatte mir einmal gesagt, dass sie sehr gerne bei Unterhaltungen zuhörte, weil sie daran erkennen konnte, wie sich ein Kind entwickelte.

Dad machte es sich für unsere Unterhaltung auf seinem Stuhl genüsslich bequem. »Aber hauptsächlich ist sie doch zu Alice unfreundlich.«

»Als sie sich kennenlernten, verstand die Raupe Alice zuerst nicht richtig«, erwiderte ich, »deshalb war sie so unfreundlich zu Alice.«

»Ach, so würde ich das nicht sehen«, sagte Danielle auf einmal. »Sie ist allwissend. Ungefähr so wie ihr, Mom und Dad. Irgendwie sagt sie immer das, was dann als nächstes kommt.«

Mom ließ die hölzerne Schale voller Beeren fallen, die sie gerade auf den Tisch stellen wollte. Ein Wirbelwind aus Blaubeeren hüpfte über den Tisch. Die meisten landeten auf Danielles und meinem Schoß.

Dad warf Mom einen Blick zu, der ausdrückte, Was hab ich dir gesagt?, und fragte Danielle in aller Ruhe, »Und warum weiß sie immer, was gleich passieren wird?«

»Weil sie nämlich dafür sorgt, dass es passiert«, erklärte Danielle.

Moms Augen funkelten fasziniert. Sie stand immer noch mit offenem Mund da. Niemand sammelte die Blaubeeren auf.

»Was meinst du damit, dass die Raupe wie Mom und Dad ist?«, fragte ich.

»Sie versucht immer, Alice eine Lektion zu erteilen«, antwortete Danielle. »Sie gibt ihr zum Beispiel den Pilz, damit sie größer wird, und dann lernt Alice, dass zum Erwachsenwerden mehr gehört, als nur groß zu sein.«

»Wow, ganz schön tiefsinnig«, sagte ich.

Danielle erwiderte, »Also, eigentlich bekommt es Alice von der Grinsekatze5 erklärt, aber die Lektion stammt von der Raupe«.

Mom riss sich zusammen und fragte, »Und das weiße Kaninchen6? Magst du das?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Danielle. »Es hält sich wohl für was Besseres. Zu Bediensteten ist es nicht nett, aber zu Leuten, die was noch Besseres sind, wie die Herzkönigin, da tut es dann so freundlich.«7

»Sehr richtig, Schatz«, erwiderte Mom. »Nur so zu tun ist nicht nett.«

»Ja«, sagte Danielle. »Ich hab gelesen, ein Typ nennt das servil.«

Tränen strömten aus Moms Augen, ob vor Freude oder vor Traurigkeit, wusste ich nicht genau, aber ich glaube, es war beides.

»Welcher Typ?«, fragte ich.

»Ach, ich glaub, er heißt Ronald. Gelesen hab ich das in einem Buch mit dem Titel Wonderland Revisited

»He, das ist mein Buch«, sagte ich, »ich hab mich schon gefragt, wo es hingekommen ist.«

»Ich find das Wort so cool«, fügte Danielle hinzu. »Seeer-viiil, seeer-viiil… Klingt irgendwie so wie das, was es bedeutet.«

»Das ist Lautmalerei,8 Danielle«, antwortete Dad gelassen.

»Servil ist Lautmalerei?«, fragte Danielle.

»Dad will damit sagen, dass servil ein Beispiel für ein Wort ist, das so klingt wie das, was es bedeutet.«

»Ah, okay. Dann ist ›Lautmalerei‹ keine Lautmalerei«, sagte Danielle lächelnd.

»Da hast du wohl recht, Danielle«, antwortete ich, »obwohl ich mich schon oft darüber gewundert habe.«

»Jedenfalls«, schlussfolgerte Danielle, »ist Alice einfach zu allen nett. Ich finde, so sollten wir alle sein.«

Später am Abend, als Danielle und ich allein waren, fragte ich sie, »Was hast du denn sonst noch so in deinem Zimmer gemacht? Heimlich Rad geschlagen?«

image

Danielle schüttelte den Kopf.

»Du weißt, Mom will, dass du läufst. Bestimmt hast du’s schon mal probiert, oder?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Dann versuchen wir’s jetzt mal.«

Sie nahm meine Hand und konnte ziemlich gut stehen.

»Das hier hast du aber schon geübt, stimmt’s?«, fragte ich.

Sie nickte.

»He, Dani, vergiss nicht, du kannst jetzt sprechen.«

»Ja, das Stehen hab ich geübt.«

»Das hast du auch schon ziemlich gut drauf… Jetzt versuchen wir’s mal mit einem Schritt. Stell einen Fuß vor, so.« Ich machte es ihr vor.

Sie hielt meine Hand und machte barfuß auf dem weißen Teppich in ihrem Zimmer einen wackeligen Schritt. Ich hatte den Eindruck, dass es wirklich ihr erster Schritt war. Sie hatte bloß vorher keine Zeit darauf verschwendet. Wir drehten langsam eine Runde im Zimmer, begrüßten ihre Puppen und drehten dann noch eine Runde.

»Hallo, so trifft man sich wieder«, sagten wir dabei jedes Mal zu jeder Puppe. Allmählich bekam sie zittrige Beine.

»Das ist für heute schon ganz ordentlich, Danielle. Morgen machen wir wieder weiter.«

Wir übten jeden Abend, und nach ein paar Tagen lief sie alleine – noch etwas zaghaft, aber sie konnte es.

»Wir müssen uns nur überlegen, wie wir Mom und Dad zeigen, was du Neues gelernt hast«, sagte ich. Danielle hatte einen Plan.

»Danke, Claire«, sagte sie. Sie umarmte mich fest.

Am nächsten Abend schlug ich nach dem Essen vor, wir könnten doch alle zusammen einen Spaziergang machen.

»Ich hol den Buggy«, sagte Mom.

»Nein, ich hol ihn«, sagte Danielle. Sie krabbelte, wie üblich, schnell in den Flur.

»Wenn sie nur nicht so schnell krabbeln würde, vielleicht –« setzte Mom an, doch bevor sie den Satz beenden konnte, kam Danielle aus dem Abstellraum herausspaziert und schob den Buggy vor sich her. Wieder kamen Mom die Tränen, und sie umarmte Danielle.

»So kann man den Buggy natürlich auch benutzen«, sagte Mom.

»Ach, ich glaub, den brauchen wir nicht mehr«, sagte Danielle und schob den Buggy fort.

»Vielleicht sollten wir Hand in Hand gehen«, sagte Mom. Und so bummelten wir ganz gemächlich zum Park, obwohl wir hauptsächlich wegen Mom so langsam gingen.

Der Bach, der an unserem Haus vorbeifließt, führt durch den Park, und dort versammeln sich die Enten. Die Leute füttern sie immer direkt neben den Schildern mit Enten füttern verboten. Danielle jagte einer Ente hinterher, und obwohl sie zwar nicht direkt rannte, war sie doch offensichtlich Meisterin im schnellen Gehen.

Danielle warf einen Stein ins Wasser. Daraufhin sauste die Ente vom breiten Teil des Bachs weg und hin zu Danielle. Die kreischte und schnitt eine Grimasse. Die Ente quakte wütend und schwamm wieder zurück. Mit jeder Ente, der wir begegneten, spielte sie dieses Katz- und-Maus- oder Danielle-und-Ente-Spielchen. Dabei lachte sie sich jedes Mal kaputt. Zurück zum Haus gingen wir dann deutlich schneller.

image

Bevor Danielle ins Bett ging, setzten wir uns oft zusammen, so wie damals, als sie das Laufen übte. An manchen Abenden las ich ihr etwas vor, obwohl sie selbst lesen konnte. Manchmal dachte ich mir kleine Lieder aus und sang sie ihr vor. Es war unsere besondere Zeit miteinander.

An jenem Abend begann Danielle während unseres Gute-Nacht-Rituals plötzlich, zu weinen.

»Hey, was ist denn los, Dani?«, sagte ich, aber sie hörte mich nicht. Weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, zog ich sie an mich, und sie erwiderte meine Umarmung. Ich hielt sie fest, und allmählich wurde ihr Weinen zu einem leisen Wimmern. So hielt ich sie, bis sie in meinen Armen einschlief. Damals wusste ich nicht, weshalb sie weinte, aber jetzt verstehe ich es, glaube ich, besser.

image

Seit Danielles Geburt hatte Dad davon gesprochen, eine Schule zu eröffnen, an der nach seinem Konzept des ›Learning by Doing‹ unterrichtet werden sollte. Er kaufte ein kleines Schulgelände; es hatte eine lange Geschichte als Bischofskloster hinter sich, hatte dann kurzzeitig als Landgasthaus gedient, als das Kloster nach Nord-Kalifornien umzog, und hatte schließlich zehn Jahre lang leergestanden.

Bevor Danielle sprechen konnte, war Mom von der Idee nicht begeistert. »Wenn du dich so für Pädagogik interessierst, könntest du dir vielleicht darüber Gedanken machen, dass wir eine zweijährige Tochter haben, die nicht sprechen kann«, pflegte sie zu sagen.

Als Dani dann kaum mehr zum Schweigen zu bringen war, beteiligte sich Mom an der Planung der Schule. Sie übernahm die Einrichtung der schulpsychologischen Abteilung, hatte aber besondere Freude am Design der Renovierungsund Gartenarbeiten. Zu Hause waren die Wände in Küche und Flur mit Moms Skizzen bedeckt.

»Ich hätte Designerin werden sollen«, sagte sie oft. Sehr bald sprach Danielle von der Schule als »meine Schule«. Sie arbeitete mit Mom bei der Verschönerung zusammen und baute ein maßstabsgerechtes Modell von Moms landschaftsgärtnerischen Ideen. Fast jeden Tag war Danielle auf der Baustelle und pflanzte Blumen. Ich gesellte mich für gewöhnlich nach der Schule zu ihr.

Sie erklärte mir, sie sei für die Blumen zuständig, und offenbar hatte sie sich dafür eine eigene, ganz bestimmte Anordnung überlegt, bei der sie sich nicht dreinreden ließ.

Dad veranstaltete mit allen, die sich an der Finanzierung beteiligt hatten, eine kleine Zeremonie zum ersten Spatenstich. Danielle rannte umher, als sei es ihre Eröffnungsfeier, und achtete darauf, dass alle ihre Blumenbeete in Ordnung waren. Ehe sie sich versah, schleifte sie Martine Rothblatt,9 die Vorstandsvorsitzende von United Therapeutics, zu den Beeten, um ihr die Blumen zu zeigen.

»Freut mich, dich kennen zu lernen, Fräulein…«

»Danielle. Danielle Calico.«

»Ah, du bist also die frühentwickelte Tochter.«

»Melde mich zum Dienst.«

»Ein cooles Design hast du da«, sagte Martine und meinte ihre Blumen.

»Ja, das ist die Anordnung für die Maschinenbefehlscodes der Analytischen Maschine.10 Hier, diese Stiefmütterchen sind die Opcodes, und die Mohnblumen sind die Adressen der Operanden.«

»Echt toll, Danielle«, erwiderte Martine. Dann begann sie, zu zählen. »Stimmt, jede Reihe hat vierzig Positionen. Ich glaube, ich habe noch nie einen Computer aus Blumen gesehen«, sagte sie mit einem breiten Lächeln.

»Naja, er funktioniert nicht.«

»Die Analytische Maschine funktionierte auch nicht«, bemerkte Martine. »Aber das hielt eine geniale junge Frau namens Ada Lovelace11 nicht davon ab, dafür Programme zu schreiben. Sie war die Tochter des Dichters Lord Byron und die erste Programmiererin der Welt, auch wenn es noch ein Jahrhundert lang dauern sollte, bis es Computer gab, auf denen Programme laufen konnten. Sie war dir sehr ähnlich, nur etwas älter.«

»Ja, ich hab von ihr gelesen, ich find sie echt cool«, sagte Danielle, als sie bemerkte, dass ein Stiefmütterchen am falschen Ort stand. Sie versuchte, ein Loch zu graben, um es umzupflanzen, aber der harte Boden von Pasadena gab nicht nach. Danielle zog einen gezackten Löffel, den sie für solche Gelegenheiten parat hielt, aus der Hosentasche und lockerte den Lehm soweit, dass sie mit ihrem Spaten ein Loch ausheben und das Stiefmütterchen umsetzen konnte.

image

Dad hielt vor den Leuten, die sich zum ersten Spatenstich im Hof versammelt hatten, eine Rede zu seinem Leitbild von Kindern, die lernten, indem sie sich den Herausforderungen der Welt stellten. »Egal, ob sie dabei erfolgreich sind oder nicht, sie werden wahrscheinlich dabei etwas lernen, an das sie sich erinnern werden.«

Dad erzählte, was ihn dazu inspiriert hatte. »Ich suchte nach Möglichkeiten für die Bildung meiner beiden Töchter, die heute mit dabei sind. Vor einigen Jahren besuchte ich das Wiener Schulmuseum und entdeckte dort diese bemerkenswerte Schule, die ›Stern’sche Schule‹,12an der durch ›Learning by Doing‹ praxisnah unterrichtet wurde. Bei ihrer Eröffnung 1868 war sie übrigens die erste Schule in Europa, an der Mädchen damals eine höhere Schulbildung erwerben konnten.

Sie wurde von einer mutigen Frau gegründet, und zwar von Regina Stern. Die Idee war im Europa des neunzehnten Jahrhunderts sehr umstritten und stieß auf viel Kritik und Unmut. Beherzt hielt Regina Stern in ganz Europa Vorträge darüber, wie wichtig eine Schulbildung für Frauen war, und wie man dies richtig machte. Jahre später wurde die Schule von ihrer Tochter, Lillian, übernommen, die als erste Europäerin einen Doktortitel in Chemie erhielt. Die beiden Frauen führten die Schule siebzig Jahre lang, bis sie sie aufgeben mussten, als sie im Sommer 1938 vor Hitler flohen. Wären sie nur wenig länger geblieben, dann wären sie nicht mehr davongekommen.

Zu Ehren dieser zwei großartigen Frauen«, sagte Dad, »soll diese Schule ›Die Stern-Schule‹ heißen.«

Danach nahmen wir reihum die Schaufel und gruben damit feierlich ein wenig Erde um. Dad hatte eine kleine Schaufel für Danielle mitgebracht, aber bevor er sie holen konnte, schwang Danielle bereits begeistert die große Schaufel, auch wenn sie hinfiel, als sie damit graben wollte. Jeder von uns kam an die Reihe – Danielle, Dad, Mom, ich, Charlie und die anderen Kinder, die zur Zeremonie erschienen waren.

image

Ach ja, Charlie – wir hatten uns ein paar Monate zuvor kennengelernt, als ich gerade zehn geworden war. Seine Familie zog in unsere Nähe, und er kam in meine vierte Klasse an der Chandler School. Ich war damals noch etwas unsicher, und er kam so freundlich und vorurteilslos und mit einem großen Lächeln in mein Leben. Er hatte welliges rotes Haar, das ihm immer vor die Augen fiel. Auch er war im Alter von sechs Jahren in dieses Land gekommen, zusammen mit seiner Mutter aus Irland, nachdem sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben war. Er war groß und schlaksig und machte gern dramatische Gesten, zum Beispiel wenn er mit ausgebreiteten Armen in den Bach fiel – auch ein künstlicher, denn es gab nur wenige natürliche Bäche in Pasadena – und jeden nass spritzte, der dabei war, was meistens ich war.

Während der Pausen spielten Charlie und ich draußen im Freien und versuchten, Steine über den Bach hüpfen zu lassen. Bei fließendem Wasser geht das sehr schwer, aber er war ein Profi. Er blickte immer kurz zu mir hinüber, wenn er es geschafft hatte, um zu sehen, ob ich zuschaute. Ich schaute immer zu.

Mit drei Jahren

EIN SCHWEIN IM MATSCH

image

Eine Woche nach Danielles drittem Geburtstag veranstaltete die Stern-Schule einen Tag der Offenen Tür. Der meiste Unterricht fand im Hauptgebäude statt – einem stattlichen Bauwerk aus roten Ziegeln mit Türmchen und bemalten Fensterscheiben. Die Schlafsäle lagen in einem langen weißen Gebäude mit regelmäßig angeordneten, spanisch anmutenden Fenstern am Rande eines großen Feldes mit kalifornischen Pfefferbäumen, die wie Trauerweiden aussehen. Hinter dem Gebäude schlängelte sich der künstliche Bach, und wenn man die Fenster im Schlafsaal öffnete, hörte man ihn plätschern. Es war schon erstaunlich, wie viel schöner alles aussah, nachdem Dad das Schulgelände gerade erst vor einem Jahr gekauft hatte.

Das offene Haus hieß 140 Schüler im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren und ihre Eltern willkommen. Danielle war glücklich wie ein Schwein im Matsch und nahm an den verschiedenen Probestunden teil, während ich kaum hinterherkam.

Als die Schule einige Monate später offiziell eröffnet wurde, ging Danielle beinahe jeden Tag hin; begleitet wurde sie dabei von ihrer Kinderfrau, Marie, einer freundlichen Lettin. Marie feilte noch an ihrem Englisch. Danielle korrigierte sie ohne Scheu, und Marie brachte Danielle dafür Lettisch bei.

Man erkannte Danielle immer schon von Weitem, weil sie so winzig war und so auffallende Blumenkleider trug, die sie selbst aussuchte. Die Leute merkten bald, dass sie sieben Kleider hatte, für jeden Wochentag eines. Jeden Tag blieb sie als erstes bei den Blumenbeeten stehen und sah nach ihren Mohnblumen, Stiefmütterchen, Zinnien und Sonnenblumen. Sie erklärte, das Blumenbeet sei ein Unterprogramm zur Berechnung von Fakultäten.

Danielle konnte sich nicht entscheiden, welcher Unterricht ihr am besten gefiel, deshalb ging sie einfach reihum hin. Sie war noch nicht als ordentliche Schülerin eingeschrieben, und die Lehrer billigten es anscheinend, dass sie dann und wann mal in jedem Fach erschien. Obwohl sie überall nur sporadisch teilnahm, erwarteten die Lehrer sie gespannt und beschäftigten sich in dieser Stunde normalerweise mit Danielle.

»Die entstehen, wenn sich das kleine Ding aufgrund der Schwerkraft auf das große Ding zu bewegt und dabei die seitliche Geschwindigkeit gleich der nach innen gerichteten ist«, beantwortete Danielle auf dem Weg zum Unterricht zur Funktionsweise des Universums die Frage, wie Orbits entstehen.13 Die älteren Kinder waren hier anscheinend überfragt gewesen.

»Getrude glaubt, das Mädchen aus dem Theaterstück im Theaterstück macht sich über sie lustig, weil sie so bald nach dem Tod von Hamlets Vater heiratet«, antwortete Danielle auf eine Frage im Shakespeare-Unterricht. Der Lehrer, der mit Bart, Schnauzer, Locken und elisabethanischem Gewand wie Shakespeare selbst daherkam, hatte gefragt, was der berühmte Ausspruch »Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel« bedeutete.

»Kann irgend jemand etwas zu den Figuren in Der Zauberer von Oz14 sagen?«, fragte Vivian Sobchak, die Filminterpretation unterrichtete.

Emma, die wie ich in der sechsten Klasse war, antwortete, »Ich finde die Munchkin-Mädchen süßer als die Munchkin-Jungen.«

Danielle meldete sich zu Wort, »Ich glaube, der Blechmann, der Löwe und die Vogelscheuche sind jeweils Dorothys Es,15 Über-Ich16 und Ich.17«

Die Kinder schüttelten den Kopf.

»Mensch, darüber müsste ich erst mal nachdenken, Danielle«, erwiderte Frau Sobchak. »Und Dorothy selbst?«

»Die rote Farbe ihrer Schuhe stehen für das Erwachsenwerden. Als sie ihre roten Absätze zusammenschlägt, akzeptiert sie, dass sie erwachsen ist und nach Hause gehen kann«. Die Sechstklässler kicherten.

»Das sind aber schöne Blumen auf deinem Kleid, Danielle«, bemerkte Fräulein Chabon, unsere Kunstlehrerin. »Was bedeuten denn die Blumen für dich?«

»Also, meine Mutter hat immer Geranien im Haus, und meine Großmutter Hannah hat Blumen gemalt. Blumen sind irgendwie wie Menschen«, antwortete Danielle.

»Wie meinst du das?«, fragte Fräulein Chabon.

»Naja, sie wachsen heran, wie Menschen. Eine Zeit lang sie sind hübsch und zufrieden, und dann lassen sie die Köpfe hängen und verwelken.«

»Nicht bei allen Menschen ist das so«, entgegnete Fräulein Chabon.

Danielle erregte bei den Lehrern gehöriges Aufsehen, und erst recht bei den Schülern, die nicht begeistert davon waren, dass eine Dreijährige sie blamierte.

image