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Xosé M. Núñez Seixas

Die bewegte Nation

Der spanische Nationalgedanke 1808 – 2019

Aus dem Spanischen von Henrike Fesefeldt

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-969-0

© 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-336-0

© der Originalausgabe 2018 by Editorial Planeta, S.A.

Titel der Originalausgabe: Suspiros de España. El nacionalismo español, 1808–2018 (Crítica)

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras unter Verwendung eines Fotos von ullstein bild – imageBROKER/eyeclick

Inhalt

Vorwort

Einleitung
Gibt es einen spanischen Nationalismus?

Von der katholischen Monarchie zur imperialen Nation (16. bis 19. Jahrhundert)

Die Erneuerung der Nation und die Entstehung neuer Feindbilder (1898–1936)

Bürgerkrieg und Franquismus: die Zwei Spanien versus vielfältige Vaterländer (1936–1975)

Eine schwierige Relegitimierung: Vorstellungen von Spanien seit der Transition (1976–2012)

Die Nation der Rechten: zwischen dem Vermächtnis des Franquismus und der Treue zur Verfassung

Die Nation der Linken: Spanien in Vielfalt und die Tugenden des Volkes

Ein brüchiger symbolischer Konsens

Der spanische Nationalismus in der Gegenwart: neue Herausforderungen und alte Lösungsansätze (2013–2019)

Literaturverzeichnis

Dank

Personenregister

Zum Autor

Vorwort

Im Zentrum dieser Studie, die als Synthese konzipiert wurde, steht die Analyse der wichtigsten Entwicklungslinien des komplexen und vielgestaltigen Phänomens des spanischen Nationalismus, der für einen Gutteil der politischen Akteure und Intellektuellen in Spanien schlicht und einfach nicht existiert. Den überaus wichtigen Jahren nach dem Tod von General Francisco Franco (1975–2019) wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Die meisten der hier vorgestellten Inhalte und Argumente hat der Autor dieser Zeilen schon in den letzten Jahren in verschiedenen wissenschaftlichen Monografien in unterschiedlichen Sprachen veröffentlicht bzw. gemeinsam mit anderen Kollegen, wie Javier Moreno Luzón (2013, 2017), Stéphane Michonneau (2014) und Francisco Sevillano (2010) in Sammelbänden über den Nationalismus während des spanischen Bürgerkrieges (2006), über den spanischen Nationalismus nach Francos Tod (2010) und (zusammen mit Javier Moreno) über die Entwicklung der nationalen Symbole im zeitgenössischen Spanien (2017) publiziert. Sie sind in weiten Teilen das Ergebnis langjähriger Forschungen, die für diese Studie überarbeitet und aktualisiert wurden. Dabei gehorcht die kritische Grundeinstellung, die dieser Monografie zugrunde liegt, der Verpflichtung eines jeden Historikers, der seine Aufgabe ernst nimmt: Fragen zu stellen und Paradigmen und Interpretationsmuster vorzuschlagen, auch wenn man dafür in Kauf nehmen muss, die Darstellung auf große Linien zu verdichten und auf manche Details und Nuancen zu verzichten. Es mag ein gewagtes Unternehmen sein, über sensible Themen zu schreiben, die im Zentrum von hitzigen Debatten stehen, denn die Anhänger und Kritiker des Untersuchungsgegenstandes, in diesem Fall der spanischen nationalen Identität, sind nicht immer in der Lage oder bereit, die Passionen beiseitezulassen und sich dem Thema mit kühlem Kopf, einem wissenschaftlichen Ansatz und einer analytischen Herangehensweise zu nähern. Hier geht es nicht darum, die Befürworter der einen oder anderen nationalen Identität zufriedenzustellen; ganz im Gegenteil ist es oft ein Zeichen einer gelungenen Interpretation, wenn man es keinem der Beteiligten recht machen kann.

Für die deutsche Ausgabe wurde der Text, der in Spanien sowohl bei einer breiteren Leserschaft als auch in Fachkreisen auf lebhaftes Interesse gestoßen ist, überarbeitet und – angesichts der jüngsten politischen Ereignisse – aktualisiert. So wird im letzten Kapitel auf den vergleichsweise späten Aufschwung der rechtsradikalen Partei Vox seit dem Sommer 2018, die einen expliziten und aggressiven Nationalismus auf ihre Fahnen geschrieben hat, eingegangen. Neben einigen Korrekturen im Detail wurde die Terminologie in manchen Nuancen angepasst, z. B. haben die Begriffe Nationalismus und Nationalbewegung im Spanischen nicht exakt dieselbe Bedeutung wie im Deutschen.

Einleitung Gibt es einen spanischen Nationalismus?

Die Debatte über die Theorien zum Wesen und zur Entwicklung des Nationalismus ist in den Sozialwissenschaften bei weitem noch nicht zu einem einhelligen Ergebnis für die Interpretation dieses Phänomens gekommen. Umso wichtiger ist es, die theoretischen Standpunkte, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegen, explizit zu benennen, um nicht in einen unfruchtbaren und unkritischen Positivismus zu verfallen.

Die Paradigmen zur Interpretation des Nationalismus bewegen sich immer noch zwischen zwei Extremen, und weiterhin orientieren sich die meisten historischen Abhandlungen zum Thema mehr oder weniger stark an einem der beiden Pole. Auf der einen Seite stehen die primordialistischen Theorien (die der britische Nationalismusforscher Anthony D. Smith in seiner klassischen Definition auch »Geology« nennt).1 Sie entstammen größtenteils dem herkömmlichen, organisch-historistischen oder objektiven Konzept der Nation, dessen Wurzeln in die deutsche kulturelle Tradition des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurückreichen. Folgt man dieser Interpretation, handelt es sich bei den Nationen um objektive Realitäten, die ihre Legitimität aus der Existenz von schon zuvor bestehenden diakritischen Faktoren beziehen, wie z. B. die Kultur, ein charakteristischer Volksgeist, die Geschichte und mehr oder weniger »objektive« ethnische Merkmale. Der Nationalismus als politisches Phänomen hat somit seinen Ursprung in dem vorherigen Bestehen der Nation. Auf der entgegengesetzten Seite finden sich die konstruktivistischen oder modernistischen Theorien (nach Anthony D. Smith der Ansatz der »Gastronomy«), die im Wesentlichen auf das liberal-revolutionäre Konzept der Nation zurückgehen, das im ausgehenden 18. Jahrhundert seinen Ursprung in der nordamerikanischen und der Französischen Revolution hatte. Demzufolge ist die Nation eine politische Gemeinschaft derjenigen Bürger, die sich aus eigenem Willen dafür entscheiden, dieser Nation anzugehören.

Diese Studie geht bewusst von der theoretischen Vorannahme aus, dass es sich beim Nationalismus um »Gastronomy« und nicht um »Geology« handelt, gleichzeitig aber wird das Ergebnis dieser »Gastronomy« von der Zusammensetzung der zugeordneten Merkmale beeinflusst. Als Ideologie und Gesamtheit der politischen Überzeugungen, als kulturelle Praxis und als soziale Bewegung ist der Nationalismus der Nation vorgelagert, der er jedoch gleichzeitig durch sein Wirken ihre Form gibt und sie verändert. Aus der Perspektive eines nuanciert konstruktivistischen Ansatzes definiert diese Studie die Nation als eine imaginierte Gemeinschaft, die grundsätzlich souverän ist, die sich innerhalb territorialer Grenzen verortet und die von einem Kollektiv von Individuen gebildet wird, die sich miteinander verbunden fühlen. Diese Verbundenheit kann auf ganz verschiedenen und je nach historischer Konjunktur unterschiedlichen Faktoren beruhen, wie dem Wunsch nach Territorialität, einer gemeinsamen Geschichte oder der Gesamtheit solcher ethno-kulturellen Merkmale, die sich so weit objektivieren lassen, dass man sie insofern als Ethnizität beschreiben kann, als sie es ermöglichen, ein soziales und vorpolitisches Bewusstsein der eigenen Differenz zu definieren. Nicht zuletzt teilt diese Gemeinschaft von Individuen die Auffassung, dass die Nation der souveräne Träger der kollektiven politischen Rechte ist. Alle Nationalisten bedienen sich der Mythen und ethnischen Merkmale, Symbole und Glaubensbekenntnisse, die ihnen nützlich erscheinen, um ihre Nation zu begründen.

Auch wenn man berücksichtigt, dass bei der Konstruktion aller Ideologien und politischen Organisationen – selbst bei den nationalistischen – die sozialen Akteure je nach ihren Interessen, ihren Weltanschauungen und ihren selektiven Vorlieben eine entscheidende Rolle spielen, so steht ebenfalls fest, dass der Nationalismus den Entwurf einer kollektiven Identität mit kulturellen und politischen Dimensionen anstrebt, was sich auf die Definition des Trägers der politischen kollektiven Rechte und die Legitimität der Machtausübung in einem bestimmten Territorium auswirkt. Aus diesem Grund können der Nationalismus und die nationale Identität durchaus sozial akzeptierte, vorpolitische Diskurse und kollektive Identitäten, die sowohl auf territorial verankerten institutionellen Loyalitäten als auch auf einem vorneuzeitlichen, ethno-kulturellen Bewusstsein beruhen können, als Grundlage verwenden, von ihnen beeinflusst oder durch sie begünstigt werden. Allerdings ist die Existenz solcher proto- oder pränationalen Identitäten weder eine Voraussetzung noch ein bestimmendes Element für das spätere Entstehen von Nationalbewegungen. Der Nationalismus ist, in der modernen Verwendung des Begriffes, das Resultat der politischen und kulturellen Mobilisierung der jeweiligen Akteure zum entsprechenden historischen Zeitpunkt.

Ausgehend von diesen Überlegungen ist die Nation eine soziale Realität, die für die wissenschaftliche Betrachtung nur in dem Maß existiert, in dem ihre Angehörigen von ihrer Existenz überzeugt sind. Die Nation erscheint als historisches Phänomen im Kontext der beginnenden Neuzeit, in einer Phase, in der die Prinzipien, die zuvor die Souveränität und die Machtausübung legitimierten (dynastische und feudale Treuebindungen, religiöse Identitäten, Verpflichtungen des Nachbarschaftsrechtes), seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt wurden, so dass sie durch neue Prinzipien ersetzt werden mussten. Wie schon erwähnt, konnten Faktoren wie Ethnizität (die Gesamtheit derjenigen Merkmale, die ein Kollektiv nach außen sichtbar machen und eine soziale Konstruktion seiner Einzigartigkeit ermöglichen, wie z. B. Sprache, Kultur, Gebräuche), religiöse Identität, die gemeinsame Erfahrung einer territorialen Herrschaft und das Vorhandensein von Institutionen, die eine über Generationen hinweg vererbte Identität geschmiedet hatten, seit dem Mittelalter als Grundlage für die Stiftung einer kollektiven Identität wirken. Genauso konnten diese Elemente in der Neuzeit die Entstehung eines Nationalismus begünstigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es zwangsläufig einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Ethnie, der vormodernen politischen Gemeinschaft und dem Nationalismus gibt.

Zudem kann das nationale Projekt bei mehreren oder nur einem Teil der sozialen Gruppen des als Nation definierten Kollektivs Zustimmung finden; verschiedene soziale Interessen, unterschiedliche Welt- und Gesellschaftsvorstellungen und dementsprechend auch unterschiedliche politische Ideologien können sich das nationale Projekt zu eigen machen. Grund dafür ist die außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit des Nationalismus als politisch-ideologisches Gebilde, das in der Lage ist, mit den unterschiedlichsten ideologischen Diskursen und sozialen Interessen eine Verbindung einzugehen. Im Laufe des 19., 20. und 21. Jahrhunderts gab es nicht nur viele Nationalismen konservativer, traditionalistischer oder reaktionärer Prägung, sondern auch liberal, demokratisch, marxistisch und sogar anarchistisch orientierte Nationalbewegungen. Somit sind die Nationalismen (und Nationalbewegungen) ein wichtiger Bestandteil der Dynamik der sozialen Konstruktion der kollektiven Identitäten. Die Nationalisten und/oder Patrioten sind in der Regel proaktive Akteure beim Aufbau der Nationen, wobei sie sich häufig die schon zuvor existierenden kollektiven Identitäten und Sozialbeziehungen zunutze machen. Und nicht andersherum.

In der Tat ist die wissenschaftliche Diskussion über die Möglichkeit der Existenz von Nationen und sogar von Nationalismen vor dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer noch zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Die Mehrheit der Nationalisten, aber auch einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass sich schon am Ende des Mittelalters territoriale Gemeinschaften mit nationalen Bindungen nachweisen lassen, deren Angehörige über Identitäten verfügten, die über die dynastischen Treuebindungen, die Religionszugehörigkeit und das ethnische Bewusstsein hinausreichten. Demgegenüber wird in dieser Studie die These vertreten, dass sich die Existenz von Nationen vor dem Beginn der Neuzeit nicht nachweisen lässt, sondern erst seit der liberalen Revolution, die einen modernen nationalen Diskurs entwarf und die Vereinigten Staaten von Amerika in die Unabhängigkeit führte (1775–1783).

Obwohl sich dieser Essay mit dem spanischen Nationalismus befasst, betrachtet er auch dessen Wechselwirkung mit den alternativen Nationalismen, die sich seit dem 19. Jahrhundert innerhalb des spanischen Staates entwickelten, das heißt, die katalanische, galicische und baskische Nationalbewegung sowie den kubanischen und puerto-ricanischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Dabei wird bewusst jeder primordialistische Erklärungsansatz vermieden. Demensprechend wird nicht von der Annahme ausgegangen, dass es seit grauer Vorzeit innerhalb der Grenzen der spanischen politischen Gemeinschaft schon zuvor bestehende Nationen gab. Vielmehr lässt sich im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts eine Dynamik von zum Teil gegenläufigen, dialektischen oder sogar interagierenden Nationsbildungsprozessen beobachten. Es gab eine kontinuierliche Wechselwirkung zwischen der Entwicklung des spanischen Nationalismus und der Geburt und Entfaltung der peripheren Nationalismen: Die Erfolge des Ersten bedingten das Scheitern der Letzteren, und vice versa. Es wäre allerdings verfehlt, die kollektiven Identitäten als eine Art Gefäß zu verstehen, das bis zum Rand mit einer rein spanischen oder alternativen Identität gefüllt war. Bei der Ausprägung der Identitäten handelte es sich vielmehr um dynamische und fließende Prozesse der nationalen und/oder ethnoterritorialen Identifikation, die einer hybriden Dynamik gehorchten und die zudem über weite Zeiträume hinweg auch zur Bildung von multiplen Identitäten führten. Es wäre deshalb unsinnig, die nationale Frage in Spanien so zu verstehen, als sei jeder Nationalismus und jedes Territorium eine in sich geschlossene Einheit, wie es in der spanischen Geschichtswissenschaft implizit häufig geschieht.

Die Frage, ob es in der Neuzeit, und insbesondere im demokratischen Spanien nach dem Tod von General Francisco Franco (1975), überhaupt einen spanischen Nationalismus gibt, wird nicht nur unter Sozialwissenschaftlern, sondern auch unter spanischen Politikern und Intellektuellen weiterhin intensiv diskutiert. Keine Zweifel bestehen dagegen an der Existenz von peripheren Nationalbewegungen, die letztlich das genaue Gegenteil der Auffassung von Spanien als »allgemeinem und unteilbarem Vaterland der Spanier«, wie es die Verfassung von 1978 formuliert, darstellen. Die meisten baskischen, katalanischen, galicischen und anderen Nationalisten akzeptieren und verfechten voller Stolz, dass sie Nationalisten und nicht nur Patrioten sind. Demgegenüber bestreitet der größte Teil derjenigen, die Spanien für eine Nation halten, dass es sich bei ihnen um spanische Nationalisten handelt, und zwar unabhängig davon, ob sie sich im Parteienspektrum rechts, links oder in der Mitte verorten.

Letztlich hängt alles, wie schon erwähnt, von der Definition des Begriffs des Nationalismus ab. Folgt man dem im deutschsprachigen und frankophonen Raum vorherrschenden Verständnis, das den Nationalismus mit einer Überhöhung der ethnischen Konzeption der politischen Gemeinschaft gleichsetzt und nicht mit einer staatsbürgerlichen Grundidee einer Nation der Bürger, und das weiterhin für politische Positionen steht, die in letzter Instanz eher der organischen Gemeinschaft anstelle der Demokratie und dem Bürgerwillen den Vorrang geben, dann wird man nur eine geringe Anzahl spanischer Nationalisten finden. Allerdings wird auch die Zahl der galicischen, baskischen oder katalanischen Nationalisten deutlich niedriger ausfallen als man a priori vermutet hätte. Definiert man jedoch Nationalismus als eine Ideologie und eine soziopolitische Bewegung, die die Meinung akzeptiert und verficht, dass ein bestimmtes, durch ein Territorium definiertes Kollektiv eine Nation bildet und deswegen dieses Kollektiv zum Träger der Staatsgewalt bestimmt, unabhängig von den Kriterien (staatsbürgerliche, ethnische, historische oder eine Mischung der drei Elemente) für die vollberechtigte Zugehörigkeit zu dieser Nation, dann gibt es durchaus spanische Nationalisten, die nicht notwendigerweise antidemokratisch eingestellt sein müssen; das gilt genauso für die baskischen und katalanischen Minderheitennationalisten.

In Abgrenzung dazu wird hier ein breiterer und vielfältiger einsetzbarer Nationalismusbegriff zugrunde gelegt: die Annahme und das Eintreten dafür, dass ein Kollektiv von Individuen sich in den Grenzen eines bestimmten Territoriums als eine Nation definiert, seine Souveränität ausübt und somit zum Träger kollektiver politischer Rechte wird. Vor diesem Hintergrund kann man zwischen einem staatsbürgerlichen und einem ethnischen Nationalismus differenzieren, auch wenn man in den meisten Fällen auf eine Kombination dieser beiden häufig auftretenden Idealtypen treffen wird. Kaum ein ursprünglich staatsbürgerlicher Nationalismus hat im Laufe des 19. Jahrhunderts darauf verzichtet, seine Legitimationsbasis zu erweitern, indem er sich auf die Geschichte, die Kultur, den »Volksgeist«, gemeinsame Erfahrungen oder andere Elemente einer emotionalen und nicht nur rein vertraglichen Bindung zwischen den Angehörigen der Nation berief. Ganz ähnlich haben die meisten ursprünglich ethnischen Nationalismen, vor allem in Westeuropa und nach 1945, auf diejenigen Bestandteile verzichtet, die mit der Demokratie und den staatsbürgerlichen Werten unvereinbar waren, und auf eine Erneuerung ihrer doktrinären Grundlage gesetzt.

Die Entscheidung für eine solche Definition hat in theoretischer Hinsicht zwei Konsequenzen. Erstens wird der Begriff »Nationalist« ohne normative Konnotationen verwendet. Damit hängt die politische Akzeptanz eines Nationalismus normativ betrachtet nicht von dem Territorium ab, in dem er als Träger der Souveränität auftritt, sondern von der Frage, inwieweit seine ideologischen Forderungen im Einklang mit den demokratischen Werten und nicht allein mit der herrschenden Rechtsordnung stehen.

Als zweite Konsequenz impliziert eine solche Definition von Nationalismus, dass er sich auch in solchen politischen Programmen und Strömungen nachweisen lässt, die sich auf eine Nation beziehen, die diese als eine unstrittige und unanfechtbare, allgemein akzeptierte Tatsache voraussetzen, selbst wenn eine solche ideologische Komponente nicht unbedingt sichtbar ist und nicht zwangsläufig im Zentrum der politischen Agenda und der strategischen Prioritäten steht. Sie kann sich auch eher latent äußern, als Bewusstsein der Existenz und als Bekenntnis zu einer Nation und ihren politischen Institutionen, die man als einen schon feststehenden Bezugsrahmen für Werte, kulturelle Praktiken und Traditionen akzeptiert.

Manche Autoren und Autorinnen definieren dieses Phänomen eher als Patriotismus, der vom Begriff des Nationalismus zu unterscheiden sei. Andere dagegen begreifen beide Kategorien als komplementär, so dass auch der republikanische Patriot [in dem Maß] ein Nationalist sein muss, in dem nur das Gefüge der in der Sozialisation vermittelten gemeinschaftlichen Normen den notwendigen Kitt liefert, der das Individuum an eine bestimmte politische Gemeinschaft und die universellen Werte, die ihr zugrunde liegen können und müssen, bindet.

Eine entscheidende Rolle spielt dagegen das Nationale (das heißt die Definition, welche Nation man für sich selbst akzeptiert) in der Agenda derjenigen Parteien oder soziopolitischen Bewegungen, die sich zu einer in ihren Augen unzureichend institutionell anerkannten Nation bekennen, die vor allem über keine Souveränität verfügt. Demgegenüber wird der Nationalismus im Fall der Staatsnationalismen, die sich auf eine bereits bestehende Nation beziehen, in drei möglichen Szenarien besonders deutlich und für alle sichtbar: a) eine Bedrohung oder ein Angriff von außen oder eine Herausforderung durch alternative bzw. periphere Nationalismen innerhalb der eigenen Grenzen; b) der Zuzug von als fremd wahrgenommenen Bevölkerungsgruppen in das eigene Territorium; und c) die Stilisierung der gemeinschaftlichen nationalen Bindung zum zentralen Bestandteil der Weltanschauung bei gleichzeitiger Überlagerung anderer Formen der kollektiven Identität. Letzteres geht in der Regel mit einer Neigung zu populistischen und antidemokratischen Ideologien einher.

Vom analytischen Standpunkt aus ist es unumgänglich, eine karikatureske Überzeichnung der hier diskutierten Konzepte (spanischer Nationalismus und/oder Patriotismus) zu vermeiden, wie sie häufig in den spanischen Medien, bei vielen Reportern und Kommentatoren und einem Teil der spanischen Intellektuellen an der Tagesordnung ist. Für sich allein gesehen bedeutet die politisch-intellektuelle Bejahung und Verteidigung der Ansicht, dass Spanien eine einzige Nation ist, keinesfalls zwangsläufig eine Rückkehr zur autoritären Weltanschauung des Franquismus – wobei immer zu fragen ist, wie argumentiert wird und welche konkreten Maßnahmen hinsichtlich der Rechte und Freiheiten thematisiert werden. Genauso wenig gilt, dass das Konzept des Patriotismus, verstanden als Loyalität und Stolz auf die Zugehörigkeit zu einer schon bestehenden, als selbstverständlich vorausgesetzten Nation, die eine als ausreichend wahrgenommene institutionelle Anerkennung erfährt, vom ethischen und demokratischen Standpunkt aus notwendigerweise mehr Wertschätzung verdiene als die Verteidigung einer Nation, die als solche nicht in Form eines Staates anerkannt worden ist. Man darf jedoch auch nicht davon ausgehen, dass es sich bei allen Nationalbewegungen um romantische, von vormodernem Gedankengut erfüllte Gruppierungen handelt, die die Erschaffung eines kulturell homogenen und potenziell totalitären Vaterlandes anstreben. Ebenso wenig sollte man annehmen, dass ein Gründungsmythos, der zur absoluten, der Orientierung dienenden Instanz für die eigene politische Aktion erhoben wird, auf historisch idealisierenden Wesenszügen und ausschließenden Identitäten basiert. Die Realität zwingt uns immer wieder, die Dichotomien zu relativieren, die bei der Verwendung von Idealtypen häufig auftreten. Denn auch wenn es staatsbürgerliche und ethnische Nationalisten gibt, trifft man wahrscheinlich noch häufiger auf ganz unterschiedliche Mischungen beider Typen, sowohl bei den Staatsnationalisten als auch bei den Nationalisten ohne Staat.

Im Spanien der Neuzeit gab und gibt es eine Reihe von Parteien, Programmen und intellektuellen Weltanschauungen, die eine ausreichende Zahl von Grundannahmen teilen, um sie als spanische Nationalisten zu bezeichnen. Dazu gehören a) die Vorstellung, dass Spanien eine Nation und damit der einzige Träger der Souveränität ist; b) die Annahme, dass Spaniens Charakter als Nation nicht nur auf einem staatsbürgerlichen Pakt gründet, wie z. B. auf einer Verfassung, sondern dass Spanien als eine von emotionalen Bindungen, kulturellen Beziehungen, geteilten Erfahrungen und wechselseitigen Treuebindungen ihrer Angehörigen zusammengehaltene Gemeinschaft auf eine gemeinsame Geschichte zurückblicken kann, die mindestens in das 15. Jahrhundert zurückreicht. Somit akzeptieren sie, dass der demos, der die territoriale Reichweite der Ausübung der Souveränität definiert, durch diese als objektiv geltenden Faktoren vorherbestimmt ist. Dazu gehören als verbindende Grundannahme c) die prinzipielle Ablehnung selbst der theoretischen Möglichkeit einer friedlichen, demokratischen und nach transparenten Regeln erfolgten Abspaltung solcher Teile des spanischen Territoriums, in denen sich in eindeutig mehrheitlicher und kontinuierlicher Form ein nationales Bewusstsein zeigt, das sich von dem spanischen unterscheidet.

Allerdings bedeutet die Zustimmung zu solchen Aussagen – glaubt man dem größten Teil ihrer Befürworter – nicht, dass es sich bei ihnen um Nationalisten handelt. Ganz im Gegenteil stößt dieser Begriff häufig auf Ablehnung und wird bevorzugt durch die Bezeichnung spanischer Patriot ersetzt, vor allem im politischen Klima des demokratischen Spanien nach 1978. Dieser Patriotismus wäre, einigen Interpretationen zufolge, mit einem Gefühl der tiefempfundenen und ehrlichen Loyalität zu der Nation, der man sich zugehörig fühlt, gleichzusetzen. Dies kann entweder auf der Grundlage der seit 1978 bestehenden spanischen Demokratie erfolgen, die es erlaubt, sich auf freiwilliger Basis mit Spanien als einer verfassungsrechtlichen Realität zu identifizieren, denn diese bietet konzentrische Identitäten an, die verschiedene Ebenen der territorialen Identifikation integrieren.2 Ein anderer Ansatz bestünde darin, die Existenz dieser Nation als schon gegeben zu verstehen, sei doch die jahrhundertelang gemeinsam gelebte Geschichte und Kultur so selbstverständlich, dass keine größere Debatte erforderlich sei. Ein Manifest der im Jahr 2005 gegründeten Fundación para la Defensa de la Nación Española (DENAES, Stiftung für die Verteidigung der Spanischen Nation) bezeichnet Spanien als ein »nationales, historisches, politisches und kulturelles Projekt erster Ordnung«, und eines seiner Pfeiler sei »die Kenntnis unserer Geschichte«.3 Dieser explizite Patriotismus ist jedoch im politischen und öffentlichen Diskurs der Mehrheit der Parteien des gesamten politischen Spektrums in Spanien bis vor kurzem praktisch nicht sichtbar gewesen und erst seit 2018 in den Vordergrund gerückt.

Diese Situation unterstreicht auch die Zwiespältigkeit, die den spanischen Nationalismus ausmacht. Das liegt zunächst daran, dass er sich wie jeder andere in das 19. Jahrhundert zurückreichende Staatsnationalismus, dessen territoriale Reichweite zudem in groben Zügen mit den Grenzen einer seit der Frühen Neuzeit bestehenden politischen Gemeinschaft übereinstimmt, mit Hilfe einer wachsenden Anzahl von diffusen, aber sozial wirksamen Praktiken artikulieren kann und zugleich als ein Element der staatlichen Politik wirksam wird, sei es im Erziehungswesen oder bei der Gestaltung der Briefmarken. Und gerade weil festzustehen scheint, dass das Territorium und das soziale Gemeinwesen als Träger kollektiver politischer Rechte eine Gestalt haben, die schon in vormodernen Zeiten eine politische Gemeinschaft bildete, hat es der spanische Nationalismus nicht immer nötig gehabt, sich mit Hilfe von politischen Organisationen und sozialen Bewegungen, die sich durch ein sichtbares nationalistisches Credo definieren, als solcher zu präsentieren. Ganz im Gegenteil kann er die Erscheinung eines präpolitischen Credos annehmen, das das politische Handeln und die Programme der verschiedenen soziopolitischen Akteure prägt, und gleichzeitig ein sozial weit verbreitetes Gefühl der Identität verkörpern.

Aus diesem Grund kann die Präsenz des Staatsnationalismus zwar eine flüchtige Gestalt annehmen und dennoch gleichzeitig zu einem Element werden, das in einer Vielzahl von Alltagsphänomenen zum Ausdruck kommt, als eine Identität, die die Individuen halb unbewusst im Zuge ihrer Sozialisationsprozesse in sich aufgesogen haben. Dies ist der »banale« Nationalismus, nach dem Konzept von Michael Billig,4 der sich in allen Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert nachweisen lässt, der aber häufig verborgen bleibt, da die von der ganzen Bevölkerung als selbstverständlich empfundene nationale Identität weder von innen noch von außen in Frage gestellt wird.

1Vgl. Smith, National Identity; ders., Gastronomy or Geology?.

2So formulierte es der ehemalige Senatspräsident Juan-José Laborda. Vgl. Laborda, Nación y Estado.

3Vgl. die Ziele der Fundación para la Defensa de la Nación Española, http://www.nacionespanola.org [10. 6. 2019].

4Billig, Banal Nationalism.

Von der katholischen Monarchie zur imperialen Nation (16. bis 19. Jahrhundert)

Paradoxerweise ist Spanien – als politische Gemeinschaft mit weitgehend unveränderten Grenzen in Europa – einer der ältesten Staaten dieses Kontinents, dessen Ursprünge theoretisch bis in das 15. Jahrhundert zurückreichen und dessen Ausdehnung ihm in der Frühen Neuzeit die Gestalt eines Weltreiches verlieh. Dagegen prägten in der Neuzeit, als sich die europäischen Nationalstaaten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu konsolidieren begannen, und insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Problemen den Prozess der Umwandlung Spaniens zu einem Nationalstaat, der auf einer neuen Legitimation der politischen Macht gründete. Dabei hatte Spanien bis dahin kaum Gebietsverluste hinnehmen müssen, sieht man von den Ergebnissen des Pyrenäenfriedens (1659), mit dem Verlust des Roussillon und eines Teils von Sardinien, und später des Vertrages von Utrecht (1713) ab, in dem die spanische Monarchie den Felsen von Gibraltar und für eine bestimmte Zeit auch die Insel Menorca an Großbritannien abtreten musste.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Spanien kein multinationaler Staat, sondern eine imperiale und multiethnische politische Gemeinschaft und ähnelte somit anderen europäischen Monarchien wie Frankreich oder Großbritannien. Im 19. Jahrhundert unterschied sich Spanien von den anderen europäischen Staaten weniger hinsichtlich der Intensität des Fortbestehens der vielfältigen, differenziellen ethnischen Identitäten in einigen seiner Territorien, sondern vielmehr in Bezug auf die Territorialisierung der Ethnizität sowie der unterschiedlichen politischen Entwürfe und ihrer sozialen Reichweite. Dies stand nicht auf durchaus monokausale Weise in Beziehung zu dem Prozess des spanischen Nationalstaatsausbaus und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft, die tiefgreifend von dieser Konstellation geprägt wurden.

Welche Merkmale charakterisierten die spanische politische Gemeinschaft seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, nach der Eingliederung der letzten Territorien unter muslimischer Herrschaft durch die Katholischen Könige Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragonien (1492, Eroberung des Königreichs Granada) und der Annexion von Navarra durch Ferdinand (1513)? Nach dem jetzigen Stand der Forschung zu den spanischen Protonationalismen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts lassen sich einige Schlussfolgerungen umreißen:

1.Unter den Habsburgern gründete die spanische Monarchie ihre Legitimation vor allem auf zwei Kriterien: die dynastische Treuebindung und die bedingungslose Verteidigung der Einheit des Reiches im Katholizismus, während gleichzeitig jedes »Königreich« oder Territorium seine Gebräuche und spezifischen Sonderrechte (fueros) beibehalten durfte, die noch aus dem Mittelalter stammten und entsprechend kodifiziert waren. Demzufolge verstand sich die spanische politische Gemeinschaft als eine Composite Monarchy (monarquía compuesta), in der manche Autoren einen habsburgischen Paläonationalismus erkennen, seinerseits ein Vermächtnis der verschiedenen, aus den mittelalterlichen Königreichen fortbestehenden territorialen Protopatriotismen. In diesem Protonationalismus trafen zwei gegensätzliche Tendenzen aufeinander: eine zentrifugale Kraft (Treue zu den verschiedenen »Königreichen« oder Provinzen) und eine zentripetale Kraft, erzeugt durch die katholische Konfession und die Loyalität zur Monarchie, die als Schiedsrichter zwischen den verschiedenen Ständen und territorialen Körperschaften vermittelte. Die Reichweite der Macht der Monarchie definierte die »Doktrin des Paktes« (pactismo), eine von den Jesuiten und anderen Denkern während der Gegenreformation formulierte Doktrin, die im 18. Jahrhundert zum beherrschenden Prinzip der Rechtskultur in Spanien wurde.

Den Begriff España (Spanien), vom römischen Hispania abstammend, gab es schon seit dem 16. Jahrhundert, und er wurde häufig verwendet. Doch seine Bedeutung und Valenz unterschied sich deutlich von der heutzutage üblichen. Spanien war in erster Linie ein geografischer Terminus, der vor allem außerhalb der Iberischen Halbinsel benutzt wurde, und weniger eine Bezeichnung für eine politische Gemeinschaft mit einheitlichen Gesetzen. Zugleich trug die Verbreitung der sogenannten Schwarzen Legende nördlich der Pyrenäen, die Spanien als das Reich der religiösen Intoleranz, des Fanatismus und der Unwissenheit schilderte, dazu bei, dass den Untertanen der spanischen Monarchie eine Reihe von psychobiologischen Charakterisierungen und Stereotypen zugewiesen wurden. Diese Bild verstärkten im 17. Jahrhundert einige der klassischen Schriftsteller des Siglo de Oro (Goldenes Jahrhundert), wie z. B. Werke von Francisco de Quevedo, die ein eher leidvolles Bild der Spanier zeichneten und den Niedergang des Reiches nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) beklagten. Als Gegenpol dieser Stereotype wirkten lediglich die Informationen über das Ausland, die die aus Spanien stammenden Soldaten des kaiserlichen Heeres nach ihrer Rückkehr auf die Iberische Halbinsel verbreiteten.

Trotz einer grundsätzlich toleranten Haltung gegenüber den weiter existierenden, verschiedenen rechtlichen Kodizes, Gebräuchen und Gesetzen bemühte sich die Monarchie im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zunehmend um eine Stärkung ihres »spanischen« Charakters, nicht zuletzt, um die Nachteile der auf Pakte ausgerichteten und bis in das Mittelalter zurückreichenden Tradition der Krone Aragoniens für die Regierungsführung des Reiches auszugleichen, das dringend auf die Ressourcen und Steuerzahlungen ihrer Territorien angewiesen war. Aus diesem Grund setzte die Monarchie auf die Verbreitung des Gebrauchs und die Stärkung des Prestiges des Spanischen als gemeinsame Sprache in der Literatur und der Bildung, als Sprache der Eliten von Barcelona bis Lissabon. Im 16. und 17. Jahrhundert, insbesondere zwischen 1556 und 1665, ließ sich zudem die Ausprägung einer kulturellen Identität, die manche Autoren als spanisch bezeichneten, beobachten, in der Diskurse über die politische Repräsentation und die Ursprünge des ganzen Reiches, aber auch Symbole und Mythen eingingen. Parallel dazu versuchte der Graf von Olivares, Minister unter König Philipp IV., einen spanienweit geltenden Gesetzeskodex, identische militärische Verpflichtungen (Unión de Armas von 1621) und ein einheitliches Steuersystem einzuführen, was sowohl Portugal und als auch Katalonien im Jahr 1640 in die Rebellion trieb. Der katalanische Aufstand endete mit einer Niederlage, während sich Portugal infolge der Revolte von der spanischen Monarchie trennen konnte. Sechzig Jahre nachdem Philipp II. das Land 1580 in die spanische Krone eingegliedert hatte, konstituierte sich Portugal erneut als unabhängiges Königreich.

2.Nach dem Erbfolgekrieg und der Krönung eines Bourbonen auf dem spanischen Thron im Jahr 1714 schaffte der neue König Philipp V. mit den Decretos de Nueva Planta (Verordnungen zur gründlichen Erneuerung) die Sonderrechte von Aragonien, Katalonien, Valencia und Mallorca (1707–1716) ab, um die Eliten dieser Territorien für ihre mehrheitliche, wenn auch nicht einhellige Unterstützung des Hauses Habsburg während des Krieges zu bestrafen. Mit diesen Maßnahmen versuchte der Staat bewusst, eine Politik der umfassenden juristischen Vereinheitlichung durchzusetzen. Gleichzeitig förderte die Monarchie die Gründung von spanienweit tätigen Museen und Akademien, wie z. B. die Real Academia de la Lengua (1713, Königliche Akademie der Sprache), die Real Academia de la Historia (1738, Königliche Akademie der Geschichte) sowie kurz darauf die Real Academia de Bellas Artes de San Fernando (Königliche Akademie der Schönen Künste von San Fernando). Gleichzeitig ermöglichte eine neue, stark intervenierende Gesetzgebung die Kontrolle der Gemeinden und der Verwaltung. Diese Verfügungen, angelehnt an das Vorbild des französischen Absolutismus, sollten in erster Linie die Autorität des Königs festigen, doch sie bewirkten auch die Bestärkung eines »Protonationalismus« bzw. eines institutionellen Patriotismus, als dessen Referenzpunkte die Monarchie und der absolutistische Staat dienten.

Bei der Interpretation dieser Prozesse stehen sich zwei Sichtweisen gegenüber. Die optimistische Deutung unterstreicht die reformorientierte und intervenierende Rolle des Bourbonenstaates, der vor allem eine effizientere Verwaltung und eine soziale Begrenzung der Privilegien erreichen wollte und damit eine Vorstufe auf dem Weg der Nationalisierung des Staates beschritt. Demgegenüber behauptet eine eher pessimistische Interpretation, dass die geringe Durchsetzungskraft des bourbonischen Staates bei der Kodifizierung und Umsetzung der neuen Normen das spätere Scheitern des liberalen Staates bei denselben Zielen vorweggenommen habe. Deutliche Belege für die fehlgeschlagene Politik seien z. B. die späte und unvollständige Vereinheitlichung der rechtlichen Kodizes und die Diskrepanz zwischen den gut gemeinten Absichten der Gesetzgeber und der mangelhaften Umsetzung ihrer Initiativen, die im Nachhinein entscheidende Konsequenzen haben sollte.

3.Sowohl in den überseeischen Besitzungen der Monarchie als auch in der Metropole entwickelte das Konzept des Spanischen im Lauf des 17. Jahrhunderts spezifische Zuschreibungen. Wie Tamar Herzog gezeigt hat, kam dem Faktor der Nachbarschaft dabei eine besondere Bedeutung zu. Durch die Ansiedlung in einer lokalen Gemeinschaft und die Akzeptanz durch die anderen Nachbarn konnte ein Individuum, unabhängig von seiner geografischen Herkunft oder vom Geburtsort, den Status eines Untertanen der Monarchie erhalten.5 Neben der dynastischen Treuebindung und dem religiösen Bekenntnis wurde somit die Naturalisierung durch die Nachbarn nach und nach ein Weg, um Fremde in die politische Gemeinschaft Spaniens aufzunehmen, wenn sie sich mit ihr identifizierten.

4.Im 18. Jahrhundert überdauerte in verschiedenen Territorien6 und in unterschiedlichen intellektuellen und politischen Kreisen eine Konzeption der politischen Gemeinschaft Spaniens, die charakteristisch für die Habsburgerdynastie (austracista) gewesen war. Sie bestand in einer Vorstellung von Spanien als dynastische und religiöse Vereinigung, die sich aus diversen staatsrechtlichen Körperschaften und mittelalterlichen Königreichen zusammensetzte, die ihre Traditionen und ihre staatsrechtlichen und politischen Institutionen bewahrt hatten. Allerdings repräsentierte diese Strömung nicht die Mehrheit der politischen Akteure. So passte sich z. B. ein Gutteil der katalanischen Eliten geschmeidig an die neue politische Situation an und profitierte von den Vorteilen der Eingliederung der Krone Aragoniens in die spanische Monarchie, insbesondere von den Gewinnen aus dem Handel mit den amerikanischen Kolonien.

Gleichzeitig jedoch wuchs der Einfluss einer neuen protonationalistischen Konzeption, die viele politische Denker, darunter insbesondere die Aufklärer, teilten. Als politische Gemeinschaft war Spanien dieser Konzeption zufolge eine mehr oder weniger homogene Gemeinschaft von Individuen, die der Autorität des aufgeklärten Monarchen unterstellt war, dessen Funktion vor allem in der Sorge für das Wohlergehen der Untertanen und der Stärkung ihres Zusammenhaltes bestand. Im Gegenzug traten diese Untertanen einen Teil ihrer Rechte an den Monarchen ab. Die Argumentationslinie dieser Idee erinnerte an den Leviathan von Thomas Hobbes. Das politische Gemeinwesen Spaniens, so der Grundgedanke, sollte sich gemeinsame und einheitliche Gesetze geben, es hatte eine glorreiche Geschichte und musste gegen Kritik aus dem Ausland verteidigt werden. So verfassten José Cadalso oder Juan Pablo Forner im Jahr 1782 energische Repliken auf die abwertenden Kommentare der französischen Enzyklopädisten über Spanien. In verschiedenen Schriften der aufgeklärten Intellektuellen erschien vermehrt das Konzept der Nation als politische Gemeinschaft, die in Bezug auf die Sprache, die Gesetzgebung, die Gebräuche, die Konfession und die Rituale eine gewisse Einheitlichkeit aufweisen musste, denn nur so ließe sich das politische Gemeinwesen unter der Autorität des Königs »vervollkommnen«. In diesem Sinne betonten Cadalso, Antoni de Capmany oder Francisco J. Masdeu schon vor 1800, dass eine gegenwärtige Legitimation Spaniens ohne das Fundament einer glorreichen gemeinsamen Geschichte nicht möglich sei. Dementsprechend rühmten sie historische Persönlichkeiten wie den mittelalterlichen König Don Pelayo, der im 8. Jahrhundert von Asturien aus die Rückeroberung Spaniens von den arabischen Eroberern begonnen hatte, oder Guzmán el Bueno, einen kastilischen Heerführer aus dem 13. Jahrhundert. Seit 1773 befasste sich die Königliche Akademie der Geschichte mit der Vorbereitung eines historisch-geografischen Lexikons, »um die Ursprünge unserer Nation kennenzulernen«.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich die beginnende Trennung der Bedeutung der Begriffe Nation und Vaterland (patria) verorten, wobei Nation eher das politische Gemeinwesen der Monarchie bezeichnete und Vaterland den Geburtsort der Individuen. Zunächst jedoch wurden die beiden Begriffe, mit zum Teil unterschiedlichen Bedeutungen, relativ unsystematisch nebeneinander verwendet. Dies galt für das Werk des Gelehrten und Literaten Benito J. Feijóo und des Grafen Pedro R. de Campomanes, aber auch für die Projekte der ab 1748 existierenden Sociedades Económicas oder Patrióticas (Wirtschaftsvereine der Freunde des Landes oder Patriotische Vereine). Die Gegner der Verwaltungsreformen der bourbonischen Monarchie bedienten sich dagegen des sogenannten tipismo, der Überhöhung des Urtümlichen. Er äußerte sich unter anderem in der Verbreitung von Abbildungen der »volkstümlichen« Spanier, wie den baturros (aragonesische Bauern) und den majas (junge Bauernmädchen), die beispielsweise in den Gemälden von Giovanni Tiépolo oder Francisco de Goya dargestellt werden. Aber auch im Motín de Esquilache (Madrider Hutaufstand) von 1766, einer Revolte gegen das vom Marquis de Esquilache, einem italienischen Minister Karls III., verfügte, äußerst unpopuläre Verbot einiger traditioneller Kleidungsstücke, und nicht zuletzt in der geografischen und sozialen Ausbreitung der Begeisterung für den Stierkampf.

Es fehlte den präliberalen Konzepten der Aufklärer allerdings noch ein entscheidendes Element, das im folgenden Jahrhundert hinzukommen sollte: die Zuweisung der politischen Souveränität an die Gesamtheit der Bürger, das heißt an die Nation. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts verschmolz das Vermächtnis des präliberalen Protonationalismus mit der Ideologie des entstehenden spanischen Liberalismus. Gleichzeitig verknüpfte sich das geistige Vermächtnis des austracismo an der Schwelle zum 19. Jahrhundert insbesondere mit dem minoritären, aber durchaus existierenden organisch-historistischen Nationalismus der spanischen Frühromantik.

5.In diesem Kontext vollzog sich eine tiefgreifende Erneuerung eines Gutteils der mythisch-historistischen Erzählungen, die noch aus dem 16. Jahrhundert stammten. Sie waren seinerzeit verbreitet worden, um die christliche und somit höherstehende Herkunft der aus der baskischen Provinz Biscaya stammenden Bevölkerung zum einen nachzuweisen und zum anderen ihren Anspruch auf den Kollektivadel zu rechtfertigen und ihnen vorrangigen Zugang zur staatlichen Verwaltung zu verschaffen, zum Nachteil der conversos (Konvertiten), den Nachkommen der zum Katholizismus zwangskonvertierten Juden. Unter anderem hatten die Vizcainer ihren Anspruch auf den Kollektivadel mit dem tubalismo begründet, ihrer vermeintlichen Abstammung von Tubal, einem Nachkommen Noahs. Nun berief man sich im Zuge der Wiederbelebung der Mythen der baskischen Sonderrechte auf das alte Konzept des austracismo, um dem Fortbestand dieser Privilegien in einer Monarchie, die sich auf dem Weg zur rechtlichen Vereinheitlichung befand, zu verteidigen. Die dabei formulierten Themen und Vorstellungen fanden sich im 19. Jahrhundert im Karlismus und im Konservatismus wieder und wurden später zu einem immer wichtigeren Werkzeug, um die alternativen Nationalismen, die sich im Gegensatz zum spanischen Nationalismus formierten, historisch zu begründen.

Es gab somit seit dem Mittelalter unterschiedliche Sichtweisen auf den Begriff »Spanien« als politische Gemeinschaft und die »Spanier« als Kollektiv, ganz ähnlich wie die unterschiedlichen Vorstellungen von den Deutschen und den Italienern als Kollektiv, auch wenn es keinen vereinten deutschen oder italienischen Staat gab. Doch keiner dieser Entwürfe, weder das Konzept der austracistas der Habsburgermonarchie noch die Vorstellungen der aufgeklärten Monarchie der Bourbonen aus dem 18. Jahrhundert, entsprach der Auffassung von einer modernen Nation. Die theoretische Grundlage für die Idee von Spanien als politische Gemeinschaft beruhte weiterhin auf der dynastischen Treuebindung, dem Katholizismus und der Identifikation mit der Institution der Monarchie (dem sozialen, rechtlichen und politischen Gemeinwesen unter der Herrschaft des Monarchen). Doch seit dem Ende des 18. Jahrhunderts artikulierten sich die ersten Äußerungen des spanischen Protonationalismus, der nun neben diesen älteren Konzeptionen an Raum gewann.

Der im Nachhinein als Unabhängigkeitskrieg bezeichnete Konflikt der Jahre 1808 bis 1813 gegen die napoleonische Invasion gilt in der historischen Forschung gemeinhin als Geburtsstunde des zeitgenössischen spanischen Nationalismus. Trotz des komplexen Charakters des Konfliktes – einerseits ein Bürgerkrieg zwischen spanischen Patrioten und den sogenannten afrancesados, den spanischen Parteigängern von König Joseph Bonaparte, dem Bruder Napoleons, und andererseits eine auf der Iberischen Halbinsel ausgetragene Auseinandersetzung zwischen den europäischen Großmächten – wurde der Krieg im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die liberale Geschichtswissenschaft gezielt umgedeutet, um ihn zum Gründungsmythos der modernen spanischen Nation zu stilisieren. Während des Krieges herrschte noch eine beträchtliche semantische und politische Zweideutigkeit, wie eine Analyse der Konzepte der Nation (sowohl in der modernen Bedeutung als auch in der traditionellen des 18. Jahrhunderts) und des Vaterlandes (bezogen gleichermaßen auf die Gesamtheit der Monarchie wie auf die lokale »Heimat« des Individuums) zeigt, die die Patrioten während des Konfliktes verwendeten. Die national gesinnte Mobilisierung während des Krieges hatte jedoch eine eher lokale Ausprägung: Die patriotischen Truppen ließen sich nur schwer dazu motivieren, jenseits ihrer Heimatgemeinden und -regionen in den Kampf zu ziehen. Dementsprechend erinnerten auch die Symbole und Legenden des antifranzösischen Widerstandes an lokale Episoden, wie den Aufstand vom 2. Mai 1808 in Madrid, die Legende vom Trommler vom Bruc (tambor del Bruc) in Katalonien oder die Wiedereroberung (reconquista) der galicischen Hafenstadt Vigo im Jahr 1809.

Die liberalen Politiker, die im spanischen Parlament, den Cortes von Cádiz (1810–1812), zusammenkamen, entwickelten erstmals ein modernes Konzept der spanischen Nation als souveräne Gemeinschaft der Bürger auf der Grundlage eines allgemeingültigen Gesetzes. Ihr Entwurf enthielt aber auch organisch-historistische Vorstellungen, denn sie verstanden Spanien als eine durch Geschichte und Kultur zusammengeschweißte Gemeinschaft und akzeptierten den konfessionellen Charakter der Nation. Schon von seinen Ursprüngen an war der tiefverwurzelte Historismus dieses ersten liberalen Nationalismus unübersehbar; dies zeigte auch seine Idealisierung des Aufstands der kastilischen Comuneros, der Vertreter der Städte Kastiliens, im 16. Jahrhundert gegen die als ausländisch empfundene Habsburgerdynastie sowie des spanischen Mittelalters mit seinen lokalen, dem monarchischen Absolutismus entgegengesetzten Freiheitsrechten und der mittelalterlichen Ständeversammlungen (Cortes), vor allem denjenigen der Krone Aragoniens. In all diesen Elementen erkannten die Liberalen eine Keimzelle eines ursprünglichen spanischen Liberalismus, der ihnen als Legitimation diente und sie von den französischen Invasoren abgrenzte. Greifbar wurde dieser Historismus z. B. im Werk von Francisco Martínez Marina ( Teoría de las cortes, Theorie des Parlaments, 1813). Selbst die Präambel der Verfassung von Cádiz verkündete, dass »die Spanier zu Zeiten der Goten eine freie und unabhängige Nation waren und ein gemeinsames und einziges Imperium bildeten«.