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Stef, Sven Hensel (Hrsg.)

Fantastische
Queerwesen

und wie sie sich finden

Poetry Slam goes queer

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E-Book-Ausgabe Juli 2019

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2019

Die Veröffentlichung dieses Buches geschieht mit freundlicher Unterstützung des Lektora Verlags, Paderborn.

Cover und Illustrationen: Jussi Jääskeläinen (www.kobaia-design.com)

© Audioaufnahmen bei den Verfasser*innen bzw., wo angegeben, bei den Videochannels von: Roxy Slam, Ulm; BB-Slam, Berlin; Slamassel, Essen; Poesieschlacht Düsseldorf, Poetry Slam Bayreuth; Wörterspeise, Halle/Saale; Slam des Westens, Berlin. Aufnahme Rebecca Heinrich: Martina Frötscher. Der Verlag dankt herzlich für die Bereitstellung der Audioaufnahmen, bzw. -spuren. Keine unerlaubte Sendung und Vervielfältigung!

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-35-6

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Herausfinden

Spiel – Leah Leaf

Labelchaos – Henrik von Dewitz

Eine Coming-of-Age-Story – Felix Kempter

Cis-het-Einhorn – Jonin Herzig

Gender is over, und deine Mudda is’ schwul – Selina Liebert

Frauen auch – Christian Ritter

Sie sind hier falsch – Vivien Mügge

Kapitel 2: »Nur« drei Worte

Ich hab da so ’nen Freund – Textstreet Boys

Liebe ist wie eine Katze – Kim Catrin

Gekommen, um zu bleiben – Veronika Rieger

Kotzen im Strahl – Stef

Schrödinger hatte recht – Barbara Roherwasser

Tabakpäckchen und Downhillbikes – Rebecca Heinrich

Liebestext_ueberarb._korr._version2.doc – Mieze Medusa

Kapitel 3: Vom Davor und Danach

Aprikosenmarmelade – Anna Teufel

Der Schwabe. Ein Sexdategedicht – Paul Bokowski

Analverkehr für Einsteiger – Nils Rusche

Hänsel und Brezel – extraknusprig – Martin Weyrauch

Liegen – Leah Leaf

Reisen – 378

And so it goes – Sven Hensel

Zigaretten nach dem Sex – Anna Hader

Kapitel 4: Händchen halten, Fäuste ballen

Ein, zwei Dinge noch – kurze Erklärung zu Queerness, Milchreis und Lippenstift – Nuria Glasauer

F64.0 – Kai Runge

Händchen halten – Eva Dreier

Keinen Bock – Katja Hofmann

TDB – Maria Victoria Odoevskaya

Wutbürgerhobby – Ella Anschein

Kapitel 5: In unserer Haut

Pro & contra Organe. Heute: Wider den Penis – Volker Surmann

Swimming – Samuel Kramer

Gaylord 3000 – Christian Ritter

Das Kleid – Suse Bock-Springer

Atmen – Runa Wehrli

In meiner Haut – Sebastian Kokesch

Kapitel 6: Was noch kommt

When we’re waving our colours – Florian Niederseer

Ich habe meine Zukunft gesehen – Volker Surmann

Was ist dir heilig? Oder: Szenenwechsel – Veronika Rieger

Jedem Topf seinen Deckel – Ramona Pohn

Kurzes – Annika Blanke

Blut lecken à la Viennoise – Julia Muchwitsch

Wir sind Dichter_innen – Rebecca Heinrich

Nachwort

Die Autor*innen

An alle Ungeouteten
An alle, die sich noch nicht trauten
An alle, die aufgrund von Unrecht nicht dürfen
An alle, die nicht können –
Ihr seid nicht allein

Vorwort

Liebe*r Leser*in, herzlichen Glückwunsch!

Du kannst nun die allererste deutschsprachige queere Poetry-Slam-Anthologie dein Eigen nennen. Was ein Zungenbrecher. Vor dir liegen 41 Texte aus den sprichwörtlichen Federn von 36 Autor*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, aber das weißt du ja schon vom Klappentext. Wir wollen dir an dieser Stelle ein bisschen mehr darüber erzählen, wie es überhaupt zu diesem Buch gekommen ist und was dich hier erwartet.

Die Idee zu der Anthologie hatten wir, die Herausgeber, unabhängig voneinander, und als wir uns davon erzählten, war unser erster Impuls direkt die Zusammenarbeit. Nach vielen Monaten Organisation, Arbeit und Schweiß ist unser Baby endlich zur Welt gekommen. Es schreit, fordert und erforscht nun wie alle Wonneproppen, und das ganz ohne Windelnwechseln.

Eine vergleichbare Sammlung von queerer deutschsprachiger Poesie gab es in dieser Form noch nicht.

Poetry Slam war für mich, Sven, schon immer queer. Meine erste Begegnung mit dem Format war auf dem Dortmunder CSD 2011: Junge Leute trugen vor einschlägigem Pride-Publikum ihre Texte vor, und ich war gebannt. Zwei Jahre später stand ich auf derselben Bühne – seitdem konnte mich nichts mehr von Slam fernhalten.

Meine (also Stefs) erste Poetry-Slam-Teilnahme war 2014 in München am selben Tag wie mein erster CSD. Ich war noch benebelt vom Protestieren und Tanzen und all dem Glitzer (so viel Glitzer!), stieg zitternd auf die Bühne und trug einen Text über Romeo und Julian vor. Poetry Slam und queere Events waren bei mir zuerst also separate Events, in der Erinnerung aber doch untrennbar miteinander verwoben.

Der erste Queerslam fand unseren Informationen nach 2009 in Köln unter dem Namen »Gay Poetry Slam« statt, und viele weitere Veranstaltungen und Städte folgten seitdem. Wir beide lernten uns auch auf einem Queerslam kennen, in München 2014, die After-Show-Party ging noch bis in die Morgenstunden.

Diese Anthologie ist nicht nur eine Versammlung fabelhafter Texte in einer hübschen Anordnung, sondern auch ein Konglomerat des Talents und der Erfahrungen unserer queeren Autor*innen. Die Verfasser*innen der Beiträge in diesem Buch befinden sich selbst alle irgendwo auf oder neben der Gender- und Kinsey-Skala, schreiben von und wegen ihrer Queerness. Queer Poetry Slam represent! Ähnlich wie ein menschliches Baby wächst unser Buch Zeile für Zeile. Es geht um Selbstfindung und Coming-out, Liebe, Sex, Proteste, Erfahrungen und Identität und um die Zukunft.

Egal ob dir etwas vertraut vorkommt oder neu und unbekannt ist; lass dich drauf ein. Egal ob du queer, questioning, straight oder sonst was bist, du findest in diesem Buch etwas, das zu dir sprechen wird. Ganz bestimmt.

Gedichte, Slamtexte und Kunst im Allgemeinen sind ein Abbild des Zeitgeistes. Was du auf den folgenden Seiten findest, mag in einigen Jahren schon überholt und längst vergangen sein, und dennoch ist es uns ein Anliegen, unsere Realität, unser Hier und Heute zu dokumentieren.

Spoken Word ist in erster Linie geschrieben für die Bühne, und daher freuen wir uns, dass man die fantastischen Texte nicht nur lesen kann, sondern zahlreiche per Audiolink auch anhören kann.

Viel Spaß beim Lesen und Hören dieses Buches und beim Zusehen live beim nächsten Poetry Slam wünschen dir

Stef und Sven Hensel

Kapitel 1:

Herausfinden

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Wir finden alle immer wieder heraus: sei es etwas über uns selbst, über andere oder aus dem sprichwörtlichen Schrank. Wer und was wir sind, wird gerne von anderen »angenommen«, bevor wir uns dazu äußern können oder selbst überhaupt wissen, was los ist. Ein Coming-out ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist. Wie das aussehen kann, findest du im ersten Kapitel heraus.

Spiel

Leah Leaf

WANN HAST DU ENTDECKT,

dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt?

Ich? Keine Ahnung. Ich wusste es wahrscheinlich schon mein ganzes Leben.

Ich meine, natürlich habe ich dem Weihnachtsmann früher immer Briefe geschrieben. Und er hat auch immer geantwortet! Und er hatte auch schon immer dieselbe Handschrift wie mein Vater.

Und natürlich habe ich dem Weihnachtsmann auch immer Milch und Kekse rausgestellt. Na ja, eigentlich habe ich das nur einmal gemacht. Danach waren es immer nur noch Malzbier und Lakritz, das mochte mein Vater einfach lieber.

Ihr merkt, so richtig habe ich eigentlich nie an den Weihnachtsmann geglaubt. Für mich war das alles nur ein Spiel. Und ich spielte halt mit. Das taten doch alle. Oder?

WANN HAST DU ENTDECKT,

dass du gar nicht heterosexuell bist?

Ich? Keine Ahnung. Ich wusste es wahrscheinlich schon mein ganzes Leben.

Ich meine, natürlich habe ich früher immer mitgemacht, wenn in der Umkleidekabine über Jungs getratscht wurde.

Und natürlich ist mir auch aufgefallen, dass in allen Filmen die Paare immer cis und hetero waren.

Aber für mich war das alles nur ein Spiel. Und ich spielte halt mit.

Das taten doch alle. Oder?

Ich kann mich an keinen Moment in meinem Leben erinnern, in dem ich plötzlich und schmerzhaft festgestellt habe, dass ich bisexuell bin. Nein, so etwas gab es nicht. Aber nie vergessen werde ich den Moment, in dem ich plötzlich und schmerzhaft feststellen musste, dass andere es nicht sind. Ich möchte es euch erzählen:

Achte Klasse, Klassenfahrt. Ich, naiv, pubertär, zusammen mit Gleichaltrigen in ähnlichem Zustand. Wir spielten mein damaliges Lieblingsspiel (das war, bevor ich Trinkspiele für mich entdeckte), nämlich »Wahl, Wahrheit oder Pflicht«. Und ich war an der Reihe.

»Wahl, Wahrheit oder Pflicht an … Paul!*«

»Okay, ähm … Wahrheit!«

»Okay, ähm … ah, ich weiß! Paul, warst du jemals in einen anderen Jungen verliebt?«

Spielstopp. Warum ich diese Frage stellte?

Na, wir spielten doch »Wahl, Wahrheit oder Pflicht«, da stellt man solche Fragen. Als Antwort hatte ich nichts weiter erwartet als ein schüchternes »Ja«, und alle würden fragen, um wen es sich denn handele, oder eben ein schulterzuckendes »Nein«, und wir würden weiterspielen. Doch als Antwort bekam ich keines von beiden. Dies war seine Antwort:

»Was?!«, begann er, und das überraschte mich.

»Nein, niemals!«, fuhr er fort, und das schockierte mich.

»Igitt«, fügte er noch hinzu, und das verletzte mich.

Es verletzte mich und versetzte mich in eine andere Lage:

Das mit der Sexualität wurde nun plötzlich zur Frage.

Vorbei die Tage meiner Naivität,

meines kindlichen Glaubens an Normalität.

Sexualität – nun Teil der Identität?

Beginn der Erkenntnis, irgendwie anders zu sein.

Lange hielt ich meine Liebe zu Mädchen geheim.

Aber hey, ich bin bi, es darf auch gern was anderes sein!

Und so hatte ich viele Beziehungen:

Gute und schlechte und immer mit Jungs.

Ernste und kindische und immer mit Jungs.

Kurze und lange und immer mit Jungs.

Denn wenn ich mit einem Mädchen flirte,

denkt sie, ich bin einfach nur nett.

Und wenn ich nett zu einem Jungen bin,

dann denkt er direkt, ich flirte.

Und dann geht alles so schnell, und dann geht alles so einfach,

dabei hätte ich es doch viel lieber zweifach:

bi.

Und das soll nicht heißen, Geschlechtlichkeit sei binär.

Nein, das ist wirklich Quatsch, da draußen gibt es so viel mehr

als nur männlich und weiblich, ja freilich, das weiß ich,

doch eigentlich mein ich

homo- und heterosexuelle Tendenzen

kann ich für mich persönlich innerlich nicht abgrenzen.

Bi.

Ja, ich gehör zu diesen Bi-Gestalten.

Bin durchgehend zwiegespalten,

doch das hat mich nie gehalten.

Ich will das Präfix »bi« behalten.

Und es stolz tragen

und es laut sagen,

mich nicht mehr verstecken, mit dem Gefühl zu versagen

bei einem Spiel,

wo wir doch alle nur mitspielen.

Doch ich frage mich:

Wem spielen wir etwas vor?

Nicht jede* ist hetero.

Und nicht jeder* ist cis.

Nicht jede* hat das Geschlecht, das ihr zugeteilt worden ist.

Nicht jeder* wacht glücklich auf.

Nicht jede* schläft nachts gut ein.

Nicht jeder* kann von sich behaupten, mit seinem Körper glücklich zu sein.

Nicht jede* passt sich an.

Weil nicht jeder* das kann.

Und es glaubt auch nicht jede* an den Weihnachtsmann.

Jede Art von Normativität ist nichts als ein Spiel,

und wir alle spielen mit.

Hören wir auf damit!

Denn wem spielen wir was vor?

Diesen Text anhören:

https://satyr-verlag.de/audio/queerwesen1

* Name geändert.

Labelchaos

Henrik von Dewitz*

Lesbisch, schwul, bi, trans, asexuell, demisexuell, queer, genderfluid, allosexuell, polyamor, pan, ageschlechtlich …

Hi, ich bin Henrik und genderqueer. Das heißt, mein Geschlechtsempfinden ist queer. Irgendwie anders. Wer es genauer wissen will, dem sage ich, ich bin cis-genderless oder eine transmaskuline non-binäre Person. Geht locker flockig von der Zunge, was?

Ja, so ist das mit den Identitäten. – Selbst für mich ist es schwierig, alles und jede*n nachzuvollziehen. Aber hey, ich probier’s! Drum erzähle ich euch jetzt was von meinen Labels und was dahintersteht. Denn am Ende sind es nur Worte, die niemandem etwas nützen, außer mir.

Ich weiß nicht, ob ihr das kennt, aber so in der Jugend, völlig orientierungslos: Hä?! Was ist Leben, wo hört mein Körper auf? Und sowieso: Ich check das nicht. Wenn mich die Erwachsenen nicht kapieren, wie soll ich mir da einen Reim drauf machen?

Wenn die Welt simpel ist, dann kann ich sie verstehen Meine Identität lag irgendwo zwischen Fantasyromanen, Kartenspielen und Hetero-Porno – zumindest eine Zeit lang. Ich dachte, ich müsste mich mit der Kiste identifizieren, die mir bei Geburt zugewiesen wurde: Junge, Mann, Kerl, Luusbueb, Giel**.

Ein richtiger Junge ist chaotisch, trägt sein Herz auf der Zunge und seine Worte in der Faust geballt. Richtige Jungs sind hetero und allo (das Gegenteil von asexuell). Bei einem richtigen Jungen ist das Geschlechtsorgan in der Hose ein denkendes Wesen, das ihn zu allerlei irrationalen Entscheidungen bringt. Jungs halt, die können ja auch nichts dafür, wenn die Mädels sich so aufreizend kleiden. Richtige Jungs haben Jungenfreundschaften, schauen zusammen Videos, wie der Schäferhund seine Besitzerin durchvögelt, und lachen dabei. Sie reden despektierlich über Feminität und markieren durch Sprüche oder Penisgröße ihr Revier. Jungs lachen über andere, und es ist ihnen alles egal – auch ihre Schulnoten. Wenn das bei dir nicht so war, na, dann gratuliere: Du bist wohl auf eine Mädchenschule gegangen. Auf der Mädchenschule ist alles simpel, gewissenhaft und streng. Mädchen sind sauber, außer wenn sie bluten, sie sind korrekt, außer wenn’s um die Liebe geht, und liebevoll im Umgang miteinander, zumindest vordergründig. Mädchen sehen schön aus, haben alle einen Sinn für Stil, außer Belinda, die ist voll das Mannsweib mit ihren Cargo-Shorts und Militärjacken. Dann du, zwischen all den Kleidern und der Ordnung. Du, der sich zu weich bewegt für einen richtigen Jungen. Du, der immer mit den Mädchen Gummitwist spielt. Du, der in der Pause Bücher liest, statt sich die Knie aufzuschlagen. Du, der im Tenor höher singt als Belinda im Alt. Du, der die Gerüchte um Robbie Williams Homosexualität meeegaspannend findet. Na ja, du bist halt schwul, und das wundert jetzt echt keinen. Du, der viel zu sehr Mädchen ist, um ein richtiger Junge zu sein.

Also war ich halt schwul. Ein schwuler Mann zu sein, bedeutete für mich, mit den Mädchen befreundet sein zu können, ohne dass sie sich unwohl fühlten. Als schwuler Mann durfte ich küssen, wen ich wollte. Schwuler Mann zu sein, war die Erklärung meines Ichs, meiner Feminität, meiner künstlerischen Ader, meines Faibles für Sprachen und Design. Schwulsein gab mir einen Orientierungspunkt für eine Identität.

Bis ich irgendwann nicht mehr ich selbst war, sondern ein schwuler Mann. Ich zwängte mich in die Normkiste hinein – schließlich war ich froh, dass sie nur ein wenig juckte und mich nur ein wenig unwohl fühlen ließ. Immerhin schon mal besser als diese »Richtige Jungs«-Kiste.

Irgendwann begriff ich, dass ich auch kein schwuler Mann bin. Dass ich mich selbst nicht in eine Kiste zwängen muss, die mir nicht gefällt. Ich bin einfach nur Mensch. Queerer Mensch. Irgendwie anders. In der Menschkiste, da schränkt dich keiner ein. Drum noch mal:

Hi, ich bin Henrik und genderqueer. Das heißt, mein Geschlechtsempfinden ist queer. Irgendwie anders. Wer es genauer wissen will, dem sage ich, ich bin cis-genderless oder eine transmaskuline non-binäre Person.

Ja, ich identifizier mich nicht mit meinem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht, also bin ich trans. Aber ich identifizier mich auch nicht mit dem anderen binären Geschlecht, also bin ich non-binär. Irgendwo dazwischen oder drum rum oder dahinter, wer weiß. Ich sehe aber aus wie ein Mann. Ich kleide und verhalte mich so, wie es meine Mitmenschen von einem Mann erwarten würden. Deswegen bin ich trans-maskulin.

Aber mir ist es auch irgendwie egal, wenn Menschen mich als Mann lesen, schließlich profitiere ich ja auch von den vielen Privilegien. Ich meine, »Heeeey, mehr Lohn« – klar, nehm ich doch gern! Kaum sexuelle Belästigung, mehr Redezeit, mehr ernst genommen.

Ich weiß auch gar nicht, wie ich sonst leben soll, ich mein, klar kann ich als Mensch einkaufen und als Mensch S-Bahn fahren. Aber als Mensch Kleider kaufen gehen? Ein öffentliches Klo benutzen? Als Mensch Sex haben?

Wie soll ich eine Kategorie von Menschsein definieren, für mich und für andere? Wie kann ich anderen beschreiben, wer ich bin, wenn ich es mir selbst nicht mal vorstellen kann?

Also bin ich in der Zwischenzeit cis-genderless. Ich bin irgendwie cis-gender, weil mich alle als Mann lesen und ich dem auch nichts entgegensetze. Aber ich bin auch genderless, kann dafür einstehen, dass ich mit korrekten Pronomen angesprochen werde, und mit non-binären Freundesmenschen die Welt neu definieren. Denn wozu in einer Welt leben, die du nicht verstehst. Wozu dich rechtfertigen, welche Kiste du willst. Warum nicht einfach authentisch leben, denn du weißt ja, wie du dich fühlst. Du musst dich nicht rechtfertigen mit irgendwelchen Worten. Sei einfach du selbst. Denn Labels sind nur für die da, die sie brauchen.

* Mit Dank an Sascha Rijkeboer und Jonin Herzig.

** Berndeutsch: Knabe, Bub, junger Mann.

Eine Coming-of-Age-Story

Felix Kempter

»Eigentlich«, sage ich zu Leo, während wir die Einkaufsstraße runterlaufen, »eigentlich würde ich gerne mal in eine Schwulenbar gehen. Ich war, seitdem ich erkannt habe, dass ich auch auf Männer stehe, noch nie in einer, aber habe schon öfters drüber nachgedacht.«

»Nee, da passt du nicht rein, Felix. Du bist ja nicht richtig schwul, du hattest auch noch nie Sex mit einem Mann.«

Es fühlt sich an, als hätte er mir mit voller Kraft in den Magen geschlagen. Nicht richtig schwul.

»Dir ist schon klar, dass ich schon in Typen verliebt war und auch mit welchen rumgemacht habe? Warum ist Sex jetzt so wichtig? Erkennst du die Sexualität von dreißigjährigen Jungfrauen etwa auch nicht an? Wie können die denn hetero sein, wenn sie noch nie Sex hatten, oder wie?!«

»Na ja, aber in Schwulenbars sind die Männer eher auf etwas Schnelleres aus, aber du bräuchtest jemanden, den du im Alltag kennen- und mögen lernst, glaube ich. Ich glaube nicht, dass du für eine Schwulenbar bereit bist.«

Bereit sein?

Muss ich jetzt einen Eignungstest für eine Schwulenbar machen oder was?!

Ich war für so viele Sachen in meinem Leben nicht bereit gewesen. Ich war nicht bereit für mein erstes Mal mit 17, ich war nicht bereit dafür, mit 18 von der Schule zu gehen, ein Studium anzufangen und von zu Hause auszuziehen; ich war ja heute Morgen noch nicht einmal bereit dafür, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen!

Aber ich weiß, jetzt wo ich etwas älter und reifer bin: Ich bin bereit für eine Beziehung.

Und ich hätte gerne mal eine mit einem Mann, also so eine richtige. Ich habe mich so lange dagegen gesträubt, dass ich jetzt nicht mal weiß, wo ich denn bitte anfangen soll.

Ja, ich wollte die meiste Zeit meines Lebens nicht auf Männer stehen. Weil alle das von mir erwartet haben.

Ich weiß nicht, was es ist, aber ich wurde sehr oft in meinem Leben gefragt, ob ich schwul sei. Wirklich sehr oft. Von meiner Mutter, als ich 13 war, zum ersten, aber auf keinen Fall letzten Mal; von meinen Schulfreunden mit 15, obwohl ich sehr wohl Interesse an Mädchen zeigte, und von allen anderen bis heute immer und immer wieder aufs Neue. Und es wäre immer »okay gewesen«. Es wurde sogar von mir erwartet, und manche Leute waren enttäuscht, wenn ich sagte, dass ich auf Frauen stand. Wenn ich das meinen queeren Freunden und Bekannten erzähle, wird mir immer gesagt, wie gut es doch sei, dass ich schon immer akzeptiert wurde, vor allem als Teil der queeren Community.

Aber das war ich nie. Und das wollte ich auch gar nicht sein.

Am schlimmsten war diese »Überakzeptanz«, als ich mit meiner ersten Freundin zusammen war und die Leute mir immer noch nicht glauben wollten. Ich würde mich doch nur verstecken, die Beziehung mit meiner Freundin sei doch nur Tarnung und eigentlich gar nicht echt. Manchmal würde ich euch gerne fühlen lassen, wie weh das tat.

Denn ich habe nie einen Menschen mehr geliebt als sie.

Und genau diese Liebe hat auch mein engster Vertrautenkreis angezweifelt.

Irgendwann ging die Beziehung leider in die Brüche, weil wir zu jung waren, um zu erkennen, was wir aneinander hatten.

Und dann ging alles sehr schnell: das erste Studium abgebrochen, in eine andere Stadt gezogen, auf eine andere Uni gegangen, etwas anderes studiert, wieder umgezogen. Hab mich ein paarmal in Schwärmereien verloren, ein paar Beziehungen in den Sand gesetzt und mich wieder neu verknallt. Immer darauf bedacht, nur was mit Frauen anzufangen. Denn ich war ja nicht schwul und wollte das auch beweisen.