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Manuela Schopfer
Ruth Gogoll
Sima G. Sturm
u. a.

KUTSCHENFAHRT INS GLÜCK

Romantische Weihnachtsgeschichten

© 2019

édition el!es

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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-297-8

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Manuela Schopfer
Kutschenfahrt ins Glück

2

»Entschuldigen Sie bitte.«

Welch wunderschöne Stimme. Elisabeth wusste, sie kannte sie. Noch bevor sie sich umdrehen und ihr zuwenden konnte, machte ihr Herz bereits einen kleinen Hüpfer.

»Hallo!«, brach es freudig aus ihr heraus. Ohne auf eine Antwort zu warten, stieß sie sich ab und sprang vom Kutschbock herunter. »Was verschafft mir die Ehre?« Schon allein ihre Gegenwart und der Anblick dieser klaren grünen Augen ließen Elisabeths Mundwinkel hoch nach oben wandern.

»Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.« Betrübt senkte die Frau die Augen, und einer ihrer Finger malte langsam einen kleinen Kreis über den Deckel der verbeulten Thermoskanne. »Sie waren gestern so nett und hilfsbereit, und ich bin einfach davongerannt, ohne mich bei Ihnen zu bedanken.«

»Aber das war doch selbstverständlich –«, setzte Elisabeth an.

Doch die Frau unterbrach sie, indem sie ihr die verbeulte Thermoskanne entgegenstreckte. »Deshalb habe ich Ihnen Tee gemacht. Gewissermaßen als Dankeschön und als Entschuldigung.« Ein scheues Lächeln spielte um ihre Lippen.

Elisabeths Mund öffnete sich ein wenig, aber es fanden keine Worte ihren Weg hinaus. Auf der Haut der zarten Finger, die die Thermoskanne fest umschlossen hielten, zerstoben vereinzelte Schneeflocken und verflüssigten sich dann. Fasziniert beobachtete Elisabeth diesen Vorgang, als ob sie so etwas noch nie gesehen hätte.

»Ich bin übrigens Sophie, Sophie Hartmann«, riss die weiche Stimme sie auf einmal aus ihrer Verzauberung.

Als Elisabeth sie nun ansah, lag ein sanftes Lächeln auf Sophies Gesicht. »Elisabeth«, erwiderte sie. Schnell griff sie nach der Thermoskanne, die Sophie ihr immer noch entgegenhielt. »Das wäre doch nicht nötig gewesen.«

»Doch, das ist es«, widersprach Sophie. »Ich hatte wirklich Angst, dass ich meine Tochter verpassen würde. Sie ist so ein aufgewecktes Kind, und wenn sie auf die Straße gelaufen wäre, um mir entgegenzugehen –« Sie wurde ganz blass, als sie abbrach. »Sie haben eine schöne Kutsche«, setzte sie plötzlich etwas zusammenhanglos fort. »Sind Sie jeden Tag hier?«

»Ja«, nickte Elisabeth. »Oder nein«, korrigierte sie sich selbst. »Beinahe jeden Nachmittag.« Was war nur los mit ihr? Warum konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen? Ein Lächeln schlich sich in ihre Mundwinkel, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie wusste warum. Diese grünen Augen, diese zarten Finger, diese weiche, warme Stimme . . . »Danke.« Schnell drehte sie sich zur Kutsche und verstaute behutsam die Thermoskanne unter dem Kutschbock. »Das wird mich heute wunderbar warmhalten.« Immer noch lächelte sie, als sie sich wieder zu Sophie zurückwandte.

Die sah etwas unentschlossen aus. »Dann gehe ich jetzt wieder. Ich wollte nur«, sie hob eine Hand und wies auf den Kutschbock, »die Thermoskanne abgeben.«

Nein! schrie es in Elisabeth. Sie wollte nicht, dass Sophie ging. Seit langer Zeit hatte sie sich nicht mehr so zu einer Frau hingezogen gefühlt. Der leichte Vanilleduft vernebelte ihr erneut das Gehirn, betäubte sie fast und ließ sie in den siebten Himmel entschweben. Sophie war ein Traum von einer Frau. Wie konnte sie sie nur dazu bringen, zu bleiben?

»Noch eine kostenlose Kutschfahrt?«, bot sie schnell an. »Musst du –« Hastig unterbrach sie sich. »Müssen Sie irgendwo hin?«

Als ob sie das Lächeln zurückhalten wollte, breitete es sich nur langsam über Sophies Lippen aus. »Du kannst ruhig du sagen. Ist doch einfacher.«

»Ja.« Erleichtert atmete Elisabeth aus. »Ich bin wohl etwas aus der Übung, was die Etikette betrifft.« Sie lachte verlegen.

»Ach, heutzutage duzen sich doch alle«, winkte Sophie ab. »Ich hatte auch schon überlegt . . . Aber da wir uns erst seit gestern kennen und gerade mal eine Kutschenfahrt zusammen gemacht haben –« Sie brach fast genauso verlegen wie Elisabeth ab.

Wie süß sie ist, dachte Elisabeth. Was für eine süße Frau. »Ja, genau«, stimmte sie Sophie zu. »Du musst mich für eine ziemliche Draufgängerin halten, aber das bin ich eigentlich«, sie räusperte sich, »nicht.«

»Ich halte dich nicht für eine Draufgängerin.« Sophie legte leicht den Kopf schief und schaute Elisabeth von der Seite an. »Ich halte dich für eine sehr nette und hilfsbereite Frau, die gestern etwas getan hat, was heutzutage absolut nicht mehr selbstverständlich ist. Einfach so einer Wildfremden zu helfen, die du gar nicht kennst.«

Ich wollte dich aber gern kennenlernen, dachte Elisabeth, sagte es jedoch nicht. »Wie gesagt«, erwiderte sie. »Ich halte es für selbstverständlich. Wahrscheinlich bin ich etwas in der Zeit zurück.« Sie lachte selbstironisch.

»Das macht dich noch sympathischer«, entgegnete Sophie. »Oh, Entschuldigung.« Sie hielt sich verschämt die Hand vor den Mund. »Jetzt vergesse ich wohl etwas meine Umgangsformen.«

»Oder du bist die Draufgängerin von uns beiden«, gab Elisabeth schmunzelnd zurück.

»Eigentlich nicht.« Sophie lachte. »Also entweder sind wir es nun beide oder beide nicht. Jedenfalls wollen wir es beide nicht sein. Darin sind wir uns schon mal einig.«

»Wie schön«, sagte Elisabeth und versank fast in Sophies strahlend grünen Augen, bis sie merkte, dass sie sie anstarrte. »Ich meine«, schnell wandte sie ihren Blick ab, »dass wir uns in zumindest einer Sache einig sind.«

Sie konnte spüren, wie ihre Knie unter Sophies Blick, der fast zärtlich auf ihr lag, weich wurden. Das kann nicht sein, dachte sie. Wir kennen uns doch erst seit gestern.

»Ich muss los.« Sophie trat einen kleinen Schritt zurück, und ihre Hand deutete hinter sich. »Hanna. Meine Tochter. Ich möchte nicht wieder zu spät kommen.«

»Um das zu verhindern . . .« Elisabeth lächelte sie an. »Darf ich dann mein Angebot wiederholen? Ich habe da eine Kutsche, und Kandesch«, ihr Kopf deutete nach vorn zu ihrem Pferd, »hatte heute noch nicht viel zu tun.« Sie schob ihren Zylinder ein Stück zurück, was sehr keck aussah, und wischte sich über die Stirn. »Wenn er weiter hier so rumsteht, dann schläft er mir noch ein, und er schnarcht dann immer dermaßen laut . . .« Schelmisch zog sie einen Mundwinkel hoch und zwinkerte Sophie zu. »Also? Was sagst du, darf ich dich mitnehmen?«

»Dann verdienst du doch nichts.« Sophies Stirn runzelte sich besorgt.

Elisabeth drehte sich halb um ihre eigene Achse und wies mit einer Hand in den Park hinein. »Siehst du hier irgendjemanden, der mitfahren will und dafür bezahlen würde? Jetzt im Winter habe ich kaum Fahrgäste. Es ist zu kalt. Nur mal ein Liebespaar, dem innerlich heiß genug ist –« Oh Gott. Ihr wurde selbst auf einmal ganz heiß. »Oder ein altes Ehepaar, das immer wieder zu mir kommt«, fuhr sie hastig fort, »regelmäßig am selben Tag. An dem Tag, an dem sie sich kennengelernt haben.«

»Das ist süß.« Sophie lächelte wieder. »Ja, gut, wenn dein Pferd Bewegung braucht . . .« Sie schaute nach vorn auf das dampfende Pferdemaul.

»Ganz entschieden«, bestätigte Elisabeth noch einmal.

Sophie ließ sich von ihr auf den Kutschbock hinaufhelfen, und Elisabeth tauchte kurz noch einmal in die Kutsche hinein, um eine weitere Decke nach oben zu holen.

Dicht nebeneinandersitzend, die wärmende Decke über ihren Beinen ausgebreitet, nahm Elisabeth die Zügel in die Hand, löste die Bremse und trieb Kandesch mit einem lauten Schnalzen an.

»Kann es sein«, Sophie blickte angestrengt nach vorn, während sie die ersten Meter durch den Park fuhren, »dass dein Pferd heute dunkler ist als gestern?«

»Ja, das ist Kandesch«, erklärte Elisabeth. »Gestern war es meine Stute Silverkai. Ich habe zwei Pferde.« Für einen Augenblick verlor sie sich in den grünen Augen, die sie interessiert betrachteten. Angestrengt löste sie ihren Blick und räusperte sich. »Da ein Pferd ein Herdentier ist«, erzählte sie weiter, »darf man es nicht allein halten, und weil Pferde auch eine Beschäftigung oder Aufgabe brauchen, wechsle ich sie immer ab.« Sie grinste kurz vor sich hin. »Das ist wie bei kleinen Kindern. Wenn sie sich langweilen, kommen sie auf die verrücktesten Ideen.«

Sophie lächelte, als wüsste sie genau, was Elisabeth meinte. So aufgeweckt, wie ihre Tochter war, kam sie vielleicht auch manchmal auf verrückte Ideen. Weshalb Sophie versuchte, immer rechtzeitig da zu sein, um sie abzuholen, damit nichts passierte. Und in Panik geriet, wenn sie zu spät kam.

»Möchtest du es mal versuchen?« Auffordernd hielt Elisabeth Sophie die Zügel hin. »Er ist ein liebes Tier, er wird bestimmt keinen Blödsinn machen.«

Verdutzt sah Sophie abwechselnd zwischen den Zügeln und Elisabeth hin und her. »Ich kann das doch nicht.«

»Das geht ganz leicht«, behauptete Elisabeth. »Und ich bin ja hier und kann dir helfen. Keine Angst.« Aufmunternd schaute sie Sophie an.

»Ich weiß nicht . . .« Sophie wirkte immer noch skeptisch. »Ich habe wirklich keine Ahnung von Pferden. Noch nie gehabt.«

Elisabeth schmunzelte und legte einfach einen Zügel über Sophies Hand, während sie den anderen noch in ihrer eigenen behielt. »Siehst du? Es passiert gar nichts. Er merkt es nicht einmal.« Sie warf einen kurzen Blick nach vorn auf Kandesch, der weiter gemütlich vor sich hin trottete. Er kannte den Weg ohnehin.

Immer noch zögernd schloss Sophie ihre Finger um den Lederriemen. »So?«

»Mit beiden Zügeln«, sagte Elisabeth und übergab ihr nun auch den zweiten. »Sonst läuft er immer im Kreis.« Sie lachte.

Sophies Hände versuchten die Zügel zu halten, aber sie wusste nicht, wie, deshalb legte Elisabeth ihre eigenen Hände unterstützend um Sophies, um in Notfall schnell eingreifen zu können.

Oh. Das hätte ich nicht tun sollen. Ihr brach fast der Schweiß aus. Aber das konnte auch von der warmen Decke kommen.

Mit immer wieder angehaltenem Atem saß Sophie da und starrte abwechselnd von den Zügeln nach vorn und zurück. »Richtig so?«

»Du machst das sehr gut.« Elisabeth war hin- und hergerissen. Am liebsten hätte sie ihre Hände zurückgezogen, weil sie fast das Gefühl hatte, sie verbrannten langsam, aber andererseits wollte sie dieses Gefühl auch noch länger ausdehnen. Viel, viel länger. Der Schweiß, der ihr ausgebrochen war, wurde kalt auf ihrer Stirn.

»Nimm du sie wieder.« Beinah hektisch wollte Sophie ihre Hände unter Elisabeths wegziehen.

»Vorsichtig. Nicht zu hastig.« Elisabeth lachte besänftigend. »Pferde erschrecken sich leicht, und das kann unangenehm werden.« Sie lockerte – auch wenn es ihr schwerfiel – ihren Griff, sodass Sophie ihre Hände herausziehen konnte.

»Das war interessant«, sagte sie. »Die Zügel sind schwer. Viel schwerer, als ich gedacht hätte.«

»Und trotzdem muss man sie locker halten.« Elisabeth sortierte die Zügel nun wieder in ihren eigenen Händen. »Pferde haben ein sehr empfindliches Maul. Sie merken jede Bewegung. Und man kann sie auch verletzen, wenn man nicht aufpasst.«

»Und dabei sind meine Finger jetzt schon ganz kalt und steif geworden.« Lachend rieb Sophie ihre Hände aneinander. »So könnte ich sie niemals locker halten.«

Elisabeths Hände waren im Gegensatz zu Sophies so heiß, dass sie die Handschuhe, die sie trug, am liebsten ausgezogen hätte. Stattdessen hielt sie eine behandschuhte Hand Sophie entgegen. »Das hilft«, sagte sie. »Ohne Handschuhe kann man nicht fahren.«

»Brr.« Sophie schüttelte sich, während sie ihre Hände noch einmal aneinanderrieb, und versteckte sie dann wieder unter der Decke. »Da ich keine Handschuhe habe, muss ich wohl das hier als Ersatz nehmen.«

Schade, dachte Elisabeth, aber Sophie hatte recht. Wenn man fast regungslos hier auf dem Bock saß, wurde einem ohnehin kalt, und die Hände und Füße starben zuallererst ab.

Interessiert schaute Sophie sich um. »Das ist ein schöner und großer Park hier.«

»Mm-hm.« Elisabeth nickte. »Er gehört der Familie Wolfsburgen.«

»Was? Der ist privat?« Sophie fiel fast die Kinnlade herunter. »Meine Güte, die müssen ja reich sein.«

»Mm-hm«, machte Elisabeth wieder. »Ihnen gehören auch noch eine ganze Menge Immobilien in der Stadt.«

Neugierig reckte Sophie den Hals. »Da hinter der hohen Hecke . . .« Sie wies darauf. »Ist das ihr Anwesen?«

Kurz warf Elisabeth einen Blick auf die vereinzelt hervorstechenden Dachgiebel der Gebäude, die gut geschützt hinter dem selbst jetzt im Winter noch dichten Grün verborgen lagen. Das Alter und die Größe der Gebäude ließen sich von hier aus nur erahnen. »Ja«, bestätigte sie. »Sie wohnen immer noch da.«

»Tatsächlich? Sie wohnen da?« Auf einmal wurde Sophie stumm. Sie spielte geistesabwesend mit ihren Fingern herum und schien in Gedanken versunken. »Toll, wenn man so viel Geld hat, dass man in so einem Schloss wohnen kann«, murmelte sie.

»Na ja, ein Schloss . . .«, Elisabeth lachte leise, »ist es nicht. Aber ein großes Anwesen, das ja.«

»Da kann man sich richtig . . . sicher fühlen«, sagte Sophie leise. »Da kann einen niemand vertreiben.«

Da sie nun durch das eiserne Tor fuhren, konnte Elisabeth nicht antworten, denn sie musste sich auf den Verkehr konzentrieren, der nun wieder um sie brauste. Es erschien ihr jedes Mal wie der Übertritt von einer Welt in die andere, wenn sie den friedlichen Park verließ und in die hektische Umgebung der Stadt eintauchte.

Vorsichtig reihte sie Kandesch und die Kutsche in den nicht abreißen wollenden Strom der Autos ein. Seine Hufeisen klapperten laut auf dem Asphalt, als wollten sie anzeigen, dass Pferde nicht hierhergehörten.

»Hoo, brrr.« Elisabeth zog sachte an den Zügeln, und Kandesch trottete noch ein paar wenige Schritte aus, bevor er stehenblieb. »Wir sind da.« Geübt befestigte sie die Zügel an der Halterung und zog die Bremse. Mit einem kleinen Satz sprang sie vom Kutschbock hinunter und empfing Sophie auf der anderen Seite mit ihrer dargebotenen Hand, um auch ihr herunterzuhelfen.

»Mami, Mami!«, rief es gleich darauf. Das kleine Mädchen, von dem Elisabeth nun wusste, dass es Hanna hieß, kam vom Pausenhof angerannt und warf sich, kaum hatte sie Sophie erreicht, auch schon in ihre Arme.

Mit mütterlich geübtem Griff schob Sophie ihrer Tochter die Mütze zurecht. »Na, wie war der Kindergarten?«, fragte sie dabei.

Das interessierte Hanna im Moment aber gar nicht. »Oh, ein Pferd!«, rief sie mit strahlenden Augen, die weit aufgerissen an Kandesch hafteten. »Darf ich das streicheln?«

»Natürlich darfst du.« Bevor Sophie überhaupt antworten konnte, hatte Elisabeth es schon getan. »Er heißt Kandesch. Und er ist ganz lieb.« Sie beugte sich leicht zu Hanna hinunter und lächelte sie an.

Hanna konnte es überhaupt nicht erwarten, riss sich fast von Sophie los und stürmte auf Kandesch zu.

»Langsam, langsam!« Elisabeth hielt sie auf, bevor sie das Pferd erschrecken konnte. »Du musst ihm erst Guten Tag sagen, damit er dich kennt.« Sie nahm Hanna an der Hand und führte sie zum Kopf des Pferdes. »Kandesch – Hanna«, stellte sie vor und dann mit einer kleinen Handbewegung zu Hanna hin. »Hanna – Kandesch.«

Das dauerte Hanna alles viel zu lange, und sie streckte schon die Hand aus.

»Hier«, sagte Elisabeth, fischte einen Zuckerwürfel aus ihrer Tasche und legte ihn in das kleine Händchen. »Mach deine Hand ganz flach. Die Finger ganz weg.« Sie drückte leicht darauf, damit es einigermaßen so war, wie es sein sollte, dann hob sie Hanna hoch, damit sie Kandeschs weiche Lippen erreichen konnte. »Und jetzt hältst du es ihm hin.«

Etwas zögernd, obwohl sie so forsch auf ihn zugestürmt war, hielt Hanna Kandesch den Würfel hin. Elisabeth musste ihre kleine Hand noch etwas näher zum Pferdemaul bringen, damit Kandesch das Leckerchen überhaupt erreichen konnte.

Dann schloss er seine Lippen darum und kaute mit lautem Krachen.

»Uh! Ih!«, machte Hanna und zog schnell ihre Hand zurück. »Das kitzelt!«

»Ja, so ist das mit Pferden.« Elisabeth lachte und setzte sie wieder auf dem Boden ab.

»Du kannst gut mit Kindern umgehen«, bemerkte Sophie in diesem Moment, und ihre Stimme klang erstaunt.

»Ach, das . . .« Verlegen blickte Elisabeth zur Seite und begann die Decke zusammenzulegen, damit sie Sophie nicht anschauen musste. »Das kann doch jeder.«

»Absolut nicht«, widersprach Sophie. Sie lachte trocken auf. »Im Gegenteil.« Es schien, als wollte sie noch etwas hinzufügen, aber dann tat sie es doch nicht. Sie schlenderte zu Hanna hinüber, die jetzt ganz hingerissen Kandeschs Bein streichelte. Höher kam sie noch nicht. »So, jetzt wird es aber Zeit, nach Hause zu gehen.« Sophie beugte sich zu ihrer Tochter hinunter und richtete ihr die Jacke und den Schal. »Es wird langsam dunkel, und ich bin mir sicher . . .«, kurz sah sie zu Elisabeth auf, »Elisabeth und Kandesch müssen auch langsam wieder heim.«

»Oh schaaade . . .«, protestierte Hanna und schob schmollend ihre Unterlippe vor. Brav nahm sie aber dann dennoch Sophies Hand und winkte Kandesch eifrig zu.

»Kandesch könnte noch einen kleinen Schlenker vertragen«, warf Elisabeth schnell ein. »Er hatte noch nicht viel Bewegung heute. Soll ich euch nicht lieber nach Hause fahren? Wie du schon sagtest . . .« Ihr Blick streifte Sophie. »Es wird dunkel.«

»Au ja!«, bettelte es bereits von unten, und Hanna zog ihre Mutter ungeduldig am Mantel. »Biiittteee!«

»Ich glaube, ihr zwei habt das bereits beschlossen.« Sophies Mundwinkel zuckten verdächtig. »Ich habe da offenbar gar nichts mehr zu melden.«

»Doch, natürlich«, sagte Elisabeth. »Du bist die Mutter. Wenn du nicht willst . . .« Dabei schmunzelte sie jedoch, denn sie sah Sophie schon an, dass sie ihrer Tochter diesen Wunsch nicht abschlagen würde. Und damit würde gleichzeitig auch Elisabeths Wunsch erfüllt werden.

»Jaaa!«, rief Hanna aus voller Kehle, und ihre Arme flogen durch die Luft, während sie auf und ab sprang. Ungeduldig tapste sie dann vor dem Kutschbock von einem Fuß auf den anderen, bis Elisabeth sie hochhob und auf der Bank absetzte.

»Darf ich bitten, Madame?« Einladend hielt sie nun Sophie ihre Hand hin und grinste.

»Oh, anscheinend hast du deine Etikette wiedergefunden«, bemerkte Sophie gutgelaunt lächelnd, während sie sich auf Elisabeths Hand abstützte und neben ihrer Tochter auf die Bank glitt.

Elisabeth blickte kurz zu den beiden hoch und hätte beinah geschluckt. Wie sie da saßen, auf sie hinuntersahen und auf sie warteten, das war fast wie –

Schnell lief sie um Kandesch herum und schwang sich auf der anderen Seite auf den Bock, um die Zügel in die Hand zu nehmen.

Als sie kurz darauf die Straße entlangtrabten, wurde Elisabeths Herz warm beim Anblick Hannas und wie ihre kleinen Finger freudig an der Decke herumzupften. Ihre kurzen Beinchen baumelten in der Luft vor und zurück, und Sophies Arm ruhte schützend um die Kleine. Es war ein wundervolles Bild.

Fast wie zufällig trafen ihre Augen sich mit denen von Sophie, und es lag so etwas wie ein stilles Einvernehmen darin. Leise begann Sophie zu lächeln, und Elisabeth war froh, dass Kandesch geradeaus lief, denn für einen Moment war sie wie erstarrt und hätte ihn nicht lenken können.

Die Dämmerung hatte sich bereits über die Stadt gelegt, als der Verkehrslärm etwas weniger wurde und Elisabeth ein paar Straßen weiter vor einem in die Jahre gekommenen Block anhielt.

»Vielen Dank fürs Nachhausefahren.« Bevor Elisabeth um die Kutsche herumlaufen konnte, stieg Sophie schon hinunter und öffnete ihre Arme für Hanna, die ohne zu zögern hineinsprang und Sophie damit fast umwarf. »Uff!«, machte sie. »Du wirst wirklich bald zu schwer für mich, meine Kleine.« Dabei lachte sie und man sah, dass sie das nicht ernst meinte. Ihre Augen strahlten immer noch vor Mutterstolz, als sie sie zu Elisabeth aufhob.

Du lieber Himmel. Am liebsten hätte Elisabeth weggeschaut, damit Sophie nicht sah, wie sie rot wurde. Doch das ging nicht. Sie konnte sich auf einmal nicht mehr bewegen. Aber vielleicht war das auch gar nicht so auffällig, denn in der Kälte hatte wohl jeder, der länger draußen war, eine rote Nase und rote Backen. »Es war schön, dich kennenzulernen, Hanna«, sagte sie schnell, denn ganz von allein konnte sie ihren Blick immer noch nicht von Sophie abwenden. So aber musste sie ihn zumindest ein klein wenig auf Hanna richten, die Sophie an der Hand hielt. »Ich hoffe, die Kutschenfahrt hat dir gefallen.«

Hannas heftiges Nicken ließ keine Zweifel aufkommen, wie die Antwort auf die unausgesprochene Frage lautete.

Auch Sophie bestätigte das sofort. »Auf jeden Fall«, sagte sie. »Wir sind beide ganz große Fans von deiner Kutsche . . . und Kandesch und . . .« Sie zögerte und blickte Elisabeth um Verzeihung bittend an. »Entschuldige, jetzt habe ich den Namen von deinem anderen Pferd vergessen.«

»Silverkai«, sagte Elisabeth. Sie lächelte zu Hanna hinunter. »Ich hoffe, die wirst du auch noch kennenlernen.«

Die Antwort aus Hannas Mund war jedoch nur ein herzhaftes Gähnen. Es war klar, dass sie wohl schon bald in ihren Schlafanzug hüpfen würde.

»Ich würde dich ja gern noch auf einen Kaffee einladen.« Etwas schaudernd zog Sophie ihren Mantelkragen noch dichter um sich. »Aber ich glaube, du solltest Kandesch hier nicht alleinlassen.«

»Schon in Ordnung«, versicherte Elisabeth ihr. »Außerdem habe ich ja noch den Tee. Vielen Dank noch einmal dafür.«

»Den hast du jetzt gar nicht getrunken«, entgegnete Sophie.

»Tue ich sofort.« Elisabeth angelte unter der Bank nach der Thermosflasche, zog ihre Handschuhe aus, weil sie sie damit nicht öffnen konnte, und der Dampf stieg ihr so heiß in die Nase, als sie sie endgültig aufschraubte, dass sie zurückzuckte. »Gute Thermoskanne«, bemerkte sie anerkennend. »Die hält wirklich warm.«

»Sie ist auch viel benutzt.« Sophie lächelte wieder. »Sieht man ja auch.«

»Die alten Sachen sind doch immer die besten«, schmunzelte Elisabeth. »Viel besser als das, was man jetzt bekommt.« Um Sophie den Gefallen zu tun, nahm sie einen Schluck von dem Tee, aber nur vorsichtig, weil sie sich nicht die Zunge verbrennen wollte. »Hmm. Großartig. Schmeckt irgendwie nicht so wie die, die ich immer aus dem Beutel mache.«

»Liegt vielleicht daran, dass er nicht aus einem Beutel ist«, gab Sophie etwas mutwillig zurück, und ihre Augen blitzten vergnügt.

Elisabeth nahm noch einen Schluck, der Tee schmeckte wirklich gut, dann schraubte sie die Flasche wieder zu. »Der Rest ist für den kalten Weg nach Hause«, sagte sie.

»Apropos . . .«, meinte Sophie und blickte auf ihre Tochter hinunter, die schon fast an ihrer Hand einschlief. »Da müssen wir jetzt auch ganz schnell hoch.«

»Schlaf . . . Schlaft gut«, korrigierte Elisabeth sich rasch, sodass es sich nur so anhörte, als wäre sie über ihre eigene Zunge gestolpert. »Und träumt was Schönes.«

»Du auch.« Sophie nahm Hanna auf den Arm und drehte sich halb um.

Ein kleines Zwinkern flog Elisabeth noch entgegen, bevor Sophie sich ganz von ihr abwandte und mit Hanna zum Hauseingang hinüberging. Ein letztes Mal trafen sich ihre Blicke, und Sophies Hand hob sich zu einem angedeuteten Gruß, bevor sie und ihre Tochter im Inneren verschwanden und die Haustür ins Schloss fiel.

Elisabeth blickte noch eine ganze Weile auf die geschlossene Tür. Hier wohnt sie? dachte sie, je mehr sie von der heruntergekommenen Fassade in sich aufnahm. Wie kommt das? Zwar hatte sie gesehen, dass Sophies Kleidung wohl schon eine ganze Weile in Benutzung war, ohne dass sie sich anscheinend etwas Neues leisten konnte, aber dieser Wohnblock hier . . . Das war schon ziemlich schlimm. Sie kannte diese Gebäude, wenn sie auch noch nie eins betreten hatte. Sie waren kurz vor dem Abriss.

Fast wäre sie Sophie hinterhergelaufen und hätte ihr am liebsten angeboten, mit zu ihr zu kommen, aber das konnte sie wohl kaum tun. Dazu kannten sie sich einfach zu wenig.

Und vielleicht würde Sophie es auch als Beleidigung auffassen. Sie arbeitete wahrscheinlich schwer dafür, sich überhaupt diese Wohnung hier leisten zu können, und Elisabeth wollte auf keinen Fall ihren Stolz verletzen.

Dennoch schüttelte sie den Kopf, als sie nun die Zügel wieder aufnahm. Sophie war eine nicht nur attraktive, sondern auch intelligente junge Frau. Wie war es möglich, dass sie hier wohnen musste?

Dafür musste es eine Erklärung geben, die sie noch nicht kannte.

Aber sie musste sie unbedingt herausfinden.

1

»Na, meine Süße, ist dir kalt?« Liebevoll streichelte Elisabeth ihrer Stute Silverkai den Hals.

Sie beide standen schon eine Weile hier mit ihrer Kutsche am Rand des Parks, aber Silverkai fror sicherlich noch lange nicht. Wahrscheinlich hatte Elisabeth sie nur gefragt, weil sie selbst fror. Sie zog ihren Kutschermantel etwas enger um ihre Schultern zusammen.

Ein nicht abreißen wollender Strom von Menschen rauschte gehetzt und mit versteinerten Gesichtern an ihnen vorbei. »Schön, hm?« Elisabeth schüttelte den Kopf und unterhielt sich weiter mit Silverkai, weil sonst niemand da war, mit dem sie sich unterhalten konnte. Keiner der Menschen blieb stehen, um vielleicht auch einmal durchzuatmen oder sich eine Kutschfahrt zu gönnen. Sie konnten das Schöne in der Langsamkeit gar nicht mehr sehen.

Aber anstatt einer Antwort schlangen sich die Pferdelippen nur um den dargebotenen Zuckerwürfel auf Elisabeths Hand, um ihn gleich darauf genüsslich zu verspeisen.

»Ja, ich weiß, geht dich alles nichts an.« Lachend klopfte Elisabeth Silverkais Hals noch einmal.

»Taxi! Taxi!« Eine Frau schwenkte am Straßenrand ihre Hand durch die Luft und streckte sich sogar auf die Zehenspitzen, um besser gesehen werden zu können.

Allerdings war kein Taxi in der Nähe, wie so oft, oder wenn, dann waren sie schon besetzt.

»Taxi! Oh bitte, Taxi!« Inzwischen stand die Frau am äußersten Bordsteinrand und schwenkte jetzt sogar hektisch beide Arme über ihrem Kopf.

»Ob sie auch mit einer Kutsche vorliebnehmen würde?«, fragte Elisabeth Silverkai, doch die schnaubte nur kurz durch die Nüstern und leckte ihrer Besitzerin über die Hand, offensichtlich in der Hoffnung, dass sich dort noch eine kleine Leckerei befand. »Nein, wahrscheinlich ist ihr das zu langsam, wie all den anderen auch«, überlegte Elisabeth weiter. »Sie scheint es ja sehr eilig zu haben.«

Dennoch konnte sie der zunehmenden Verzweiflung der Frau nicht weiterhin einfach nur zusehen, denn die Aussicht auf ein Taxi wurde nicht größer, das wusste sie aus Erfahrung. Sie ging zu ihr hinüber und sprach sie an. »Entschuldigen Sie bitte.« Lächelnd hob sie die Augenbrauen. »Wohin müssen Sie denn so dringend?«

Unvermittelt schoss der Kopf der Frau herum und ihre Augen weiteten sich, als hätte Elisabeth sie erschreckt. Hatte sie wohl auch. »Ich . . . ähm . . .« Die Frau strich sich hastig eine Strähne ihres kurzen dunklen Haars hinter das Ohr. »Ich muss so schnell wie möglich auf die andere Seite des Parks.« Ihr Blick huschte schon wieder über die Straße, ob nicht doch ein Taxi vorbeikam.

»Mit einem Taxi werden Sie hier wenig Glück haben. Es ist kaum je eins zu erwischen«, erklärte Elisabeth. »Aber ich könnte Ihnen meine Kutsche anbieten.« Sie wies zu ihrem Gefährt hinüber. Silverkai hatte neugierig den Kopf gedreht und schaute sie beide an. »Die ist sogar schneller als ein Taxi, weil ich damit quer durch den Park fahren kann.«

»Tatsächlich?« Die Frau schien interessiert, wenn auch überrascht. Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann ich mir nicht leisten«, sagte sie. »Schon das Taxi –« Sie brach ab. Dann seufzte sie. »Dabei bin ich schon viel zu spät. Und ich muss unbedingt –« So etwas wie Panik stieg in ihre Augen.

Wunderschöne grüne Augen, wie Elisabeth bemerkte. Warum schlug ihr Herz auf einmal schneller? Vielleicht war es dem deshalb heißer durch ihre Adern sausenden Blut zu verdanken, dass ihr plötzlich eine Idee kam. »Da haben Sie aber Glück«, sagte sie. »Sie sind heute mein zwanzigster Fahrgast, deshalb ist die Fahrt gratis.«

Die Frau schenkte ihr einen erstaunten Blick. »Meinen Sie das ernst?«

»Ja.« Elisabeth konnte gar nicht anders als noch mehr zu lächeln. Auf einmal war ihr ganz warm. »Das ist mein Ernst.« Sie machte einen Schritt auf die Kutsche zu und hielt ihren Arm einladend ausgestreckt. »Bitte sehr. Ich muss ohnehin zurück in den Stall, und der ist auch auf der anderen Seite.«

»Nur wenn es Ihnen bestimmt keine Umstände macht.« Während ihre wohlklingende Stimme das sagte, schaute die Frau beunruhigt noch einmal auf ihre Armbanduhr.

»Keineswegs«, versicherte Elisabeth, trat nun ganz neben die Kutsche und öffnete die kleine Kutschentür.

Mit einem zuerst zögernden, dann entschlosseneren Schritt kam die Frau zu ihr.

Zuvorkommend bot Elisabeth ihr ihre Hand zum Einsteigen an.

Die Frau griff danach. »Danke.«

Es war zwar nur ein kurzer Moment, in dem sich ihre Hände berührten und die Frau an Elisabeth vorbei in die Kutsche stieg, aber gepaart mit ihren grünen Augen, die nur für den Bruchteil einer Sekunde Elisabeths streiften, ließ er für Elisabeth die Zeit stillstehen.

Während noch ein dezenter Hauch von Vanille, den die Frau um sich trug, in der Luft schwebte, beobachtete Elisabeth, wie sie sich setzte, ihren Mantel noch etwas enger um ihre zierliche Gestalt zog und die Handtasche auf ihrem Schoss fest umklammerte. Fast schon weiß stachen ihre Knöchel hervor, und ein tiefer Atemstoß, der die Luft weiß färbte, verließ ihre Lippen.

Wie von selbst glitt Elisabeths Blick weiter hinunter über die nicht mehr ganz so dunkle Stoffhose, die im Vergleich zu dem schwarzen Mantel abgetragen wirkte. Auch die flachen Schuhe zeugten mit ihren vereinzelt abgeplatzten Farbsprenkeln davon, schon bessere Tage gesehen zu haben.

Aufmunternd lächelnd ließ Elisabeth die kleine Kutschentür ins Schloss schnappen. »Geht sofort los.« Sie kletterte auf den Kutschbock, löste die Bremse und bereits mit den Zügeln in der Hand drehte sie sich nach hinten um. »Da liegt eine Decke.« Mit einem Kopfnicken deutete sie darauf. »Wenn Sie wollen, können Sie sich damit zudecken. Es kann ganz schön kalt werden bei der Fahrt.«

Als ob sie gar nicht zugehört hätte, schaute die Frau sie verständnislos an, aber dann schien sie sich doch daran zu erinnern, was Elisabeth gesagt hatte. Sie griff nach der Decke und zog sie über ihre Beine. »Dankeschön.« Ihr Gesicht sah angespannt aus. Sie lächelte nicht.

»Bitte, gern.« Elisabeth schnalzte mit der Zunge, und Silverkai setzte sich in Bewegung.

Das gleichmäßige Rasseln des Pferdegeschirrs und das sanfte Schaukeln der Kutsche waren Elisabeth so vertraut wie der Klang ihrer eigenen Stimme. Silverkai trabte gemächlich vor sich hin, und gemeinsam mit dem Einsetzen der Dämmerung begannen vereinzelt die ersten Flocken vom Himmel zu fallen.

»Ist Ihnen warm genug?« Etwas besorgt wandte Elisabeth den Kopf über ihre Schulter zurück. »Ich kann leider nichts dagegen tun, dass es jetzt auch noch schneit.«

Sie sah, wie die Frau ihre Finger fest in die wärmende Decke krallte. »Wir sind ja bald da.« Ihre Stimme klang flach. »Haben Sie jedenfalls gesagt.« Ihre Augen öffneten sich weit, als ob ihr plötzlich eingefallen wäre, dass Elisabeth ja auch gelogen haben könnte.

»Ja, wir sind gleich da«, erwiderte Elisabeth beruhigend. »Keine Angst.« Sie lächelte wieder. »Waren Sie schon mal hier am See?« Mit einem Arm deutete sie zur Seite, wo die ersten Ausläufer des Sees in ihrem Blickfeld auftauchten.

»Nein.« Ihre Lippen fest aufeinandergepresst bewegte die Frau den Kopf leicht von einer Seite zur anderen.

Wie schon zuvor hatte Elisabeth das Gefühl, sie hörte ihr gar nicht richtig zu, und es interessierte sie auch nicht. »Im Sommer können Sie hier schwimmen und Tretboot fahren, wenn Sie mögen, und jetzt im Winter, bei diesen eisigen Temperaturen, ist er freigegeben zum Schlittschuhlaufen«, fuhr sie dennoch fort. Sie erzählte ihren Fahrgästen immer etwas während der Fahrt, was die meisten auch schätzten. Bei dieser Frau hier war sie sich allerdings nicht so sicher.

Im sanften Licht der wenigen Straßenlaternen, die ihren Weg säumten, funkelten die fallenden Schneeflocken wie kleine Sterne.

»Können Sie nicht schneller fahren?« Aus dem Augenwinkel nahm Elisabeth wahr, wie die Frau erneut auf die Uhr schaute.

»Wir sind gleich da. Durch den Park galoppieren kann Silverkai nicht. Das wäre zu gefährlich. Und außerdem ist es verboten.« Sie rückte ihren leicht verrutschten Zylinder wieder gerade und schaute nach vorn. »Sehen Sie? Da ist der Ausgang des Parks schon.« Mit der langen Peitsche deutete sie auf das große eiserne Tor, durch das die Besucher in den Park hinein- oder wieder hinausgelangten.

Schaudernd zog sie den Kragen ihres Mantels noch etwas enger zusammen, denn die vielen Schneeflocken, die sich inzwischen nicht nur sanft auf die Umgebung, sondern auch auf ihren dicken Kutschermantel niederließen, streiften eisig mit dem leicht aufkommenden Wind immer dichter an ihrem Hals vorbei.

»Jetzt müssen Sie mir nur noch sagen, wo ich Sie abladen darf.« Elisabeth zog sachte an den Zügeln, und Silverkai ließ sich nur allzu gern vom Trab in den gemütlicheren Schritt zurückfallen.

»Ich muss zum Kindergarten.« Die Frau erhob sich und kniete sich hinter Elisabeth auf das Polster der Kutschbank. »Er ist gleich da vorn um die Ecke.«

Nur aus dem Augenwinkel spähte Elisabeth auf die zierlichen Hände, deren Finger sich neben ihr im weichen Polster ihrer Rückenlehne vergruben. Wie der Dampf einer Lokomotive strömte der warme Atem der Frau stoßweise neben Elisabeth hervor, nur um sich noch im selben Augenblick in der Kälte der Winterluft zu verlieren.

Es war zwar ungewöhnlich, dass die Fahrgäste nicht auf einem der beiden Kutschbänke sitzen blieben während der Fahrt, schlicht auch weil es nicht gerade ungefährlich war, aber die Frau so dicht hinter sich zu wissen, ja fast schon zu spüren, und den leichten Vanilleduft, der sie umspielte, einzuatmen, ließ Elisabeth die Vorsichtsmaßnahmen einmal außer Acht lassen.

Kaum hatten sie das eiserne Tor passiert, klapperten Silverkais Hufeisen auch schon auf dem kalten Beton vor sich hin. Elisabeth seufzte ergeben auf. Die endlos scheinende Weite des großen Parks und seine verschlafene Stille lagen nun hinter ihnen, und fast schon bedrohlich strömte der Lärm der Großstadt aus allen Richtungen auf sie ein. Brummende Lieferwagen und hupende Autos, soweit das Auge reichte. Doch merkwürdigerweise erschien Elisabeth das hektische Treiben um sie herum heute nur halb so mühselig wie sonst.

»Da, da ist sie!«, brach es unvermittelt aus der Frau heraus, und ihr Finger sauste neben Elisabeth nach vorn.

»Hoo, brrrr!« Sachte zog Elisabeth an den Zügeln und brachte die Kutsche zum Stehen. Noch mit der Hand an der Bremse sah sie aus dem Augenwinkel, wie ihr Fahrgast aus der Kutsche sprang und die Rotphase der Ampel nutzte, um quer über die Straße zu eilen. Die unteren Enden ihres Mantels schwangen dabei wie kleine Flügel im Wind, und kaum hatte sie die andere Straßenseite erreicht, nahmen die Autos die Fahrbahn auch schon wieder ein.

»Du scheinst es aber wirklich eilig zu haben«, murmelte Elisabeth leise vor sich hin, während sie die Bremse der Kutsche wieder löste und die Zügel in der Hand sortierte.

Sorgsam zog sie sich ihren Zylinder noch etwas tiefer die Stirn hinunter, um sich vor dem eisigen Wind, der hier zwischen den hohen Häuserschluchten unerbittlich hindurchpeitschte, zu schützen.

Zwischen den dröhnenden Lieferwagen und Bussen, die unaufhörlich an ihr vorbeiströmten und ihr zusammen mit dem immer stärker werdenden Schneefall die Sicht trübten, spähte sie hinüber auf die andere Straßenseite. Sie konnte die Frau zwischen den hohen Gitterstäben hindurch erkennen, die den Pausenhof des Kindergartens von dem hektischen Treiben der Stadt trennten. Nur schemenhaft erkannte Elisabeth, wie sie sich tief nach unten beugte und ein kleines Mädchen fest in ihre Arme zog.

Ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengt beobachtete sie gebannt die Frau, und an ihren Lippenbewegungen glaubte Elisabeth zu erkennen, dass sie wohl mit dem kleinen Mädchen sprach. Liebevoll strich die Frau dem Mädchen über die Wange, das sich vertrauensvoll in ihre Arme kuschelte. Gemeinsam verließen die beiden Hand in Hand den Pausenhof, und kurz darauf verschwanden sie im dichten Schneegestöber hinter einer Hausecke aus Elisabeths Sichtfeld.

Unbeweglich saß Elisabeth da und starrte auf die Zügel in ihrer Hand. Ein dicker Kloß braute sich in ihrem Hals zusammen, und das leidlich bekannte Brennen hinter ihren Augen machte sich bemerkbar. Eilig wischte sie sich die verräterische kleine Träne von der Wange und presste ihre Lippen aufeinander.

Nein, nicht, ermahnte sie sich selbst und ließ noch einmal ihren Blick zu der Hausecke schweifen, hinter der die beiden verschwunden waren. Ein tiefer Atemzug erfüllte ihre Lungen mit frischer Luft, und sie hob die Zügel an. »Zeit nach Hause zu gehen, meine Süße.«

4

»Wo ist denn deine Kutsche?« Hannas Augen öffneten sich weit, als sie gemeinsam aus der Haustür traten. Enttäuscht verzogen sich ihre Lippen zu einem Schmollmund.

»Heute bin ich mit dem Auto da«, sagte Elisabeth. »Die Kutsche habe ich im Stall gelassen, wo auch Kandesch und Silverkai sind. Aber da fahren wir jetzt hin. Wir sind ganz schnell da.«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst.« Wie ein Peitschenknall hielt eine leider nur allzu bekannte Stimme sie auf.

Elisabeth spürte, wie Sophie neben ihr erstarrte. Als nächstes drehte Hanna, die eben noch vor ihnen hergelaufen war, sich um und versteckte sich hinter Sophies Beinen. Die griff nach ihr und hob sie beschützend auf ihren Arm. »Barbara.« Sophies Stimme klang nur wie ein Hauch. »Was willst du hier?«

»Das habe ich dir doch gesagt, als ich vorhin hier war«, säuselte Barbara mit blitzenden Augen, die zu schmalen Schlitzen zusammengezogen waren. »Hast du gedacht, ich mache das nicht wahr?«

»Nein.« Sophies Stimme zitterte. »Ich weiß, das tust du immer.«

Elisabeth ließ Barbara nicht aus den Augen, die Anstalten machte, auf Sophie und Hanna zuzutreten. Sofort trat Elisabeth dazwischen.

»Ach, schau mal einer an.« Als würde sie sich über die Herausforderung freuen, lachte Barbara auf. »Wer ist das denn? Meine Freundin mit der Thermoskanne.«

»Sie hat sie mir nur zurückgebracht«, flüsterte Sophie. »Bitte, lass sie in Ruhe.«

»Schon gut, Sophie.« Elisabeth hob beruhigend einen Arm und drehte ihn leicht nach hinten, wo Sophie stand. Sie hörte, dass Sophies Stimme voller Angst war, voller Panik sogar.

»Sehen Sie, Frau Guteisen?« Barbara wandte sich halb zu einer Frau um, die ein paar Meter entfernt stand, weshalb Elisabeth nicht gedacht hatte, dass sie zu ihr gehörte. »Sehen Sie dieses Haus, aus dem sie gerade gekommen sind? Und glauben Sie mir, die Wohnung sieht noch viel schlimmer aus.«

Elisabeth hörte, wie Sophie nach Luft schnappte.

»Darf ich vorstellen?«, fuhr Barbara fort. »Das hier ist Frau Guteisen vom Jugendamt. Ich habe ihr erzählt, unter welch schlechten Bedingungen Hanna hier leben muss. Deshalb will sie sich das jetzt einmal ansehen. Sie möchte sicherstellen, dass es Hanna bei dir auch an nichts mangelt.« Ihre Augen blitzten Sophie über Elisabeths Schulter hinweg an.

»Wer von Ihnen ist Frau Hartmann?«, fragte Frau Guteisen und ließ ihren Blick kurz zwischen Elisabeth und Sophie hin und her wandern.

»Ich«, antwortete Sophie sofort. Ihre Stimme klang nun etwas fester.

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Hartmann.« Höflich hielt Frau Guteisen ihr die Hand hin. »Aber wir müssen jeglichen Hinweisen nachgehen und sicherstellen, dass es Hanna an nichts fehlt.«

Elisabeth war erstaunt über das Mitgefühl, das aus Frau Guteisens Stimme sprach. Sie hatte gedacht, dass Barbara sie schon ganz auf ihre Seite gezogen hätte. »Natürlich müssen Sie das«, meldete sie sich schnell zu Wort, bevor Sophie etwas sagen konnte. »Nur scheint es da ein kleines Missverständnis zu geben.« Sie lächelte Frau Guteisen an. »Sophie wohnt gar nicht hier. Sie und Hanna wohnen bei mir.«

Damit hatte Barbara nicht gerechnet, weshalb sie jetzt fast nach Luft schnappte. »Wie bitte? Ich war doch –«