Über das Buch

Es sind die beiden großen Herausforderungen unserer Zeit: die Krise der liberalen Demokratie und der drohende ökologische Kollaps. Was, wenn sie mehr miteinander zu tun haben, als wir glauben? In seinem politischen Essay zeichnet Raphaël Glucksmann ein gestochen scharfes Porträt der westlichen Gesellschaft. Differenziert und unaufgeregt zeigt er: Wir haben verlernt, uns als Zivilgesellschaft mit einer kollektiven Aufgabe und einer gemeinsamen Zukunft zu begreifen. In Zeiten des Klimawandels und auseinanderdriftender Gesellschaften brauchen wir jedoch gerade ein Gespür dafür, was uns verbindet. Die Politik sind wir! ist ein konstruktives Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Raphaël Glucksmann

Die Politik sind wir!

Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag

Aus dem Französischen von Stephanie Singh

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Matthäus’ Hocker

1. Akt: Das getrennte Leben

Die Gesellschaft der Einsamkeit

Der empathielose Mensch

Der Archipel der Gettos

Korruption

Die Kinder von 1968

2. Akt: Das politische Leben

Die demokratische Autorität

Bürger werden

Plädoyer für eine tragische Ökologie

Für einen neuen Gesellschaftsvertrag

Sind wir dazu fähig?

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

Es für L. sein

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Hölderlin

Matthäus’ Hocker

Donald Trump wohnt im Weißen Haus, die Europäische Union löst sich auf, Wladimir Putin ist der Pate schlechthin, und Matteo Salvinis Aufstieg hat gerade erst begonnen. Mauern werden zahlreicher, Brücken stürzen ein, Häfen verschließen sich den Heimatlosen und Zollkontrollen kommen wieder in Mode. Der Rückzug der freiheitlichen Demokratie, die als globales Projekt angetreten war, lässt sich allerorten mit bloßem Auge beobachten. Wir sind grandios gescheitert. Wir, die fortschrittlichen Intellektuellen, Vorkämpfer des Humanismus, Befürworter der offenen Gesellschaft, Verfechter der Menschenrechte und kosmopolitischen Bürger, sind unfähig, die Welle des Nationalismus und Autoritarismus aufzuhalten, die derzeit über unsere Gesellschaften hereinbricht.

Wie alte Pfarrer, denen die Abkehr der Gläubigen erst recht als Bestätigung ihrer kritischen Weltsicht erscheint, predigen wir weiterhin vom Irrweg der Massen, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, wir selbst könnten an einem bestimmten Punkt in die Irre gegangen sein. Wir schimpfen, wir twittern, wir posten, wir demonstrieren. Wir zweifeln schnell an anderen, sind aber selbstgewiss. Obwohl sich ein Debakel an das andere reiht, wollen wir nicht hinterfragen, welche Fehler dazu geführt haben, dass wir heute nicht mehr gehört werden.

Derartiger Hochmut wirkt in ruhigen Zeiten bloß lächerlich. Im Auge des Sturms jedoch kommt er einem Suizid gleich. Um die künftigen politischen und kulturellen Schlachten zu gewinnen, müssen wir zuallererst begreifen, warum wir die zurückliegenden verloren haben. Um die Demagogen zu bekämpfen, die derzeit Aufwind haben, müssen wir die Gründe ihres Erfolgs in der Leere suchen, die uns umgibt und oft auch innewohnt. Um aus der Asche wiedergeboren zu werden, müssen wir erst sterben.

*

Beginnen wir die Reise ins Herz der gegenwärtigen Krise unserer Demokratien in der Kirche. Nicht etwa, um den Himmel um Hilfe anzuflehen, sondern um ein Gemälde Caravaggios zu bewundern. Es befindet sich in der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom und heißt Matthäus und der Engel.

Auf den ersten Blick ist es unter den Gemälden des rebellischen Malers das harmloseste. Es zeigt keine als Madonna verkleidete Hure, keinen lasziven Jüngling, keinen abgehackten Kopf. Nicht einmal die schmutzigen Füße der vor der Madonna di Loreto niederknienden Pilger, die die Bischöfe damals arg schockierten. Matthäus sieht aus, als sei er gerade dem Bad entstiegen. Er trägt eine schöne, orangerote Toga. Ein unauffälliger Strahlenkranz weist ihn als würdigen antiken Philosophen aus. Mit einem Knie auf einen hölzernen Hocker gestützt schreibt er das Evangelium auf. Diktiert wird es ihm von einem Engel, der — für Caravaggio eine Ausnahme — seine Rolle als asexueller Abgesandter Gottes perfekt erfüllt. Stofffalten und Blickachsen bilden ein harmonisches Zusammenspiel, ohne einander zu kreuzen. Alles ist an seinem Platz. Alles hängt mit allem zusammen. Alles strebt nach oben.

Wer die Szene jedoch aufmerksam betrachtet, sieht, dass hinter der scheinbaren Ruhe etwas Beunruhigendes lauert. Fünf oder zehn Minuten lang fragt der Betrachter sich, woher angesichts dieser Anmut das ungute Gefühl kommt. Dann merkt er, dass der Hocker, auf den Matthäus sein Knie stützt, mit einem Bein im Leeren steht und jeden Moment umzukippen droht. Je länger man ihn betrachtet, umso mehr sieht man ihn sich bewegen. Man merkt, dass der alte Heilige jeden Moment auf den Betrachter stürzen und dabei alles mitreißen könnte — den Engel und den Himmel. Und Gott. Dieser wacklige Hocker auf dem scheinbar so friedlichen Bild kehrt den Sinn des gesamten Werks um: Die Harmonie war nur eine Illusion. Alles in der Schöpfung erweist sich als fragil und brüchig — selbst die heiligste Szene.

Der Hocker, der die kosmische Ordnung sprengt, ist Caravaggios Signatur. Er ist auch das perfekte Symbol für die liberale Demokratie als ein politisches System, das, wie Matthäus’ Knie, auf wackliger Grundlage ruht. Bereits der Begriff selbst legt den strukturellen Widerspruch offen: »Demokratie« bezeichnet die Herrschaft des Kollektivs über das Individuum, den Primat des Gemeinwesens. Das Adjektiv »liberal« aber steht in der entgegengesetzten philosophischen Tradition, indem es dem Individuum den Primat gegenüber dem Kollektiv zuspricht. Demokratie impliziert eine zentripetale Bewegung, eine sich stets wiederholende Suche nach Einheit. »Liberal« verweist auf die gegenteilige, zentrifugale Bewegung, die ständige Bekräftigung der Vielheit. Die Dynamik der freiheitlichen Demokratien entsteht aus dieser explosiven Begegnung des demokratischen und des liberalen Denkens.

Und gerade in ihrer hybriden Natur liegt die Kraft der liberalen Demokratie. Das permanente Oszillieren zwischen den beiden Polen ermöglicht unseren Gesellschaften, frei zu sein und sich weiterzuentwickeln. Sie leben im Rhythmus des Hin und Her zwischen zwei Extrempunkten: der kollektivistischen Utopie auf der einen und der maximalen gesellschaftlichen Individualisierung auf der anderen Seite. Fällt dieses Hin und Her weg, stürzt Matthäus’ Hocker um und mit ihm die liberale Demokratie. Wenn der Widerspruch, der unsere Systeme antreibt, nicht mehr dynamisch ist, wenn also einer der Pole zu stark wird und nicht mehr ausgeglichen werden kann, ist entweder die Demokratie nicht mehr liberal oder der Liberalismus nicht mehr demokratisch — es kommt zur Krise. Genau das geschieht heute: Der Individualismus hat die Überhand gewonnen. Das Ungleichgewicht ist so groß, der Kollektivismus so schwach, dass der Ausgleich nicht mehr funktioniert. Matthäus’ Hocker kippt. Und es gelingt uns nicht, ihn wieder aufzurichten.

*

Die folgenden Seiten mögen von einer gewissen Radikalität gekennzeichnet sein. Dennoch sind sie vor allem von der Weigerung geleitet, der Versuchung der Dogmatik in irgendeiner Weise nachzugeben. (Diese Versuchung lässt sich so definieren: Meine Ideen gelten überall, für alle und ein für alle Mal.) Stattdessen also erheben meine Gedanken nicht den Anspruch, ewige Wahrheit zu sein, sondern versuchen, auf die spezifischen Probleme unserer Zeit zu antworten. Politische Theorien sind nicht in jeder Epoche und an jedem Ort gleichbedeutend: Liberal sein war 1970 in Moskau oder Peking heldenhaft, bedeutet aber 2018 in Paris oder San Francisco etwas völlig anderes.

Ein Dogmatiker ignoriert die Fakten. Im Sinne seiner eigenen Logik strebt er stets nach vorn und jedes Hindernis erscheint ihm als paradoxe Bestätigung der eigenen Prinzipien. Im Gegensatz dazu setzt die Stabilisierung von Matthäus’ Hocker die Suche nach dem von Aristoteles so geschätzten goldenen Mittelweg voraus. Wenn die Umstände es erfordern, kann dieses — von schwammigem Zentrismus weit entfernte — Mittelmaß durchaus radikal werden. Es fordert von uns Ideen, Haltungen und Projekte angesichts der Probleme unserer Zeit und unserer Umgebung. Es verlangt, dass wir stets die beiden folgenden Fragen im Kopf haben: In welche Richtung und wie weit neigt sich der Hocker (die Diagnose)? In welche Richtung und wie weit muss man gegenhalten, damit der Hocker nicht umkippt (das Heilmittel)?

Mit den Antworten auf diese beiden Fragen habe ich lange gezögert. Das Folgende ist für mich in keiner Weise spontan oder von vornherein klar. Ich musste verlernen, was ich zu wissen glaubte, und musste aushalten, dass die Fakten meine Gewissheiten durcheinanderbrachten. Meine intellektuelle Ausbildung kann als »liberal« bezeichnet werden. Kant war mir leichter zugänglich als Hegel. Ich betrachte nicht Marx, sondern Montaigne als meinen absoluten Bezugspunkt. Voltaire habe ich mit größerer Begeisterung gelesen als Rousseau. Der philosophische Liberalismus, den ich studiert und so geliebt habe, war ein Nachdenken über Grenzen, ein Versuch, die politischen, religiösen, ökonomischen, öffentlichen und privaten Sphären, Macht und Wissen voneinander zu trennen. Er war der Kontrapunkt zur Hybris — zur Entgrenzung — der Könige und Propheten.

Doch was geschieht heute im Namen dieses Liberalismus?

Das Gegenteil. Das exakte Gegenteil.

Wir können zusehen, wie die Grenzen verwischen und die Hybris triumphiert. Wir sehen, wie multinationale Konzerne die Gesetze der Nationen zurückweisen und ihnen eigene Gesetze aufzwingen. Wir sehen, wie die mit öffentlichen Geldern geretteten Banken ihre Konten und Fonds in Steuerparadiesen verstecken. Wir sehen, dass der Wettbewerb nicht mehr funktioniert, weil niemand dessen Regeln durchsetzt. Wir sehen, wie Wirtschaftsgrößen Wahlen gewinnen mit Slogans wie: »Ich habe Erfolg im Leben — lassen Sie mich nun Ihr Leben regeln.« Man hat Berlusconi zum Auslaufmodell erklärt, obwohl er ein Prototyp war und Politiker nach seinem Muster heute in der gesamten westlichen Welt metastasieren — von Trump in den USA bis zu Babiš in der Tschechischen Republik. Wir erleben, wie die großen Tech-Konzerne (GAFAs) über die Städte der Zukunft nachdenken und neue öffentliche Räume erfinden, deren besondere Eigenschaft darin bestehen soll, dass sie privat sind. Im Namen des Wohlergehens aller — vor allem jener, die über die nötigen Mittel verfügen — bewegen wir uns auf etwas zu, das sehr weit von Locke oder Kant, Montesquieu oder Hume entfernt ist, nämlich auf die Illusion eines Lebens ohne Politik. Ohne Staat.

Francis Fukuyama irrte sich, als er nach dem Fall der Berliner Mauer das »Ende der Geschichte« ausrief. Nicht die Geschichte endete, sondern die liberalen Demokratien, die aus ihr hervorgingen. Und ihre Verfechter mit ihnen. Während der Regierungsbildung in Italien 2018 forderten deutsche Abgeordnete und französische Kommentatoren die Ratingagenturen ganz offen auf, das Land zu regieren — anstelle des Volks, das eben gewählt hatte. Werden wir in Zukunft ständig zwischen der Demokratieverweigerung der liberalen Eliten und dem antifreiheitlichen Programm der Populisten wählen müssen? Werden wir — unfähig, uns zwischen diesen beiden Übeln zu entscheiden — enden wie Buridans Esel, der sich nicht entscheiden konnte, ob er zuerst essen oder trinken sollte, und schließlich verhungerte und verdurstete? Oder wird uns ein anderer Weg einfallen?

Die Krise unserer Staaten wirkt nicht, als sei sie nur eine Episode. Um sie zu überwinden, ist ein radikaler Bruch mit den bislang gängigen Analysen und Praktiken nötig. Wir erinnern uns, dass Franklin Delano Roosevelts New Deal die Entstehung des Faschismus in den USA der 1930er-Jahre verhinderte, obwohl diese Ideologie sich zeitgleich in Europa ausbreitete. In seinen Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius, die den nachstehenden Überlegungen als roter Faden dienen sollen, warnte Machiavelli: Manchmal sei die Gesellschaft derart korrumpiert, dass die gemeinsame Sache, die res publica, sich auflöse. Nun müsse eine politische »Hand« das Gleichgewicht wieder herstellen. Woher könnte diese »Hand« kommen, die Matthäus’ Hocker aufrichten und unsere Demokratien heilen könnte?

Darauf sucht dieses Buch eine Antwort.

Sie zu finden ist auch die Aufgabe unserer Generation.

1. Akt

Das getrennte Leben

Die Gesellschaft der Einsamkeit

Lorraine, März 2017. Ein ehemaliger Arbeiter in der Eisenverhüttung nimmt mich nach einer Konferenz zur Seite: »Ich habe zwei Söhne, die ich nicht mehr verstehe. Sie arbeiten, sind verheiratet, haben Kinder. Jeder von ihnen hat ein schönes Auto, ein Haus und ein Smartphone. Sie haben genug zu essen und zu trinken. Sie leben natürlich nicht auf großem Fuß, aber sie sind reicher, als ich es war. Und dennoch wählen sie Le Pen. Sie glauben, heute sei alles schlechter als gestern und morgen werde alles noch schlimmer. Sie haben Angst vor der Welt, vor den Arabern, vor Europa. … Wie ist das zu erklären?«

Statt einer Antwort hatte ich nur Fragen für Luc. Wir sprachen über das Ende der Eisenverhüttung, über zurückliegende Kämpfe: »Mein Vater war bei der Französischen Sektion der Arbeiterinternationale; ich bin als Sozialist geboren und werde als Sozialist sterben, um das Leben zu ändern, wie man früher sagte.« Wir sprachen auch über bevorstehende Kämpfe: »Es gibt so viel zu tun, so viele Möglichkeiten, und dennoch geschieht nichts. Jeder motzt nur in seiner Ecke vor sich hin.« Ich fragte ihn, ob die Unsicherheit um ihn herum zugenommen habe: »Ich weiß nicht. Ich will kein dummes Zeug reden, aber so verwirrend ist es ja hier nicht.« Er erwähnte den Terrorismus und fügte hinzu: »Meine Söhne haben schon vor dem Anschlag auf Charlie Hebdo den Front National gewählt.«

Nach einer halben Stunde kam er zu dem Schluss: »Wir waren arm, aber wir hatten die Gewerkschaft, die Fabrik und die Partei. Für die Gläubigen gab es auch die Kirche. Vor allem die Gewerkschaft war eine große Familie. Man sah sich in der Pause, nach der Arbeit und am Wochenende, man unterstützte sich bei Problemen, man trank zusammen, man stritt … Eben wie in einer Großfamilie! Meine beiden Söhne haben ein Smartphone, ein Haus, ein Auto, aber keine Gewerkschaft. Sie bleiben unter sich und haben Angst, bestohlen zu werden. Ja, sie haben mehr Geld, aber sie sind einsamer. Viel einsamer, als ich es in ihrem Alter war.«

Dieses Gespräch ist der Ursprung des vorliegenden Buchs. Lucs Kinder verschreiben sich nicht mehr den alten Strukturen politischer Gemeinschaft. Sie glauben nicht mehr an die Ideologien, die noch gestern einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft ermöglicht und dem Leben in der Gemeinschaft Sinn verliehen haben. Sie sind Kinder der Leere, wie ich und wie alle, die zur gleichen Zeit in der gleichen Gesellschaft geboren wurden. Um uns herum und in uns gleicht es einer riesigen Sinnwüste. Wir haben keine konkreten Fixpunkte und leben in der Angst, auch das zu verlieren, was wir noch haben. Und das, was wir sind. Unsere materiellen Güter wie auch unsere Identität, dieses essenzielle »Gut«, das jenseits aller Politik als Tatsache gedacht wird, als jahrhundertealtes Vermächtnis, dessen kleinste Veränderung wie ein Verrat erscheint. Weil wir isoliert sind, betrachten wir das Äußere, das Andere und die Veränderung als Bedrohungen.

Nichts ist menschlicher als diese Angst. Einsamkeit macht uns unsicher und verletzlich. Stellen wir uns einen Waldspaziergang vor: Ob man einzeln oder in der Gruppe unterwegs ist, entscheidet darüber, ob man sich ängstlich oder sorglos fortbewegt, ob man beim kleinsten Geräusch zusammenzuckt oder die Geräusche gar nicht bemerkt. Unsere Sensibilität für Gefahr ist gekoppelt an die Einsamkeit und an das Fehlen des Polarsterns, der uns leitet. Nur wenige einsame Wanderer profitieren von ihrer Isolation. Sie gehen voraus, sie sind die berühmten »Seilersten«, die Anführer. Die meisten von uns bewegen sich jedoch im Alarmzustand fort und rufen, nachdem sie eine Weile im Kreis gelaufen sind, nach eben diesem Anführer, der sie aus dem Wald bringen kann. Nach einem Cäsar.

So verhält es sich auch mit unserer Beziehung zur Welt. Eine Gesellschaft der Einsamkeit ist eine beängstigende Gesellschaft. Alle Statistiken zeigen, dass es in Frankreich heute weniger Gewaltverbrechen gibt als vor 30, 40 oder 50 Jahren. Dennoch haben wir das Gefühl, es werde in unserem Land immer gefährlicher. Es vergeht kein Tag, an dem man nicht den Satz hört: »Früher hätte man das nicht geduldet.« In Wahrheit wurde gesellschaftliche Gewalt »früher« weitaus häufiger »geduldet«. Objektiv betrachtet war das Risiko größer, es wurde subjektiv aber als geringer empfunden. Wir sind Gefangene unserer Privatsphäre und zugleich online extrem gut vernetzt — und so erleben wir die Morde, Vergewaltigungen und Einbrüche, von denen wir aus den Nachrichten oder den sozialen Medien erfahren, als fänden sie direkt bei uns statt.

Je weniger Kontakt wir mit anderen haben, umso mehr ängstigen sie uns. Und wir begegnen ihnen immer seltener. Die großen Fabriken schließen. Aktive junge Menschen entscheiden sich — gezwungenermaßen oder aus freien Stücken — für die Selbstständigkeit. Unsere Familien werden immer kleiner; unsere Alten schieben wir in Altersheime ab. Wir verlassen unsere Häuser oder Wohnungen so selten wie möglich und bestellen sogar unsere Einkäufe und Mahlzeiten im Internet. Haben wir doch einmal Verpflichtungen außer Haus, nehmen wir das Auto. Der Geograf Michel Lussault spricht in L’Avènement du monde [Die Entstehung der Welt] von einem »Prozess der räumlichen Verkapselung«.1 Die Individualisierung gesellschaftlicher Praktiken überträgt sich auf alle Bereiche unseres Lebens, bis hinein in scheinbar anekdotische Details wie den Niedergang der Ferienkolonien, die im Frankreich der 1980er-Jahre noch zwei Millionen Kinder pro Jahr aufnahmen — im Vergleich zu weniger als 800.000 in der heutigen Zeit. Wir behalten unsere Kinder lieber bei uns, im Kreis der Familie, und ermöglichen ihnen keine Begegnungen mit anderen, bei denen sie Gemeinschaft erleben könnten.

Wir engagieren uns nicht mehr in Gewerkschaften und Parteien. Doch Demokratie benötigt starke, vermittelnde Körperschaften, die Individuen in Gemeinschaften einbetten und ein kollektives Bewusstsein hervorbringen. Je schwächer diese Körperschaften sind, umso größer wird das Risiko autoritärer Strukturen. Lucs Söhne sind also keine Ausnahmen. In seinem aufrüttelnden Essay Der Zerfall der Demokratie schreibt der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk, dass »die allermeisten älteren Menschen sich der Demokratie zutiefst verbunden fühlen. Sollen sie auf einer Skala von eins bis zehn einordnen, wie wichtig es ihnen ist, in einer Demokratie zu leben, vergeben zwei Drittel der in den 1930er- und 1940er-Jahren geborenen Amerikaner die höchste Punktzahl. Unter den sogenannten Millennials … hält es nicht einmal jeder Dritte für unerlässlich ….«2

Das Individuum, das auf eigenen Wunsch oder qua Notwendigkeit langsam auf das Stadium eines Atoms reduziert wird, errichtet immer höhere Mauern um die eigene Einsamkeit. So wachsen sowohl die Isolation als auch das Schutzbedürfnis. Die Mauern führen zu weiteren Mauern und bald schon zu Wachtürmen. Alexis de Tocqueville sah in der gesellschaftlichen Vereinzelung den Nährboden des Despotismus. Aus der disparaten Vielheit ertönt der Ruf nach dem Tyrannen. In der Zerstreuung keimt das Bedürfnis nach Verschmelzung und Unterwerfung. Im Westen sind wir jetzt an diesem Punkt angekommen: Unsere Einsamkeitsgesellschaften rufen ein derart starkes Gefühl der Unsicherheit hervor, dass die Institutionen und Prinzipien der liberalen Demokratie uns wie Hindernisse erscheinen, die beseitigt werden müssen, damit wir endlich beschützt werden können.

Ein leitender Angestellter und ein Arbeiter gehörten früher ein und derselben Gewerkschaft, Partei oder Kirche an. Ihre gesellschaftliche oder physische Distanz wurde durch diese politische, ideologische oder religiöse Nähe kompensiert — oder durch die gemeinsame Erfahrung des Wehrdiensts. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wir sind alle allein, aber in unserer Isolation gleichen wir einander nicht. Das Teilen der Einsamkeit erzeugt keinerlei Logik der Identifikation, da nichts ungleicher ist als unsere Beziehung zur Einsamkeit. Wenn wir alle jene tür- und fensterlosen Monaden (Atome) sind, die Leibniz in seiner Monadologie beschreibt, dann erleben wir die Individualisierung der Existenz nicht auf die gleiche Weise.

Lebt man, wie ich, im 11. Pariser Arrondissement und verfügt über das finanzielle und kulturelle Kapital, um nach New York, Mailand oder Berlin zu reisen und sich hier wie dort zu Hause zu fühlen, dann ist die Einsamkeit eine Form der Freiheit. Dass man keiner Partei, Kirche oder Gewerkschaft mehr angehört, kann in diesem Fall als »Emanzipation« aufgefasst werden. Lebt man aber in einer mittelgroßen Stadt in der Lorraine, in der eine öffentliche Einrichtung nach der anderen geschlossen wird und die von Paris unendlich weit entfernt scheint, wird diese Art der »Freiheit« zur Knechtschaft und die angebliche »Emanzipation« zur Entfremdung. Je nach gesellschaftlichem, kulturellem und geografischem Standpunkt bedeuten die Schlüsselwörter unserer Epoche nicht das Gleiche.

Auf der Terrasse des McDonald’s Dury Drive habe ich einmal mit Menschen meines Alters diskutiert, die überzeugt waren, nicht im selben Land zu leben wie ich. Dabei kam ich nicht um die Frage herum, ob unser Konglomerat aus »Ichs« zusammen ein Volk bildet — jenseits der sportlichen Erfolge, etwa der Fußball-Weltmeisterschaft 2018, und jenseits nationaler Tragödien, etwa den Anschlägen des Jahres 2015. Leibniz musste sich auf eine göttliche Instanz berufen, um seine Monaden zusammenzuhalten und eine Welt aus der Vielheit hervorzubringen. Eine solche Hypothese kann allerdings nicht mehr Axiom heutiger Überlegungen sein, auch nicht in Form der »unsichtbaren Hand der Märkte«. Der 15. Juli 2018 (der WM-Sieg der französischen Fußball-Nationalmannschaft) und der 11. Januar 2015 (die frankreichweiten Demonstrationen im Anschluss an die islamistischen Terroranschläge im Januar) waren vergängliche Augenblicke des Zusammenwachsens. Am nächsten Tag schon waren wir wieder allein und voller Misstrauen gegenüber unseren Nächsten. Wie konnte es dazu kommen? Warum gelten für Lucs Kinder nicht mehr die kollektiven Perspektiven, die noch das Leben ihres Vaters geprägt haben?

Es war einmal die Revolution

Die Geschichte wird nicht von Göttern geschrieben. Sie kennt auch keine unfehlbaren, immanenten Gesetze. Der gesellschaftliche Zerfall ist zum großen Teil die Folge wissenschaftlicher Entdeckungen, technischer Innovationen und wirtschaftlicher Veränderungen, auf die wir wenig Einfluss haben und die wir nicht mehr zu verstehen versuchen, weil sie uns so komplex erscheinen. Diese abstrakten Prozesse begegnen uns unter dem Begriff »Globalisierung« oder »Fortschritt«. Sie formen das, was Machiavelli fortuna nannte: das, was nicht von uns abhängt; jene externen Faktoren, die das Leben im Staat beeinflussen und dessen Autonomie untergraben. Der politische Körper ist dem Gesetz des Zufalls unterworfen und verliert die Kontrolle über sich selbst, seine Fähigkeit, Ursachen zu analysieren und seine Entscheidungsmacht. Unser Schicksal wird damit entweder zufällig oder zu einem den Menschen von den antiken Göttern auferlegten fatum. Letztlich ist beides dasselbe.

Doch die Gesellschaft der Einsamkeit, in der wir heute leben, ist auch das Ergebnis einer Reihe soziokultureller Kämpfe und klar identifizierbarer politischer Entscheidungen. Die gegenwärtige Wüste ist das Ergebnis des Zusammentreffens erlittener Entwicklungen und gewollter Veränderungen. Ideologische Kämpfe stehen genauso an ihrem Ursprung wie technische oder wirtschaftliche Veränderungen. Intellektuelle wie Milton Friedman oder Friedrich August von Hayek haben ein Menschen- und Weltbild geprägt, das von den gewählten Regierungen in die Praxis umgesetzt wurde. In Wirklichkeit gibt es in öffentlichen Angelegenheiten kein fatum. Margaret Thatchers berühmtes Diktum, es gebe keine Alternative, verlieh ihrem Programm der Deregulierung den Anschein der Unausweichlichkeit, obwohl es sich dabei um eine performative Aussage und nicht um eine wissenschaftliche Feststellung handelte. Andere Wege waren und sind möglich. Man kann sie für gefährlich und Friedmans oder Hayeks Ideen für außergewöhnlich halten, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir uns in einer Entscheidungslogik befinden: Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde von Männern und Frauen eine Entscheidung getroffen. Eine revolutionäre Entscheidung.

Die eiserne Lady scheute sich nicht, auf die globale, fast metaphysische Ausrichtung ihrer Reformen hinzuweisen. 1981 erklärte sie in der Sunday Times: »Die Politik der letzten 30 Jahre war stets und vollständig auf ein kollektivistisches Gesellschaftsmodell hin orientiert. Das irritiert mich in höchstem Maße. Am Ende haben die Menschen vergessen, dass einzig die Individuen zählen. Das Mittel, um diese Weltsicht zu ändern, ist die Wirtschaft. … Die Wirtschaft ist die Methode; das Ziel ist die Veränderung der Herzen und Seelen.«

Die liberalen Theoretiker warfen der Linken traditionell vor, normatives Denken zu produzieren und vom idealen statt vom realen Menschen auszugehen. Dabei hat der Neoliberalismus genau das getan. Ausgehend von einem rein intellektuellen Konstrukt wurde ein neuer Mensch entworfen, grundsätzlich »frei« im Sinne der Ungebundenheit, des Abgeschnittenseins von Allem. Das Sein-Sollen brachte das Sein hervor. Wie in jeder Revolution.*1

Wenn Margaret Thatcher die Wirtschaft zur »Methode« erklärt, ist »Methode« dezidiert im allgemeinphilosophischen Sinn zu verstehen. Die Wirtschaft bildet den Ausgangs- und Zielpunkt der angestrebten politischen und gesellschaftlichen Veränderung. Sie wird hier nicht als einfache Wissenschaft begriffen, sondern als die Wissenschaft vom Menschen schlechthin, die alle anderen Disziplinen beherrscht und umfasst — als eine Art Metaphysik. Damit ist sie heute genau das, was die Liberalen des 17. und 18. Jahrhunderts ablehnten. Es mag für unsere Ohren seltsam klingen, aber der individualistische Big Bang der 1980er-Jahre, der Siegeszug des allmächtigen Geldes und die Zersplitterung der Gesellschaft entspringen einer Art Idealismus. Am Beginn stand der Wille, ein wirklich freies Individuum zu erschaffen, einen Kontrapunkt zur kollektivistischen Schreckensherrschaft der Nazis und Kommunisten, gegen die sich die Lehren Friedmans und Hayeks richteten.

Die Wirtschaftswissenschaft hat diesem neuen Menschen einen Namen gegeben, mit dem sie zugleich sich selbst als universellen Horizont einsetzte: homo oeconomicus. Der Begriff reduziert das Individuum allein auf die Suche nach der Maximierung seiner persönlichen Interessen. Von einer einfachen mikroökonomischen Hypothese zur Entschlüsselung der Funktionsweise des Marktes geriet er zum Prinzip einer generellen Umwandlung der Welt. Wie in jeder wirksamen, praktischen Ideologie ist der Grundgedanke einfach: Weil der Mensch von Natur aus egoistisch und egozentrisch sei, müsse der Staat jene Organisationsform annehmen, die dieser Natur am ehesten entspreche. Logischerweise bietet diese Organisationsform den geringsten öffentlichen Raum, weil dieser für den Menschen Verpflichtungen bedeute und ihn seiner selbst enthebe, ihn denaturiere. Den größten Raum bietet sie dem Markt, der sie bereichere und ihr ermögliche, ihre wahre Natur auszuleben. Anders gesagt: Man müsse die Gesellschaft konstruieren, die der egoistischen Natur des Menschen entspricht: eine individualistische Gesellschaft.*2

Die menschliche Natur, auf die hier rekurriert wird, ist ein Idealtypus — ein philosophisches Märchen, nicht mehr und nicht weniger realistisch als die Geschichte von Adam und Eva. Die Darstellung des Menschen als von Natur aus altruistisch, egoistisch, kollektivistisch oder individualistisch sagt mehr über den, der sich so äußert, und über dessen Absichten aus, als über eine tatsächliche Natur des Menschen, die als bloße Behauptung nicht verifizierbar ist und stets ein Kindermärchen bleibt. Der Ausgangspunkt hängt vom Zielpunkt ab; im Anfang drückt sich das angestrebte Ende aus. Ein kohärentes, scheinbar fehlerloses ideologisches System muss man stets von diesem Ende her analysieren und die Schlussfolgerung betrachten, um die Einführung zu verstehen.

So machten es alle Philosophen, deren Staatstheorien auf der menschlichen Naturvon Natur aus denaturiertGesellschaftsvertrag