Gøhril Gabrielsen

Die Einsamkeit der Seevögel

Roman

Aus dem Norwegischen von Hanna Granz

Insel Verlag

1

Hier ist das Ende der Welt. Danach kommt nichts mehr. Ein endloses Meer grenzt an Klippen und Berge, zwei Extreme, die unaufhörlich miteinander ringen, bei ruhigem Wetter wie bei Sturm.

Leichter Schneefall verwischt die Grenze zwischen Himmel und Erde. Um nicht versehentlich über die Kante zu rutschen, stelle ich das Schneemobil samt Anhänger direkt neben einem Felsblock ab. Er ragt groß und schwarz aus der weißen Landschaft und ist hoffentlich auch bei dichter werdendem Schnee leicht wiederzufinden.

Zum Rande des Abgrunds hin fällt der Berg sanft ab. Ich schnalle die Schneeschuhe fest, rücke die Stirnlampe zurecht und richte den Lichtstrahl auf jeden meiner Schritte ins Halbdunkel. Der Wind bläst mir ins Gesicht, und nach ein paar Metern ertappe ich mich dabei, das Lärmen und Rütteln des Schneemobils zu vermissen, das Unvorhersehbare der Natur um mich herum wird mir bewusst; eine jähe Sturmbö, Schneegestöber, zunehmende Kälte. Von einem Vorsprung fünf Meter von der Kante entfernt und direkt neben einer Kluft, die in den Berg hineinschneidet, fällt mein Blick auf einen Felsen, der steil und verwittert aus dem Meer aufragt. Ich kann die charakteristischen Schieferschichten erkennen, schräg stehende Felsregale und Absätze, die sich dicht an dicht über die gesamte Wand hinziehen, und trete einen Schritt näher, beuge mich vor. Tief unten bricht sich das Meer, grauschwarz und in schwerer Dünung. Das Dröhnen ist ohrenbetäubend, konstant; selbst als ich die Hände an meine Ledermütze lege und sie auf meine Ohren presse, dringt der Lärm pulsierend an mein Trommelfell.

Der Fels wirkt leer und verlassen, aber ich weiß, dass sich in den Spalten Eissturmvögel, eine Unterart der Röhrennasen, verbergen können – dass sie sich im Herbst satt fressen, um hier zu überwintern. Ich weiß auch, dass an dieser Stelle im Mai ein gewaltiger Lärm sein wird, von den Schreien Tausender Möwen, Kormorane, Tordalken, Gryllteisten und Trottellummen, und ich weiß, dass ich hier irgendwo über Monate hinweg Temperatur, Luftdruck und Windstärke messen werde, während ich darauf warte, dass die Seevögel vom Meer in die Kolonien an Land kommen.

Ich blicke auf, mustere die Wolkendecke, die tanzenden Schneeflocken, die mir in Wange und Nase stechen. Es ist teilweise bedeckt – oder zu fünf Achteln bewölkt. Das bedeutet einigermaßen freie Sicht und damit Hoffnung auf Kontakt. Ich hole das Satellitentelefon aus der Innentasche meines Anoraks, richte die Antenne zum Himmel und warte auf ein Signal. Als sich minutenlang nichts tut, bewege ich mich ein Stück weiter. Versuche es noch einmal, halte das Telefon senkrecht, suche, suche erneut. So geht es eine Weile, das Telefon hoch in der Luft, laufe ich hin und her, bis zwei Striche auf dem Display erscheinen. Ich ziehe mir die Handschuhe aus, bleibe so still wie möglich stehen und schreibe eine Nachricht: Bin angekommen. Die Loipe zum Vogelberg ist gespurt. Wetterstation und Niederschlagsmesser werden morgen fertig. Alles o.k. Kuss. Ich drücke auf senden, mein Daumen ist steif vor Kälte. Die Nachricht verschwindet. Ich sehe die Wörter vor mir: Zerstückelt, in unkenntliche Ziffern und Zeichen zerlegt, steigen sie zwischen den Schneeflocken auf, gleiten durch eine Wolkenlücke und weiter in den Satellitenhimmel, finden ihren Stern, der die Nachricht mit einem Blinken wieder zur Erde sendet. Vollkommen leserlich und verständlich für Jo.

2

Die Schneeleitstäbe, die ich beim Spuren der Loipe eingeschlagen habe, reflektieren das Scheinwerferlicht des Schneemobils und markieren den Weg bergab wie leuchtende Laternen. Die Rückfahrt zur Landenge verläuft unproblematisch, bereits nach einer halben Stunde bin ich angelangt. Am Strand unterhalb der Hütte lagern Proviant, Gas, Benzin und diverse Ausrüstungsgegenstände auf Paletten, abgeladen von dem Kapitän, der mich hierhergebracht und sich mit einem kurzen Nicken verabschiedet hat, gestern am späten Abend. Der Mann redet nicht viel, aber die Vereinbarung ist klar. Alle fünf Wochen wird er mit neuen Vorräten kommen, das nächste Mal am achten Februar.

Mit dem Verschwinden der Bootslichter in der Dunkelheit hinter der Landspitze wurde meine Isolation vom Rest der Welt zur unleugbaren Tatsache. Der nächste Ort ist gut hundert Kilometer entfernt. Im Sommer bräuchte man zu Fuß drei bis vier Tage dorthin, im Winter wäre es, zumindest während der Polarnacht, geradezu unverantwortlich, sich durch das unerschlossene, unwegsame Gelände zu wagen. Sollte ich aus irgendeinem Grund hier wegwollen, wäre der Seeweg die einzige Möglichkeit. Doch die Entfernung macht mir nichts aus. Meine Freude darüber, endlich mit der Arbeit beginnen zu können, und, ja, auch darüber, endlich hier zu sein, siebzig Grad, achtundfünfzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden Nord, ist schlicht und einfach größer als die Distanz zwischen dieser Halbinsel und den Menschen, die in den dünn besiedelten Fjorden ringsumher leben.

Im Süden färbt sich der Himmel gelb und rot. Die Sonne kommt wieder, schrittweise werden die Abende länger und die Morgen heller, bis Ende April die Tage miteinander verschmelzen. Der Gedanke richtet mich auf. Im Einklang mit der mich umgebenden Natur werde ich mich entfalten, regelrecht aufblühen.

Im Schnee sind meine Spuren vom Strand bis zur Hütte zu sehen, ich folge ihnen zurück zu den Paletten, hebe die Plastikplane an, streiche mit der Hand über ein paar Kisten. Jähe kleine Wellen schwappen im seichten Wasser, ziehen und zerren am Blasentang zwischen den Steinen. Das Rascheln, ein nasses Geräusch: Ich richte mich auf, spüre, wie die Luft meine Lunge füllt, roh und eiskalt. Worauf warte ich noch? Es wird Zeit, zu beginnen.

Ich habe alles sorgfältig geplant. Wie ich im Einzelnen vorgehen werde. Als Erstes packe ich die Vorräte aus, belade den Anhänger und fahre so oft zwischen Schuppen und Strand hin und her, bis die Paletten leergeräumt sind. Dann verstaue ich den Proviant und die Gerätschaften in den Regalen, bevor ich die Kisten mit den Messinstrumenten auspacke. Sobald alles installiert und an seinem Platz ist, werde ich den alltäglichen Aufgaben nachgehen: das Schneemobil warten, Brennholz reintragen, das Benzin in den Stromaggregaten nachfüllen, Schnee schaufeln und alles in Ordnung halten, nicht zuletzt die Stunden, den Tag, mich selbst. Ich werde mir die anfallenden Arbeiten einteilen, eins nach dem anderen erledigen, das gibt mir eine Struktur, an die ich mich unbedingt halten muss, in einem Alltag ohne andere Verpflichtungen als die, die meteorologischen Daten einzutragen, die Wetterstation und den Niederschlagsmesser zu beaufsichtigen – bis die Seevögel an Land kommen. Das dauert noch etwa drei bis vier Monate. Doch bevor es so weit ist, werden wir uns hier in ein paar Wochen schon zu zweit um alles kümmern.

Der Schnee liegt in hohen Verwehungen um Hütte und Schuppen; gestern Abend musste ich mir einen Weg zur Tür freischaufeln, doch es war nicht übermäßig viel, schon bald konnte ich den Schlüssel ins Schloss stecken und hineingehen. Ein bläulicher Schimmer liegt über der Landschaft, und solange die Dämmerung am hellsten ist, vertiefe und verbreitere ich den Zugang. Als ich damit fertig bin, grabe ich einen Weg zum Schuppen und schaufele auch dort den Eingangsbereich frei. Der Schuppen ist das Einzige, was von den zwei, drei Familien, die hier im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert gelebt haben, geblieben ist. Während der Erkundungstour im vergangenen Frühjahr wurde mir erklärt, dass der Ort nur kurz besiedelt war, aber im Laufe der Jahre immer wieder von Pächtern zu Jagd- oder Fischereizwecken genutzt worden sei. Ich ziehe einen Handschuh aus, fahre mit den Fingern über die Außenwand. Die Bohlen sind rissig und aufgeraut von Wind und Wetter. Die Tür des Schuppens ist mit einem rostigen Haken verriegelt, der leicht herausspringt, dennoch muss ich mich mit dem ganzen Körper dagegenlehnen und drücken, bis sie mit einem scharfen Knirschen nachgibt. Ich gehe hinein und stelle meine Stirnlampe heller. Der Lichtkegel schneidet grell in die Dunkelheit, fällt auf ein einfaches Regal an der Längsseite und Stapel von Brennholz an der Querseite. Ganz hinten befinden sich zwei Stallboxen, die wahrscheinlich einmal für Kühe und Schafe vorgesehen waren, und in einer Ecke stehen ein Schleifstein, eine Axt und eine Mistgabel. Ich lasse den Lichtstrahl der Stirnlampe über die Spuren des vergangenen Alltags wandern, über die Macken und Kratzer im Werkzeug, die Abnutzungen an den Holzbalken der Boxen, und stelle fest, dass der Schuppen größtenteils leer ist und ich meine Sachen hier verstauen kann.

Die L-förmige Hütte mit der schmalen Außentoilette neben dem Eingangsbereich ist auf einem ehemaligen Bootshaus errichtet worden, teilweise aus wiederverwendetem Material der Häuser, die hier früher gestanden haben. Sie ist solide gebaut, aber sehr schlicht und vom Alter gezeichnet. Der Küchenbereich besteht aus einem einfachen Waschbecken und einer grob gezimmerten Anrichte, die mit zerschlissenem Wachstuch ausgelegt ist, und auf der anderen Seite, unter dem langgezogenen Fenster, steht ein Gasherd neueren Datums neben einem wackligen Beistelltisch. Der Wohnbereich ist geräumig, aber sparsam eingerichtet: zwei Schaukelstühle am Holzofen, ein paar Regale, dazwischen ein Gewehr an der Wand, und am Fenster mit Blick auf den Fjord steht ein einfacher Holztisch, groß genug, um daran sowohl zu essen als auch zu arbeiten. Der Verschlag, der als Schlafzimmer dient, ist schmal und nur durch einen Vorhang vom Wohnraum abgetrennt, doch ein Fenster zur Ebene und auf die Landenge hinaus entschädigt für die räumliche Enge. Der Pächter hat die Absprachen genau eingehalten, die Zimmer sind sauber und aufgeräumt, in den Betten liegen neue Matratzen und die alte Küchenausstattung ist um ein paar Töpfe, Gläser und Besteck ergänzt worden.

In den ersten Stunden, im Schein einer Petroleumlampe und bei der schwachen Wärme des Ofens fiel es mir schwer, mir hier drinnen einen Arbeitsalltag vorzustellen, doch am Morgen, im Licht zweier Wandleuchten und mit surrendem Stromaggregat im Hintergrund, sah ich wieder vor mir, wovon ich so lange geträumt hatte: Uns beide, Jo und mich, zusammen in dieser Hütte, er in das Schreiben eines Artikels vertieft, ich über meine Forschungsarbeit gebeugt. Wie wir kurz aufsehen, unsere Blicke sich kreuzen und wir uns die Entscheidung, die wir getroffen haben, verzeihen.

Die Wolkendecke verdichtet sich. Das blaue Dämmerlicht weicht einer umfassenden Finsternis, schon bald ist kein Stern mehr zu sehen. Ich stelle den Spaten ab, klopfe mir den Schnee von den Hosenbeinen. Es ist halb zwei. Der erste Arbeitstag ist zu Ende. Ich gehe in die Hütte, setze mich auf den Stuhl vor dem Ofen, blase in die Glut, lege ein paar Scheite nach. Aus alter Gewohnheit nehme ich das Telefon aus dem Regal, werfe einen Blick auf das Display. Wie ich es mir gedacht habe. Keine Verbindung. Ich lege das Telefon zurück. Ich hätte ihn ohnehin nicht angerufen. Mit dem Strom gilt es sparsam umzugehen, und die Kommunikation über Satellit ist teuer. Die Abmachung ist klar. Nachdem ich ihm per SMS mitgeteilt habe, dass ich angekommen bin, skypen wir am dritten Tag um sechs Uhr, um anschließend abwechselnd zu telefonieren und zu skypen, immer zur selben Zeit an den ungeraden Tagen – soweit der Schnee es zulässt, wohlgemerkt. Das ist meine Sicherheit. Wenn ich nicht antworte oder keinen Kontakt mit ihm aufnehme, liegt es entweder an den Wetterverhältnissen oder daran, dass mir etwas zugestoßen ist.

Ich schlafe ein und wache eine Stunde später wieder auf, verwirrt und in völliger Dunkelheit. Noch nicht ganz da, starre ich unverwandt die Ofentür und den Lichtschein aus dem Abzugsventil an, zugleich sehe ich mich von außen, ich werde immer kleiner und kleiner, je mehr ich mir der riesigen Entfernung zwischen mir und denen, die ich zurückgelassen habe, bewusst werde.

3

Sechster Januar. Eiskalte Luft zieht vom Fenster über dem Bett herein. Reflexartig hebe ich die Gardine an und schaue nach draußen. Dort ist natürlich nicht viel zu sehen; an einem Tag so früh im Januar steht die Sonne mehr als zwölf Grad unter dem Horizont. Ich spüre einen Moment lang dem Kontrast zwischen der Kälte an meiner Nase und der behaglichen Wärme unter der Decke nach, dann schwinge ich die Beine über die Bettkante und stelle meine Füße auf den eiskalten Boden. So bleibe ich ein paar Minuten sitzen, den Blick nach oben gerichtet, und versuche eine Einschätzung: Temperatur minus drei, vier Grad. Kein Niederschlag. Leichter Wind aus Südost.

Beim Anziehen muss ich lächeln, ich bin mir sicher, dass das Thermometer und der einfache Windmesser gleich neben der Tür meine Vermutungen bestätigen werden.

Die Ebene ist in Dunkelheit gehüllt, doch im Schein des zunehmenden Mondes kann ich die Wellen erkennen, die mit schaumweißen Spitzen im flachen Wasser heranrollen, die Steine am Strand umspülen und sich dann mit einem bleichen, metallischen Schimmern zurückziehen. Ich befestige den Anhänger am Schneemobil, lege den Mast für die automatische Wetterstation hinein und anschließend die Messausrüstung, Spannseile sowie den Datenlogger und zum Schluss die Gefäße für den Niederschlagsmesser und die Frostschutzmittelmischung, Schneeschuhe, einen Spaten und Schaufeln, einen Kanister Benzin. Bevor ich die Plane festzurre, prüfe ich noch einmal, ob die Ausrüstung gut verstaut ist. Ich möchte auf keinen Fall riskieren, dass sie in einer steilen Kurve, durch Schlaglöcher oder Unebenheiten im Boden beschädigt wird. Ich überprüfe auch, ob der Notrufsender, Getränke und Proviant leicht zugänglich in der Gepäckbox unter dem Fahrersitz liegen, und als letzte Sicherheitsvorkehrung streiche ich mir mit den Händen über die Innentaschen, um mich zu vergewissern, dass das Satellitentelefon, GPS und Ersatzbatterien für die Stirnlampe an ihrem Platz sind. Vorbereitung und Vorsicht ist mein Mantra für diese Tour und für meinen Aufenthalt insgesamt. Und nachdem ich alle Verhaltensregeln durchgegangen bin, fühle ich mich für meine vielleicht wichtigste Fahrt zum Vogelfelsen gerüstet. Ich werfe einen kurzen Blick zum Himmel. Er ist zu sechs Achteln bewölkt, für Schneeschauer gibt es aber keine Anzeichen. Die Sicht ist klar. Ich kann fahren und auf das vertrauen, was ich sehe.

Große Teile der Loipe sind vom Wind zugeweht, der unablässig über das Plateau fegt. Ich orientiere mich an den Leitstäben, fahre mit gleichbleibender Geschwindigkeit, muss jedoch beschleunigen, wenn es über losen Schnee und Verwehungen geht, und bergauf muss ich mehrmals aufstehen und der Maschine extra Schwung geben, damit sie greift und wir nicht wieder hinabrutschen. Endlich auf dem Plateau angekommen, schießen die Scheinwerfer und das Licht meiner Stirnlampe in die Landschaft, mal in verschiedene Richtungen, dann wieder kreuzen sie sich beinahe und bestätigen, wie unendlich weit und einsam es hier draußen ist. Ich vermeide es, den Lichtkegeln zu folgen und mich umzuschauen, konzentriere mich ganz auf die reflektierenden Stäbe, eine Andeutung meiner Spur vom Vortag, bis ich die Felsblöcke wiedererkenne und endlich anhalten und den Motor ausschalten kann. Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter. Mein Gesicht ist starr vor Kälte. Ich kann nicht anders, öffne den Reißverschluss meines Overalls, ziehe die Handschuhe aus und presse die Hände an Wangen, Stirn und Nase. Spüre sekundenlang die brennende Wärme meiner Handflächen auf der Haut, den eiskalten Windstoß durch meinen Wollpullover über Bauch, Schultern, Brüste.

Den automatischen Niederschlagsmesser sowie die Spannseile der Wetterstation haben wir bereits bei der Erkundungstour im letzten Frühjahr montiert, die Platzierung sorgfältig berechnet. Jetzt muss ich den Punkt per GPS wiederfinden und die Installationen der Geräte abschließen, dann wird sich mit der Zeit herausstellen, ob dieser Standort für die Messung von Niederschlag, Temperatur, Luftdruck, Luftfeuchtigkeit und Wind tatsächlich optimal geeignet ist. Die vielleicht wichtigste Variable, die Meerestemperatur, wird per Satellit auf meinen Computer übertragen, und zwar von einer Boje aus, die unmittelbar vor mir im Wasser verankert ist.

Die charakteristischen Landmarken, die ich mir bei der Tour im Frühjahr eingeprägt habe – ein Abhang, ein Höhenzug –, sind in den Schneeverwehungen, die sich über der windgepeitschten Landschaft gebildet haben, verschwunden. Ich tippe die Koordinaten ein, und während ich den Punkt anvisiere, den das GPS mir gibt, überkommt mich tiefe Zufriedenheit. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, ist klar und konkret, ich muss mich nur auf Fakten konzentrieren. Diagramme, steigende und fallende Säulen, Einheiten, Mengenangaben, gemessen in Hektopascal, in Metern pro Sekunde, Prozent und Grad Celsius. Die klare und messbare Sprache der Phänomene – das ist es, was ich brauche. Eine Sprache, die unerschütterliche Tatsachen schafft, keine stummen, vagen Ahnungen. Einen Wind, der sich in Stundenkilometern messen lässt, kann ich analysieren und bis zu einem gewissen Punkt verstehen, im Gegensatz zu Gefühlen, die sich jeglicher objektiven Messbarkeit entziehen.

Ich gehe in einigem Abstand an der Kluft vorbei und dann weiter über einen breiten Felsrücken, der sich bis zu den verwitterten Klippen erstreckt. Hier, auf dem höchsten Punkt, schlägt der Wind mächtig zu, er fegt mir so hart ins Gesicht, dass ich nach Luft schnappe. Ich trete auf verharschten Schnee, bewege mich in meinen Schneeschuhen Schritt für Schritt über das Plateau in Richtung des Südhangs. Es ist nicht weit, doch ich muss mehrfach anhalten und mich umsehen, bis das GPS mir anzeigt, dass ich die richtige Stelle gefunden habe. Ein oder zwei Sekunden lang fehlt mir die Orientierung. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, überall ist nur Schnee und Himmel und Meer, aber als ich die Hand an die Stirn lege und ins Weiße starre, sehe ich den Windschutz des Niederschlagsmessers gleichsam über den Schneeverwehungen schweben.

Im Norden ist der Horizont eine langgezogene Wölbung ohne Anfang und Ende, und während das Meer sanft zwischen fernen Kontinenten und den Vogelklippen wogt, grabe ich die Befestigungspunkte der Wetterstation aus, spanne die Masten mit den Seilen fest, schließe die Sensoren und die Batterie an, um dann den Schnee zu entfernen, der sich auf den Niederschlagsmesser gelegt hat, und den Messbecher mit dem Frostschutzmittel anzubringen. Es ist harte Arbeit, doch am Ende ist alles montiert und mit dem Computer verbunden, und zwar an genau der Stelle, die mir der Satellit angegeben hat, die aber ich berechnet habe. Der Anblick ist überwältigend. Hier sind wir. Ich und die Elemente in der Welt. Vereint.

Viele Jahre habe ich darauf gewartet, meine Doktorarbeit fertig zu schreiben und zum Dr. phil. Nat. promoviert zu werden. Alles ohne Unterstützung durch einen Doktorvater oder ein Graduiertenkolleg, sondern auf eigene Faust. Ich habe jeden Arbeitsschritt selbst geplant und durchgeführt, sämtliche bisherigen Ergebnisse alleine erarbeitet. Die Freiheit, die ich genieße, ist enorm, die Verantwortung allerdings auch. Meine Forschungstätigkeit, die Feldarbeit hier, wird von verschiedenen Stiftungen finanziert. Ich bin überzeugt, dass ich mit meinen wissenschaftlichen Ergebnissen, wenn ich sie mit Datenserien von vor zwanzig, dreißig Jahren vergleiche, Zusammenhänge nachweisen kann, die bisher noch nicht ausreichend dokumentiert worden sind. Genauer gesagt: Meine Studie wird einen wichtigen Beitrag zum Verständnis dessen liefern, wie sich atmosphärische Verhältnisse auf die Wanderung der Seevögel in die Kolonien auswirken sowie auf den Zeitpunkt ihres Brutstarts, und darüber hinaus dessen, welche negativen Auswirkungen der Klimawandel auf die Seevogelbestände hat. Die Dreizehenmöwe zum Beispiel steht auf der Roten Liste und gilt als stark gefährdet. Ihr Brutbestand hat sich über die Jahrzehnte um achtzig bis neunzig Prozent verringert, und wenn man die schwindende Population der Seevögel als Indikator für die Größe der Nahrungsbestände im Meer nimmt, ist dieser Niedergang besorgniserregend. Das ist der Grund, weshalb ich hier bin, in der Nähe der Vogelklippen, auf diesem nördlichen, äußersten Zipfel des Festlands, mitten im Winter, ganz allein. Deshalb bin ich aufgebrochen und habe für die kommenden Monate alles andere zurückgelassen, weil die Kartierung der meteorologischen Parameter über einen längeren Zeitraum von wesentlicher Bedeutung ist. Ich habe mir das jetzt so oft gesagt, dass ich tatsächlich daran glaube.

Wieder an der Hütte angelangt, bleibe ich auf dem Schneemobil sitzen, während ich mit klammen Fingern die Innentasche öffne und zum dritten Mal an diesem Tag das Satellitentelefon checke. Endlich. Eine Antwort von Jo. Aber auch eine Nachricht von S. Ich öffne Jos: Schön, dass Du angekommen bist und alles okay ist. Sehen uns morgen beim Skypen. Kuss. Ich lese die Nachricht mehrmals, dann stecke ich das Telefon wieder ein. Ich bin noch nicht bereit, die andere zu lesen. Ich muss mich erst rüsten. Mich unangreifbar machen. Stark.

Einen Moment bleibe ich so sitzen, lausche den Wellen, ihrem Plätschern am Ufer, dem vom Meer unaufhörlich hereinkommenden Wind, aber auch der Stille im dichten Schnee ringsumher. Erinnere mich an die Geräusche hier im Frühjahr. Das Rascheln des Grases im Wind, der über die Ebene strich, das Zittern der Büsche und Sträucher, als ich dem Gesang eines Blaukehlchens neben einem Felsen folgte. Ich ging ganz nah heran, und es zwitscherte ungerührt weiter, wippte mit dem Schwanz, warnte mich mit einem scharfen tack, tack, tack, gefolgt von einem weichen tuit, tuit, tuit. Als ich so nah war, dass ich nach ihm hätte greifen, es anfassen können, flog es auf und flatterte um meinen Kopf herum, immer im Kreis. Es versetzt mir einen Stich, wenn ich daran denke. Wie mutig dieser kleine Vogel war. Sein Nest, die Eier waren wahrscheinlich ganz in der Nähe.

Es ist kurz vor eins. Ich gehe hinein, schlüpfe aus dem Oberteil meines Overalls und lasse es um meine Taille baumeln, während ich an der Anrichte eine Apfelsine esse. Anschließend ziehe ich mich wieder an, gehe hinaus, ziehe die Stirnlampe über die Ledermütze und schnalle mir die Schneeschuhe an. Mit Hilfe der Stöcke stiefele ich über Schneewehen und scharf verharschte Kanten, bis ich oben auf dem Berg hinter der Hütte angekommen bin. Von hier aus kann ich in der blauvioletten Dämmerung und im Lichtschein des Mondes erkennen, wie sich der Fjord beidseits der Halbinsel ins Land erstreckt. Die Landschaft ist rau, nackt und vom Wind gezeichnet. Kein Baum, kein Gebüsch ist zu sehen. Die Ebene selbst ist von Bergkuppen und Hügeln umgeben, die die härtesten Windstöße abhalten, vor allem jetzt, im Winter. Hütte und Schuppen dagegen liegen ungeschützter, am äußersten Ende und direkt am Fjord, dafür mit freiem Blick nach allen Seiten.

Wie ich so dastehe, erkenne ich die Nuancen in der Landschaft immer besser; die Vertiefungen im Schnee, Senken, angedeutete Schatten; schwach zeichnen sich die viereckigen Grundrisse der Häuser ab, die hier einmal gestanden haben. Mich überkommt Ruhe, eine Art Geborgenheit, und vielleicht ist genau das der Grund, weshalb ich hier hochgestiegen bin. Um es mit eigenen Augen zu sehen, mich davon zu überzeugen: dass dieser Ort einst von Menschen bewohnt war.

4

Siebter Januar. Meine Erwartungen an das Skype-Gespräch mit Jo später am Abend steigen parallel zur Sorge vor möglicher Wolkenbildung im Laufe des Tages. Mehrmals trete ich vor die Hütte, suche den Himmel nach Anzeichen ab, dass es sich zuziehen könnte. Von meinem Standpunkt aus sieht es vielversprechend aus. Dasselbe gilt für den Wetterbericht, auch wenn er nicht die Gegend hier, sondern die Siedlungen im Inneren des Fjordes abdeckt.

Beobachtung gegen Mittag: Vier Achtel des Himmels sind von hauchdünnen, faserigen Federwolken mit seidenweicher Oberfläche bedeckt.

Beobachtung um zwei: Zwei Achtel sind von Federwolken bedeckt.

Beobachtung um halb sechs: Der matte Umriss des zunehmenden Mondes ist unter dünnen Schleierwolken gut zu erkennen.

Zwischendurch schaufele ich Schnee, verbreitere den Weg von der Hütte zum Schuppen und erweitere den Parkplatz für das Schneemobil. Im selben Maße wie die Sorge vor Wolkenbildung und mangelnder Satellitenverbindung schwindet und die Schneeverwehungen um mich herum weniger werden, nimmt das bevorstehende Gespräch immer mehr Raum in meinen Gedanken ein. Wie es sich wohl entwickeln wird. Oder genauer gesagt: Was ich ihn fragen werde und was er mir antworten wird. Und während ich noch die letzten Ausrüstungsgegenstände aus den Kisten räume und auf die Regale verteile: wie er wohl sein wird, wie er mich ansieht, wenn er mir zuhört und wenn er spricht. Ob er wohl eher zögerlich ist, das Gesicht in den Händen vergräbt, wegsieht oder schweigt? Ach Jo, ich kenne mich genau; ich werde jeden Satz, jede Regung in deinem Gesicht analysieren, auf der Jagd nach dem, was du eigentlich meinst, ob du irgendetwas vor mir verbirgst. So ist es schon immer gewesen. Es ist etwas an ihm, aus dem ich nicht klug werde. Eine innere Spannung, die die Kommunikation zwischen uns auflädt und sich nicht lösen lässt. Warum sollte es heute anders sein?