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Matthias Niklas: „Laut Los Zweifeln“
1. Auflage, Januar 2019, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Autor und Verlag berufen sich darüber hinaus auf die Satirefreiheit.

Cover und Texte: Matthias Niklas
Projektleitung, Satz und Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-119-6
ePub ISBN: 978-3-95996-120-2


„Mein Dank geliebten Menschen –

man kann und darf und will ja nicht an allem zweifeln.“


Matthias Niklas

Laut Los Zweifeln




periplaneta

PROLOG I: Ein Buch entsteht

Eine kurze Geschichte mit Anmerkungen aus dem kleinen Wörterbuch des Verlagswesens mit freundlicher Unterstützung von de.wikipedia.org sowie de.wiktionary.org.

[Anmerkung: Verlagswesen sind Wesen, die in oder im Dunstkreis von Verlagen existieren, wie etwa Lektoren, Herausgeber, Layouter, Kuchenmäzene oder Groupies. Autoren gehören nicht zu den Verlagswesen, sie dienen allerdings gelegentlich als Nahrung oder bieten Anlässe zur Heiterkeit.]

Am Anfang schreibt der Autor ein Buch.

[Anmerkung: Ein Autor ist der Verfasser oder geistige Urheber eines sprachlichen Werkes, das aber auch illustriert sein und zuweilen mehr Bilder als Text enthalten kann. Meist verfassen Autoren im weitesten Sinn „literarische“ Werke, die den Gattungen Epik, Drama und Lyrik oder auch der Fach- und Sachliteratur zugeordnet werden. Autoren sind generell und überhaupt fluffige, sozial engagierte Altruisten, denen Geltungsdrang, Selbstüberschätzung und Narzissmus völlig fremd sind und deren Schaffen alleine von dem Bedürfnis geleitet wird, die Welt zu einem besseren Ort, die Menschen zu besseren Menschen, und besseres x für y zu schaffen, wobei y für eine dem individuellen Autor wichtige Gruppe von Entitäten steht, zum Beispiel Kinder, Tiere, Bäume; spezielle Kinder wie etwa vierjährige Kinder alleinerziehender Väter Mitte dreißig im Prenzlauer Berg, spezielle Tiere wie etwa Nacktmulle, spezielle Bäume wie etwa, keine Ahnung, Birken vielleicht, und x für das, was ihnen fehlt, also etwa bessere Klavierlehrer für vierjährige Kinder alleinerziehender Väter Mitte dreißig im Prenzlauer Berg, bessere Pullis für Nacktmulle, oder besserer, keine Ahnung, Regen für Birken.]

Am Anfang schreibt der Autor ein Buch. Das geht ganz schnell, ohne Selbstkritik, nachträgliche Überarbeitungen oder mehrjährige Pausen, sondern ist üblicherweise locker in zwei bis drei Abenden zu schaffen. Dieses Buch schickt der Autor als Manuskript -

[Anmerkung: Ein Manuskript im Verlagswesen ist ein hand- oder maschinenschriftlicher Beitrag eines Autors, der als Vorlage zur Vervielfältigung dient. Tipps für Autoren zum Verfassen eines Manuskriptes: Handschriftlich ist besser als maschinenschriftlich, Lektoren lieben Herausforderungen und haben so außerdem die Möglichkeit, den Charakter eines Autors von einem Graphologen deuten zu lassen. Sollten sie einen schlechten Charakter haben, ist maschinenschriftlich jedoch sinnvoller, aber Autoren haben, wie wir wissen, generell und überhaupt einen guten Charakter. Falls sie sich doch für maschinenschriftlich entscheiden, so wählen sie eine Schriftart, die handgeschrieben aussieht - Brush Script MT, Comic Sans, Wing Dings - sowie eine Schriftgröße unter 8 oder über 14. Weitaus entscheidender über den Erfolg eines Manuskriptes bei Lektoren sind allerdings sekundäre Charakteristika wie die angemessene Papiersorte - bei einem Werk über das Leiden der Nacktmulle unter der Urbanisierung traditionell braun-graues, faseriges Umweltpapier, sonst bitte chlorgebleicht - und ausreichende Parfümierung. Bedenken sie, dass die Parfümierung mehrere Tage in der Post und mehrere Monate ungelesen auf einem Lektorenschreibtisch Bestand haben muss, bevor sie wahrgenommen wird, und dosieren sie entsprechend. Kleine Aufmerksamkeiten wie Pralinen, Gutscheine oder Bargeld sind ebenfalls nicht verkehrt, schließlich liest endlich mal jemand ihr Buch.]

- an den Verlag.

[Anmerkung: Ein Verlag ist ein Medienunternehmen, das Werke der Literatur, Kunst, Musik, Unterhaltung oder Wissenschaft vervielfältigt und verbreitet. Zu den Dingen, die Verlage nicht verlegen, gehören Fliesen, Teppichböden, Rohre, Netzwerkkabel, Handys, Haustürschlüssel, Termine und militärische Einheiten in Krisengebiete.]

Im Verlag angekommen, wird das Manuskript von einem Lektor mit Sorgfalt und Hingabe gelesen.

[Anmerkung: Verlagslektorinnen und Verlagslektoren bzw. VerlagslektorInnnen bzw. Verlagslektor_innen bzw. Verlagslektor*innen bzw. Verlagslektorixs bzw. Verlagslektorchen (von lateinisch lector ‚Leser‘), meist nur Lektorinnen und Lektoren bzw. LektorInnnen bzw. Lektor_innen bzw. Lektor*innen bzw. Lektorixs bzw. Lektorchen genannt, sind in der Verlagsbranche tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bzw. MitarbeiterInnnen bzw. Mitarbeiter_Innen bzw. Mitarbeiter*innen bzw. Mitarbeitixs bzw. Mitarbeiterlein zur Auswahl, Korrektur und Bewertung von Manuskripten. Zu den Dingen, die Lektoren nicht auswählen, gehören Manuskripte, in denen in übertriebenem Maße gegendert wird. Zu den Dingen, die Lektoren nicht korrigieren, gehören Geltungsdrang, Selbstüberschätzung und Narzissmus von Autoren, es sei denn, die Lektoren haben einen schlechten Tag oder heißen Tom. Zu den Dingen, die Lektoren nicht bewerten, gehört eigentlich nichts, Lektoren bewerten Essen, Mode, die Qualität von Toilettenpapier und die Lebensumstände von Birken, das Sargsortiment von Bestattungsinstituten sowie gelegentlich sogar das eine oder andere Manuskript oder sich selbst.]

Der Lektor liebt das Manuskript und empfiehlt dem Verlag, das Buch herauszugeben.

[Anmerkung: Ein Herausgeber (abgekürzt meistens Hrsg., seltener Hg. oder ed. für edidit bzw. Edd. für ediderunt) ist eine Person oder Personengruppe, die schriftstellerische, publizistische oder wissenschaftliche Texte oder Werke von Autoren und Künstlern zur Publikation vorbereitet. Zu den Dingen, die Herausgeber nicht herausgeben, gehören unter anderem Wechselgeld, die Rechte an einem Text, wenn sie diese erst einmal haben, und Erstgeborene, die sie in einem Tauschhandel erstanden haben.]

Der Verlag folgt der Empfehlung und lädt den Autoren ein, um ihm die freudige Botschaft zu überbringen und den Autorenvertrag zu unterzeichnen.

[Anmerkung: Ein Autorenvertrag wird hier nicht näher erläutert, da ein Teil dieser Erläuterung die Bevölkerung verunsichern könnte.]

Lektor und Autor arbeiten produktiv und konstruktiv zusammen, um das ohnehin schon hervorragende Manuskript noch besser zu machen.

[Anmerkung: Quellenangabe benötigt.]

Das nun hervorragende Manuskript wird dem Layouter übergeben.

[Anmerkung: Layouter, meist als Kinder eines Hurenkindes und eines Schusterjungen geboren, sind Menschen, die ein mit Liebe gestaltetes, handgeschriebenes Manuskript in ein kaltes, seelenloses Massenprodukt verwandeln, dem jede Individualität abgeht, weil sie zwar 2.000 Schriftarten zur Verfügung haben, sich aber schon am Beginn ihrer Karriere für zwei oder drei entschieden haben, die sie immer benutzen. Mit Lektoren (siehe dort) über den endgültigen Text eines Buches zu streiten, ist immer eine lohnenswerte Sache, mit einem Layouter über die endgültige Erscheinungsform zu streiten, eher nicht: Erstens schicken am Ende sie das Buch in die Druckerei, und außerdem sind sie argumentativ totschlagend veranlagt. Beliebt sind etwa Äußerungen wie “das passt nicht ins Corporate Design” oder “das geht nicht, da müsste ich die Laufweite proportional reduzieren, und das produziert an dieser Stelle Sturzbäche”.]

Das fertige, hervorragende Buch wird in Druck gegeben und der Verkauf kann beginnen, unterstützt von ausgeklügeltem Marketing.

[Anmerkung: Marketing ist ein Konzept der ganzheitlichen, marktorientierten Unternehmensführung zur Befriedigung der Bedürfnisse und Erwartungen von Kunden und anderen Interessengruppen. Im Falle eines Buches bedeutet ganzheitlich etwa Braille-Ausgaben für Blinde, Hörbücher für Taube und Autofahrer, E-Books für Menschen mit Papierallergie und Ausgaben in einfachem Deutsch für Kinder und Twilight-Fans. Marktorientiert heißt, das Buch mit dem Cover in Richtung des nächsten Wochenmarktes auszurichten. Unternehmensführung ist das, was die Chefinnen machen, keine Ahnung, worum es da geht. Befriedigung der Bedürfnisse und Erwartungen von Kunden ist der schwerste Teil, weil manche Kunden gar nicht wissen, was ihre Bedürfnisse sind, und erwarten, ganz andere Bedürfnisse befriedigt zu bekommen, als sie in Wirklichkeit haben. So ist Marketing beispielsweise dann ausgeklügelt, wenn jemand in ein Verlagscafé hereinkommt, um ein Bier zu trinken, und am Ende all sein Geld für Bücher ausgibt.]

Wie die meisten Bücher wird auch dieses ein Bestseller.

[Anmerkung: Bestseller ist ein Anglizismus für einen theoretischen Handelsartikel, dessen Absatzvolumen überdurchschnittlich hoch ist. Bestseller sind Sagengestalten aus dem Gründungsmythos des Verlagswesens und noch nie in freier Wildbahn dokumentiert worden; Kryptozoologen vermuten das natürliche Habitat des Bestsellers irgendwo am Ende eines Regenbogens versteckt zwischen dem Rheingold und dem Weltfrieden.]

PROLOG II: Ach Herrje, Calliope

Meine Muse meidet mich.

Früher war’n wir unzertrennlich

und meine Muse wich nicht, wenn ich

rastlos auf leere Blätter starrte.

Stattdessen führte sie beharrlich

meine Finger zu den Tasten,

zu Federkielen, Pinselquasten,

bis reihenweise Zeil’n entstanden,

wir Welten und Weltschmerz erfanden,

gar epischst epochale Epen;

bis wir Novellen in Bände bandten,

deren Stapel sich gen Himmel wandten,

der uns’re einzig Grenze war.

Ja, das waren gold’ne Zeiten.

Damals hing ich prall und satt

am mütterlichen Musenbusen,

trank bittersüße Metrumsmilch

und schiss Gedichte.

Von vollendeter Gestalt –

Manche war’n schlichte,

and’re recht hübsche,

so nette kleine Vershäufchen halt.

Die Bilder war’n reichlich

und freilich auch geistreich,

manch Geistlicher ist bei manchem Gleichnis erbleicht.

Die Verse flossen vor Leichtigkeit,

die Vergleiche erreichten Unvergleichlichkeit,

der Takt sprang elegant in die Höh’,

der Inhalt war schlüssig,

der Rhythmus war flüssig

wie metaphorische Diarrhöe.

Ach, was war ich da noch jung,

doch ich wurde langsam älter

und ich rannte – statt der Kunst –

ständig nur noch hinter Geld her.

Das war, im Nachhinein betrachtet, dumm.

Und noch dazu auch ziemlich schade,

denn nichts kann einem einer Muse Gnade

schneller entringen und madigmachen

als ihr musisches Schaffen zu zwingen

sich mit Anschaffen zu gehen zu verdingen.

Dabei war es anfangs noch höchstes Niveau.

Da war sie noch Callgirl

statt wie später schlicht Hure1

und ich ließ wirklich nicht jeden geizigen Freier

ihre sprich- und wortwörtlichen Reize entschleiern.

Denn das war ja Journalismus

und der Texterguss kam pünktlich

stündlich abgerechnet flossen

seriöse Reportagen,

prätentiöse Kolportagen

und so manche lustig’ Glosse

aus meiner Pinselquastenflosse.

Doch all dies schriftliche Ejakulat,

um das ich sie weniger bat, mehr – drängte,

trieb unsere einst unbeschränkte Beziehung

in die sachzwängliche Enge der Finanzbilanzierung.

Zwar waren all diese Berichterstattungsergüsse

im auktorialen Nobelbordell

nicht ohne triftigen Wahrheitsgehalt, nur –

war’n sie halt kalt, haben keinen ergriffen;

sie waren halt Ware und brachten Gehalt,

und so fing meine Muse recht bald an, zu murren.

Und statt mir wie früher mit sanftestem Schnurren

und glockenhell klarer Stimme Klang

Wörter und Sätze ins Ohr zu raunen

und mir dabei sanft die – Kopfhaut zu kraulen,

raunzte sie nur noch, wenig charmant

und ohne Heben des Blickes, manch’ schickes und leck’res,

doch eben recht trockenes, Zeilengebäck

über den Rand der Zeitung hinweg.

Es kam, wie so oft, nämlich noch schlimmer

und wer oder was auch immer mich ritt,

es war nicht meine Muse,

die mich den abgrundweisenden Schritt

in Richtung Werbung gehen ließ.

Wo Dichtung noch unsterblichen Ruhm verhieß

und Journalismus – theoretisch zumindest – Integrität,

war Marketing dann der Straßen- und Schlussstrich

jedweder Kreativität.

Das hat es mir dann wirklich ganz prächtig

mit meiner Muse verscherzt.

Und sie fühlte sich – nicht ganz unberechtigt –

mächtig in den Arsch gefickt.

Und das hat wohl geschmerzt, denn ihr platzte

wenig entzückt der Kragen.

Sie packte den meinen und ihre zerrissenen Sachen

und hat mich mit einem verbitterten Lachen

in die literarische Wüste geschickt.

Nun meidet meine Muse mich.

Wo früher praller Musenbusen

Blätterblusen stopfte, spannte,

die gebannt auf Tinte harrten,

wartet heute platt und flach

ein kahles Blatt auf kaltem Schreibtischglas.

Wo früher mir fruchtbar Musenschoß

Tag für Tag und Jahr für Jahr

reimeiige Verschen und Ströphchen gebar,

betreib ich heute bloß noch Nabelschau.

Und zähle kleinlaut Nabelflusen.

Meine Muse mag mich nicht mehr.

Ich bin allein, bin Musenwitwer,

kein Musenlachen hallt mehr

von meinen Wänden wider.

Und meine Feder schreibt heut’ weder

Reime noch freudige Lieder nieder.

Und schon gar kein Musenhändchen schwellt mir

meiner lyrisch Lenden Glieder.


1 Zum Madonna-Hure-Komplex heterosexueller Cis-Männer siehe „Die Ziege im Zeichen der Zeit“, S. 146)

Gesellschaft

Zweifel

Ich habe drei Probleme. Um ehrlich zu sein, habe ich sogar mehr als drei, aber als Bühnenautor habe ich genau drei, zumindest der Teil meines Bühnenautorendaseins, der kabarettistische und satirische Texte schreibt, und der Teil ist ziemlich groß.

Problem Nummer eins nennt sich Poe’s Law. Das hat nichts mit Edgar Allen Poe zu tun, auch wenn das besser zu einem Buch passen würde, sondern mit einem mittlerweile zwölf Jahre alten Post in einem Internetforum, der da sagte:

„Without a clear indication of the author’s intent, it is difficult or impossible to tell the difference between an expression of sincere extremism and a parody of extremism.“ Frei übersetzt: Es gibt keine Möglichkeit, Kreationisten zu parodieren, ohne irgendjemanden zu finden, der das, was man sagt, für bare Münze hält.

Und das stimmt. Es ist heutzutage nahezu unmöglich, Satire zu betreiben oder sich über Extremismus lustig zu machen, ohne dass es Idiotinnen und Idioten gibt, die glauben, man meine das alles ernst. In einem Moment stellt man sich auf die Bühne und wünscht sich, dass es Nazis als Kuscheltiere gäbe, und drei Tage später kann man sich bei Amazon einen Plüsch-Lutz-Bachmann kaufen.

Problem Nummer zwei hat leider keinen schmissigen Namen, auch wenn viele Menschen es dem Phänomen linker Selbstzerfleischung zuordnen würden: Die schlimmsten Idiotinnen und Idioten sind manchmal nicht die, gegen die man eingestellt ist, sondern diejenigen, die eigentlich auf der gleichen Seite stehen sollten wie man selbst: In einem Moment stellt man sich auf die Bühne und trägt einen Text über die grammatischen Probleme des Genderns vor2, und keine 24 Stunden später stellt man fest, dass Menschen aus dem Asta3 der Humboldt-Universität anwesend waren. Wie man das feststellt: Man hat eine anonym versandte E-Mail erhalten, die folgendermaßen lautet:


„Der verzweifelte Versuch des AutorX, patriarchale Strukturen durch Mansplaining und White Knighting aufrechtzuerhalten, offenbart in seinen für heterosexuelle Cis-Männer typischen Mikroaggressionen ebene jene heteronormativen Dicta, die für die Auswüchse des postkolonialen Finanzimperialismus, die Unterdrückung von People of Color und die Gewaltherrschaft über nicht konventionellen Genderklassifikationen genügenden MenschiX in Verantwortung zu ziehen sind.“

Und dann sitzt man da und fragt sich, ob man vielleicht besser in Zukunft zu allem schweigen sollte, oder, wenn man einen besonders schlechten Tag hat, ob es vielleicht besser wäre, sich vor lauter Schuldgefühlen selber zu kastrieren, die Haut schwarz zu färben und sich von einem amerikanischen Polizisten erschießen zu lassen.

Problem Nummer drei ist der Gegenstand des Schaffens an sich: Die moderne Welt. Oder zumindest die Welt an sich, das Problem ist nicht so neu, dass sich nicht schon William Butler Yeats damit auseinandergesetzt hätte:

Die Welt zerfällt, die Mitte hält nicht mehr, […] die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt.“

So sieht’s aus. Wir haben Twilight statt Harry Potter, Til Schweiger statt Götz George, Brexit statt Pratchett und Frauke statt Wolfgang Petri, wobei ich mir nicht sicher bin, ob das nicht ein Fortschritt ist, zumindest aus der Perspektive eines heterosexuellen Cis-Mannes.

Wir haben Islamismus statt Islam, Populismus statt vox populi, die schwarze Null auf zwei Rädern statt des Nichtnullsummenspiels der Solidarität, und wir haben Beate Zschäpe statt Ulrike Meinhoff, was eindeutig kein Fortschritt aus der Perspektive eines heterosexuellen Cis-Mannes ist.

Es ist still geworden in der unideologischen Mitte, dort wo man nicht alle Lösungen in der kommentierten Neuauflage von „Mein Kampf“ oder der leider immer noch unkommentierten Originalausgabe des alten Testaments findet. Die Besten sind des Zweifels voll, und das ist gut, weil sie nicht an einfache Antworten glauben.

Nur leider sind die Ärgsten von Leidenschaft erfüllt und glauben ihre Antworten zu haben und ihre Schuldigen zu kennen: Die, die nicht so sind wie sie, ob die nun „die da oben“ oder „die Ungläubigen“ oder die sind, die nicht von hier sind. Dick sind sie geworden, die ideologischen Ränder, und dünn die Luft, eng der Raum, in dem man noch im Zweifeln kein Angeklagter ist.

Und hier schließt sich ein wenig der Kreis zu Poe’s Law, denn mich beschleicht manchmal das Gefühl, an den Rändern sind sie alle der Satire auf den Leim gegangen. Um das mal mit aller Deutlichkeit zu sagen: 1984 ist kein Handbuch für sichere, stabile Staaten. Das europäische Klischee von der dummen amerikanischen Kapitalistensau ist keine notwendige Bedingung für einen Präsidentschaftskandidaten. Ein Putschversuch ist kein Anlass, eine Diktatur einzurichten. Die Angst davor, dass der Russe kommt, ist kein Grund, in andere Länder einzumarschieren. Actionfilme aus den Achtzigern sind keine Inspiration für einen Tatort im Jahr 2016. Barbie ist kein Musterbeispiel einer erstrebenswerten Figur. Schlechte Karikaturen über mordende Islamisten sind keine bebilderten Bedienungsanleitungen. Dieter Bohlen und Heidi Klum sind keine vertrauenswürdigen Instanzen zur Beurteilung der Qualität von Musik oder der Attraktivität von Menschen. Die Tatsache, dass niemand mehr in Brandenburg leben will, ist kein Anlass zur Fremdenfeindlichkeit. Menschen, die Videos bei Youporn posten, sind keine Vorbilder für sexuelle Beziehungen. Die Möglichkeit zur weltweiten Kommunikation in Echtzeit ist kein Zwang, zu allem seinen Senf abzugeben. Die Anzahl nackter Menschen auf einer Bühne ist kein Maßstab für ein gutes Theaterstück. Anonymität ist kein Synonym für Menschenverachtung.

Die Gedanken sind frei, ja, aber Freiheit ist keine Freiheit von Verantwortung.

Und Satire ist Überzeichnung. Eine Aufforderung, innezuhalten und sich zu fragen, wohin das alles führen könnte. Sie ist keine Herausforderung, das alles herbeizuführen. Keine Blondine würde einen Blondinenwitz hören und sich herausgefordert fühlen, dümmer zu werden.

Also, liebe Welt, nimm dir ein Vorbild an Blondinen. Sie sind klüger, als man denkt.


2 „Kindchenschema“, S. 152

3 Beeindruckenderweise, denn das ist eigentlich unmöglich. Die Humboldt-Universität hat einen Referent_innenrat, keinen Asta.

Kann das nicht einer der Praktikanten machen?

Es gibt ja immer ganz viele Unternehmen, bei denen die Praktikanten für die Tätigkeiten eingespannt werden, auf die sonst wirklich gar niemand Lust hat. Da fällt dann immer oder zumindest sehr oft das Beispiel „Kaffee kochen“, das ich, um ehrlich zu sein, noch nie verstanden habe, weil ich nicht verstehe, wie man keine Lust auf Kaffee kochen haben kann, denn Kaffee kochen bedeutet, danach Kaffee trinken zu können, und Kaffee trinken ist wie Beten, nur sinnvoller und besser für die Knie.

Bei meinem letzten Praktikum war das anders. Als ich das erste Mal die Spülmaschine einräumen wollte, sagte der Chef: „Nee, lass mal, ich mach das schon“, und scheuchte mich aus der Küche. Das Gleiche passierte bei dem Versuch, schwere Bücherkisten wegzuräumen und den Müll raus zu bringen. Da saß ich dann da mit meinem Praktikantentalent und durfte lauter anspruchsvolle Aufgaben erledigen, die unter meine Stillschweigevereinbarung fallen. Und immerhin Kaffee kochen.

Wikipedia sagt zum Thema Praktikum:

„Der Begriff Praktikum bezeichnet eine auf eine bestimmte Dauer ausgelegte Vertiefung erworbener oder noch zu erwerbender Kenntnisse in praktischer Anwendung oder für das Erlernen neuer Kenntnisse und Fähigkeiten durch Mitarbeit in einer Organisation oder Firma.“

Das sagt uns vor allem, dass die Wikipedia mit Grammatik nicht immer viel am Hut hat4. Aber wenn man diese Definition im Ohr behält und sich dann ein wenig in der Welt umschaut, gerät man schon etwas ins Grübeln.


So war zum Beispiel in Bayern die Reaktion auf eine bekannte Mordserie an Menschen mit Migrationshintergrund, zur Vertiefung noch zu erwerbender Ermittlungserkenntnisse, eine eigene Dönerbude zu eröffnen und dann die Lieferanten nicht zu bezahlen, weil man davon ausging, dass die Morde von einem übermotivierten türkischen Inkassounternehmen verübt wurden. Die Kollegen in Hamburg schüttelten natürlich den Kopf über so viel Dummheit und ließen einen Geisterbeschwörer aus dem Iran, der Kontakt mit einem der Mordopfer hatte, zum Erlernen neuer Kenntnisse kommen. Sieben Jahre nach seinem Tod. Dem Tod des Mordopfers, nicht des Geisterbeschwörers, was ja wirklich einmal ein erstaunlicher Erkenntnisgewinn gewesen wäre.

Im Gazastreifen hingegen hat die Hamas die höchst innovative Fähigkeit erworben, ein Land mit dem modernsten Luftabwehrsystem der Welt zu festen Tageszeiten mit Raketen einzudecken. Und für den Fall, dass diese Maßnahme nicht ausreicht, um die gleiche Menge Flugkörper im nächsten Jahresbudget zu haben und um Israel davon zu überzeugen, dass es im Nahen Osten vollkommen fehl am Platz ist und sich selbst abschaffen soll, gibt es als weitere Option zur Umsetzung der Kein-Staaten-Lösung den bewährten Tunnel. Was auch erklärt, warum den Palästinensern immer vorgeworfen wird, den Friedensprozess zu untergraben, und außerdem, warum das Tote Meer unterhalb des Meeresspiegels liegt.

Den Blick in die Ukraine schwenkend, gibt es nach Kenntnis der Bedienungsmannschaften von Luftabwehrraketenstellungen der pro-russischen Separatisten in der praktischen Anwendung einer Luftabwehrrakete in einem Bürgerkrieg keine lohnenswerteren Ziele als einsame, mehrstrahlige Verkehrsflugzeuge, die in 10.000 Metern Höhe mit eingeschaltetem Transponder schnurstracksgeradeaus auf international festgelegten Flugrouten unterwegs sind. Aber da waren lauter Niederländer auf dem Weg zu einem Aids-Kongress drin, und die pro-russische Homophobie fand es wahrscheinlich nicht gut, dass lauter bekiffte Schwule über sie herzogen.

Zurück im Nahen Osten hat die PR-Abteilung der israelischen Streitkräfte, vor die Aufgabe gestellt, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu schonen, die Kenntnis des Telefons erworben. „Schalom, in fünf Minuten fliegt ihr Haus in die Luft, verlassen sie umgehend das Gebäude, sagen sie aber bitte keinem der Terroristen Bescheid, die sie als menschliche Schutzschilde missbrauchen.“ Alternativ gibt es die allseits beliebten Raketen ohne Sprengstoff auf das Dach, weil nichts deutlicher die Kenntnis „Luftangriff, bitte das Haus räumen“ vertieft, als beim Wäscheaufhängen von einem Stahlpfeil mit glühend heißem Auspuff und zweifacher Schallgeschwindigkeit durchbohrt zu werden und nicht zu explodieren. Und falls man gerade nicht auf dem Dach ist, nun, dann ist das Geräusch, das eine Rakete macht, die nicht explodiert, natürlich eine ebenso klare Warnung davor, dass ihre Nachfolger ein Geräusch machen werden.

Auf der anderen Seite des Atlantiks, in den Vereinigten Staaten, bezeichnet eine auf eine bestimmte Dauer ausgelegte Vertiefung erworbener oder noch zu erwerbender Kenntnisse in praktischer Anwendung oder für das Erlernen neuer Kenntnisse und Fähigkeiten durch Mitarbeit in einer Organisation oder Firma schlicht und ergreifend einen Posten bei der NSA. Und schlechte Grammatik.

Und, um dieser kleinen Vertiefung der Kenntnisse menschlicher Organisationen ein letztes Beispiel zu gönnen: In der katholischen Kirche wird die Kenntnis, dass eine gewisse Form der körperlichen Nähe ein, ich zitiere, „Ausdruck liebender Verbundenheit in Christus oder Auserwählung vor Gott“ sei, auch gerne in praktischer Anwendung vertieft.

Wenn ich mir die Entscheidungen in dieser so Welt ansehe, dann versteht man die Frage, ob das nicht bitte mal einer der Praktikanten machen könnte.


4 Zumindest im August 2014. Zu meinem Bedauern hat mittlerweile jemand den Fehler gefunden.