Über das Buch

Vierzehn zu sein ist hart, findet Sofia. Und es ist noch härter, wenn man gerade seine Mutter verloren hat. Als würde man bei Regen einen Berg in Flip-Flops erklimmen. Aber zum Glück gibt es »Frag Kate«, einen Online-Ratgeber, dem Sofia sich anvertraut. Nie hätte sie gedacht, wohin der E-Mail-Austausch führen würde! Sofias komplettes Leben wird auf den Kopf gestellt! Doch Veränderungen können durchaus etwas Positives sein — besonders, wenn man dabei einem süßen blonden Jungen namens Sam begegnet. Und Sofia ist nun auch nicht mehr jeden Tag traurig. Manchmal ist sie sogar richtig glücklich. Und sie begreift: Wenn du immer weiterkletterst, wirst du mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt. Du siehst, was hinter dir liegt, was vor dir liegt und: was in dir steckt.

Carol Weston

Wie man bei Regen einen Berg in Flip-Flops erklimmt

Aus dem Englischen von Jessika Komina und Sandra Knuffinke

Carl Hanser Verlag

Für meine Mom und meinen Dad — denen ich so gern ein signiertes Exemplar überreicht hätte

Achtung: Das hier ist eine ziemlich traurige Geschichte. Zumindest anfangs. Wenn ihr also keine traurigen Geschichten mögt, solltet ihr sie vielleicht nicht lesen. Ich meine ja nur; ich würde es vollkommen verstehen, wenn ihr das Buch lieber weglegt und euch stattdessen lustige Katzenvideos anguckt.

Ich mag lustige Katzenvideos auch.

Aber jetzt habt ihr das Buch ja schon mal in der Hand.

Es beginnt und endet am ersten Januar, und ich hatte erst überlegt, es Das Jahr, in dem sich mein ganzes Leben änderte zu nennen. Oder: Leben, Tod und Küsse. Oder: Das Jahr, in dem ich erwachsen wurde.

Vierzehn war ein hartes Alter für mich. Echt hart. Und das, nachdem meine Kindheit der reinste Spaziergang gewesen ist. In New York City aufzuwachsen und jeden Sommer in Spanien zu verbringen — rückblickend betrachtet war das ein perfektes Leben. Aber als ich vierzehn wurde, hatte ich plötzlich das Gefühl, ich müsste einen Berg erklimmen. Im strömenden Regen. Mit Flip-Flops an den Füßen. Ich hatte gehofft, es so an einen anderen Ort zu schaffen, aber alles, was ich tat, war stolpern, ausrutschen, hinfallen und mir wünschen, es wäre noch nicht zu spät zur Umkehr.

Es gibt aber auch ein paar witzige Wendungen.

Und zwei ganz wichtige Sachen habe ich gelernt. Erstens: Innerhalb eines Moments kann sich alles verändern — zum Schlechteren, klar, aber auch zum Besseren. Zweitens: Manchmal, wenn man einfach immer weiterklettert, wird man mit einem atemberaubenden Ausblick belohnt. Man erkennt, was hinter einem liegt, was noch kommt und sogar — die große Überraschung —, was in einem steckt.

Teil Eins

Januar

»Rate mal, wer zur Schulversammlung kommt«, sagte Kiki.

Wir hatten uns bei mir im Wohnkomplex unten in der Lobby getroffen, weil wir zusammen durch den Central Park schlendern und dann ein bisschen shoppen wollten. Ich hatte ihr erzählt, dass ich nicht zu der Neujahrsfeier in unserem Apartmentgebäude wollte, und sie hatte mich nicht dazu gedrängt, was ich ihr hoch anrechnete.

Kiki trug ihren neuen blauen Mantel und sah super aus. Todschick, dachte ich, obwohl ich diesen Ausdruck eigentlich nicht mehr ausstehen konnte.

Wir waren schon seit dem Kindergarten beste Freundinnen. Kiki wohnte acht Blocks weiter nördlich, und früher hatten wir immer zusammen »Schule« und »Restaurant« gespielt oder — weil wir eben echte Stadtkinder waren — »Aufzug«. Dafür stellten wir uns in den Wandschrank bei mir im Flur, drückten imaginäre Etagenknöpfe und taten so, als würden wir auf und ab und auf und ab fahren.

Inzwischen war Kiki vierzehn, wie ich, aber sie wirkte älter. Sie war halb Vietnamesin und halb Brasilianerin, mit dunklen Augen und kakaobrauner Haut, und war ein echter Jungsmagnet geworden, während ich ungefähr zur selben Zeit zu einem Mädchen mutierte, das einige mieden. Typen von der Buckley, St. Bernard’s und Hunter begannen Kiki zu umschwärmen. Die wenigen Jungs dagegen, die ich als meine Freunde bezeichnet hätte, zogen sich nach und nach vor mir zurück.

»Sofia, jetzt rate doch mal!«, wiederholte sie ungeduldig.

»Keine Ahnung. Wer denn?« Ich warf einen raschen Blick in den Spiegel, um meinen Wollschal zurechtzuziehen und zu überprüfen, ob auch nichts Fieses in meiner Zahnspange hing.

»Kate! Die Kate! Ist das zu fassen? Hat Dr. Goldbrook mir gerade erzählt. Oh Mann, es ist so komisch, außerhalb der Schule einem Lehrer zu begegnen. Und dann auch noch in den Ferien!«

»Man gewöhnt sich dran«, erwiderte ich. Der Halsey Tower, in dem ich seit meiner Geburt wohnte, lag direkt gegenüber unserer Schule. Er wurde auch scherzhaft die »Lehrerburg« genannt und war praktisch ein vertikales Dorf voller Schulangestellter. »Welche Kate noch mal?« Ganz vage klingelte es bei dem Namen.

Kiki starrte mich an. »Weißt du etwa nicht mehr?« Sie wartete ab.

»Ach, klar.« Endlich fiel der Groschen. Im Fifteen Magazine gab es eine Ratgeber-Kolumne: Frag Kate. Als ich letzten Sommer einmal bei Kiki übernachtet hatte und sie gerade duschen war, fiel mir zufällig ein E-Mail-Wechsel in die Hände, den sie sich ausgedruckt hatte. Ich hatte wirklich nicht herumschnüffeln wollen — ich wäre damals gar nicht auf die Idee gekommen, wir könnten Geheimnisse voreinander haben.

Liebe Kate,

die Mom meiner besten Freundin ist vor ein paar Monaten gestorben. Und jetzt ist meine Freundin immer nur traurig, und ich weiß nicht, was ich für sie tun kann.

Viele Grüße von einer, die nur helfen will

Hallo, Eine, die nur helfen will,

du hilfst ihr doch schon — deine beste Freundin hat Glück, dass sie dich hat. Sag ihr einfach, du bist immer für sie da, falls sie mal über ihre Mom reden will. Und wenn dir eine schöne Anekdote zu ihrer Mom in den Sinn kommt, immer raus damit. Keine Angst, dass du sie dadurch nur an ihre Mutter erinnerst — sie denkt sowieso ständig an sie. Ihre Traurigkeit ist ganz normal, und deine Sorge um sie wird ihr sicher eine Menge bedeuten.

Deine Kate

Damals war ich erst mal ziemlich verletzt und beleidigt. Hielt Kiki mich etwa für einen emotionalen Sozialfall?

»Ach Quatsch!«, hatte Kiki gesagt, als ich sie damit konfrontierte. »Ich dachte halt, sie könnte vielleicht helfen.«

»Mir kann keiner helfen!«, hatte ich erwidert und kurz mit dem Gedanken gespielt, wütend abzudampfen. Aber das tat ich nicht. Kiki zu verlieren konnte ich nicht riskieren.

Mittlerweile waren wir im Park angelangt und hielten auf Bloomingdale’s zu. Die Bäume standen da wie nackte Pfähle. Der Ententeich war zugefroren, der Himmel geradezu unwirklich blau.

»Und Kate hält da einen Vortrag? Worüber?«, wollte ich wissen.

»Vermutlich über das Pubertäts-Alphabet.«

»Das was?«

»Du weißt schon, angefangen bei A wie Anorexie, über B wie Bulimie, bis hin zu Z wie Zickenkrieg!«. Kiki lachte. »Nicht zu vergessen P.«

»P wie …?«

»Pickel, Periode und Popularität!« Kiki lachte sich über sich selbst kaputt. »Und noch viel wichtiger: S!«

Ich verdrehte die Augen, aber es war eindeutig, dass Kiki keine Ruhe geben würde, bis ich reagierte. »Schule?«, riet ich also.

»Zum Beispiel, und was noch?«

»Stress?«

»Treffer Nummer zwei. Aber jetzt mal ernsthaft, Sofia. Was ist das wichtigste S von allen?«

Verstohlen sah ich mich um, ob auch niemand in der Nähe war, den wir kannten — keine Jungs, keine Eltern, keine Lehrer. »Sex?«

»Sex!«, wiederholte Kiki lautstark. »Und sämtliche dadurch übertragbare Krankheiten.«

»Uff, ich hoffe, damit verschont sie uns. So was muss ich mir zu Hause schon oft genug anhören.« Kiki wusste, dass mein Dad, der Frauenarzt war, gern spontane Vorträge über Genitalherpes oder ungewollte Schwangerschaften hielt.

Wir kamen an der Eisbahn vorbei, wo ein Mädchen, das sich unsicher an die Hand seiner Mutter klammerte, auf seinen Schlittschuhen dahinwackelte.

»Kate hat eine Tochter«, wusste Kiki zu berichten. »Kannst du dir vorstellen, wie das wäre, wenn deine Mutter eine Kummerkastentante ist?«

»Nein.«

»Sie hält auch einen Vortrag für die Eltern.«

»Die Tochter?«

»Nein, die Mutter!« Kiki starrte mich irritiert an. »Wir sollten meine Mom und deinen Dad überreden, zusammen hinzugehen.« Kikis Vater war vor drei Jahren ausgezogen, und in letzter Zeit machte sie immer wieder Anspielungen, dass wir unsere Eltern miteinander verkuppeln sollten. »Oder erzähl mir wenigstens, ob er kommt, dann kann ich meiner Mom sagen, sie soll sich schön aufbrezeln und ihm einen Platz freihalten!« Sie lachte.

»Hör auf! Deine Mom würde dich umbringen.«

»Oder mir danken. Immerhin ist er ein begehrter Junggeselle. Gynäkologische Betreuung rund um die Uhr!«

»Hör auf«, flehte ich, und sie gab endlich nach. Ich wollte mir meinen Dad nicht als »begehrten Junggesellen« vorstellen. Ich hatte mich schließlich noch nicht mal ganz an »Witwer« gewöhnt. Zwar war mir schon aufgefallen, wie die eine oder andere Frau mit Dad flirtete (darunter auch Kikis Mutter Lan, wann immer wir zu ihr ins Saigon Sun essen gingen), aber ich hatte noch nie erlebt, dass er darauf einging.

Mom hatte Dad immer »Guapo« genannt — Hübscher. Aber er war jetzt fünfzig, und da sollte man doch denken, dass er mit diesem Thema für sich abgeschlossen hatte. Was mir nur recht war. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er plötzlich auf Dates gegangen wäre.

»Was willst du eigentlich kaufen?«, wechselte ich das Thema, während wir die Fifth Avenue Richtung Osten überquerten.

»Ich brauche unbedingt neue Jeans«, stöhnte Kiki. »Und du?«

»Vielleicht einen Rock für die Schulparty. Oder einen Pulli?« Doch was ich wirklich brauchte — dringender als jeden neuen Rock oder Pulli —, war Luft zum Atmen. Und das Gefühl, endlich wieder ich selbst zu sein.

Am Sonntag wollte Dad, dass wir den Weihnachtsbaum abschmückten. Es grenzte an ein Wunder, dass wir überhaupt einen aufgestellt hatten, und ich begriff nicht, wieso der Baum so schnell wieder aus der Wohnung verschwinden sollte.

Aber Dad hatte es nun mal gern ordentlich, und Weihnachten bedeutete Chaos.

Ich hatte Weihnachten schon immer gemocht — die Deko, die Schulkonzerte, die Geschenke und Feiern. Es war toll, wenn direkt nach Thanksgiving die kanadischen Holzfäller mit ihren Lkws voller Tannen in die Stadt rollten und die Bürgersteige New Yorks in Miniaturwälder verwandelten.

Mom, Dad und ich hatten immer unser ganz eigenes Ritual gehabt. Jedes Jahr Anfang Dezember suchten wir uns auf dem Broadway einen Baum aus und schleppten ihn nach Hause in die 93. Straße. Dad stellte ihn in den Ständer, Mom goss ihn mit Gingerale, was ihn angeblich länger frisch hält, und ich hängte die erste Kugel hinein. Dann schmückten wir ihn gemeinsam und hörten dabei Weihnachtslieder, von Jingle Bells bis Feliz Navidad, während Pepper, unser schwarzer Kater, um uns herumflitzte und mit der Tatze nach den niedrig hängenden, mausgroßen Kugeln schlug.

Das war unsere Familientradition. Ich hatte immer gedacht, es würde ewig so weitergehen.

Aber am 7. April war Mom gestorben, und mit ihr ein Teil von mir.

Die erste Zeit ohne sie war einfach an mir vorbeigerauscht. Ständig glaubte ich, sie aus dem Augenwinkel irgendwo zu sehen: wie sie Zwiebeln hackte, Wäsche faltete, in die U-Bahn stieg. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass meine Mom tot war — und es trotzdem Frühling wurde. In der Schule waren die meisten Leute übertrieben nett zu mir, manche jedoch gingen auf Abstand, als wüssten sie nicht, was sie zu jemandem sagen sollten, in dessen Familie es einen Todesfall gegeben hatte. Oder als wäre so etwas ansteckend.

Den Sommer, bevor ich in die achte Klasse kam, verbrachte ich bei meinem Abuelo, Moms Vater, in Spanien. Wir gingen viel wandern in den Hügeln vor Segovia. Oft holten wir uns morgens Gebäck in der Nähe des römischen Aquädukts, und er zeigte mir die Störche, die auf den Gebäudedächern nisteten. Oder wir schlenderten am Alcázar vorbei, das aussah wie ein Märchenschloss. An heißen Nachmittagen, wenn mein Großvater ein Nickerchen hielt, schlüpfte ich manchmal in die kühle gotische Kathedrale und versuchte, mir Mom dort als Schulmädchen im Kirchenchor vorzustellen. Fast meinte ich dann, sie singen zu hören.

Anfang September flog ich zurück nach New York und traf mich wieder mit Kiki, Natalie und Madison. Aber der Herbst war lang und düster, und es war, als fielen nicht nur die Blätter von den Bäumen, sondern auch ich immer tiefer in mein Loch. Das Schlimmste war, dass alle — sogar Kiki! — zu denken schienen, ich müsste mich doch langsam wieder erholt haben.

Niemand schien es zu begreifen.

Von so was erholte man sich nicht mal eben. Und nein, ich war nicht depressiv. Sondern traurig. Wer wäre das nicht?

Am 21. Dezember wurde ich vierzehn und verlebte meinen ersten unhappy birthday. Darauf folgten alles andere als fröhliche Weihnachten, und jetzt war das neue Jahr angebrochen, und Dad wollte unseren blöden Baum abschmücken, ob ich bereit war oder nicht. Das war echt ein Tiefschlag. Klar war Weihnachten mies gewesen, aber ich wollte trotzdem nicht, dass es einfach so vorbei war.

Schon komisch. Im Fernsehen sieht man nie Leute ihren Weihnachtsbaum abschmücken. Schmücken natürlich, jedes Jahr auf allen Kanälen. Aber abgenommen wird nichts von der ganzen Pracht. Man kann keine Väter und Töchter beobachten, die Lichterketten und Plastikmistelzweige zurück in die Kartons packen wie in einem falschrum abgespielten Amateurvideo.

Aber ich brachte nicht die Kraft auf, zu protestieren. Also gehorchte ich wohl oder übel und wurde zum Grinch, der Weihnachten stahl. Und was »stahl« ich nicht alles: den Baumschmuck, Abuelos selbst gebaute Holzkrippe, Dads und meine roten Strümpfe. Ich versuchte nicht an den dritten Strumpf zu denken, Moms, der ordentlich zusammengefaltet im Keller lagerte.

Den kahlen Baum legten wir auf ein altes, verschlissenes Bettlaken, schlugen ihn darin ein und zerrten ihn zum Aufzug, um ihn nach draußen zu bringen. Dort warfen wir ihn auf den Haufen anderer weggeworfener Bäume am Straßenrand.

Kaum zurück in der Wohnung, schnappte Dad sich den Staubsauger, und Pepper nahm Reißaus. Mich störte der Krach nicht, denn beim Saugen zumindest stieg noch einmal der Duft von Tannennadeln auf — und damit die Erinnerung an glücklichere Weihnachten.

Ich sah mich prüfend um, damit wir auch ja kein Fitzelchen Deko vergaßen. Und da entdeckte ich die grün-rote Papiergirlande über einem der Fenster. Die hatten Mom und ich zusammen gebastelt, als ich in der ersten Klasse war. Fast spürte ich noch die Plastikschere in der Hand, roch den süßen Klebstoff.

Dad folgte meinem Blick. »Ich nehme sie ab«, bot er an.

»Okay«, sagte ich, überrascht über den Kloß in meinem Hals. Das kam zum Glück nicht mehr so häufig vor. An solche Momente hatte ich mich gewöhnt: die Fotos von uns dreien auf dem Nilpferd-Spielplatz im Riverside Park, am Jones Beach, auf der Plaza Mayor in Madrid. Zuerst hatte ich mich in jedem Bild verloren. Inzwischen konnte ich meistens daran vorbeigehen; hinsehen, ohne etwas zu fühlen.

»Wenn alles verpackt ist«, versprach Dad, »gehen wir irgendwo essen. Wie wär’s mit dem Bodrum?«

»Von mir aus«, murmelte ich.

»Wir können über alles reden«, sagte er.

Nein, können wir nicht, dachte ich.

Als ich noch klein war und öfter nicht schlafen konnte, schlich ich immer auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer meiner Eltern und stupste meine Mom an. Benommen quälte sie sich aus den Federn und legte sich mit mir in mein Bett. Dann flüsterte sie: »Qué sueñes con los angelitos«, wie man in Spanien sagt — Träum von den Engelchen. Und irgendwann schliefen wir beide unter dem rosa Baldachin meines Himmelbetts ein.

Es kam mir vor, als wäre das ewig her. Und gleichzeitig, als wäre es gestern gewesen.

Mom hatte Spanisch an der Halsey-Mädchenschule unterrichtet, und wenn ich in den letzten fünf Monaten ohne sie nicht schlafen konnte, weckte ich nicht Dad, sondern blieb liegen und lauschte darauf, wie Mrs Morris, die Informatiklehrerin aus Apartment 6 C, über uns auf und ab tigerte. Manchmal störte mich das Klacken ihrer Absätze. In anderen Nächten fand ich es fast tröstlich.

Ich versuchte wieder einzuschlafen, aber wenn man sich dafür anstrengen muss, klappt es sowieso nicht.

Seit Neustem stand ich in schlaflosen Nächten einfach auf und suchte nach Pepper. Ich setzte mich mit ihm ans kalte Fenster vor die zischelnde Heizung und guckte auf die Gebäude gegenüber, hinter deren Fenstern teils noch Licht brannte und geschmückte Bäume funkelten. Oder schaute mir Fotos von Mom an und fragte mich, ob sie mich wohl auch sehen konnte. Manchmal war ich schwer in Versuchung, Abuelo anzurufen, denn in Spanien war es schon früher Morgen. Aber ich wollte ihm keine Angst einjagen. Im Sommer hatte er mir gebeichtet, dass er jetzt jedes Mal einen Schreck bekam, wenn zu einer ungewöhnlichen Zeit das Telefon klingelte.

Ich war es, die ihm von Moms Aneurysma hatte berichten müssen. Dabei hatte ich dieses Wort bis zum 7. April noch nie auch nur gehört. Brustkrebs, Herzinfarkt, Autounfall: Solche Wörter konnten einem Angst machen. Aber Aneurysma? Intrazerebrale Blutung? Das waren allerhöchstens Aufgaben für Buchstabierwettbewerbe, aber keine Arten zu sterben.

Dad hatte mich gebeten, Abuelo anzurufen, weil er so gut wie kein Spanisch sprach, aber auch, weil er fand: »Silvio sollte jetzt deine Stimme hören.« Also hatte ich ihm die traurige Nachricht überbracht und damit das Herz gebrochen.

»Abuelito, tengo noticias terribles …«

Wenn ich, wie so oft, daran zurückdachte, war ich froh, dass Abuelo wenigstens nicht gesehen hatte, was ich hatte sehen müssen.

Ich war allein gewesen, als ich Mom gefunden hatte. Ich hatte die Tür aufgeschlossen, meinen Rucksack auf den Boden geworfen und »Bin zu Hause!« gerufen. In der Wohnung war es mucksmäuschenstill, und es roch nicht wie sonst nach in der Pfanne schmorenden Zwiebeln. Normalerweise sagte Mom mir Bescheid, wenn sie eine Lehrerkonferenz hatte, darum überraschte es mich, dass anscheinend niemand da war. Doch das erschrockene Kribbeln setzte erst ein, als ich ins Wohnzimmer kam und ihren Hinterkopf in einem seltsamen Winkel über die Sofalehne ragen sah.

»Mamá?«, fragte ich.

»Mamá?« Das Kribbeln wurde zu Panik.

»MOM!« Beim Näherkommen erkannte ich, dass meine Mutter seitlich zusammengesackt war. Zuerst stand ich bloß da, genauso reglos wie sie. Dann schob ich ihr dunkles Haar zurück. Sie blieb still liegen, und ich sah ihr bleiches, ausdrucksloses Gesicht, die offenen Augen.

»Nein!«, schrie ich. »Nein!« Ich versuchte, sie an mich zu ziehen, aber ihr Arm war schlaff und tonnenschwer. »Nein!« Ich konnte nicht aufhören zu schreien.

Ich rief Dad an und erklärte ihm schluchzend, was passiert war. »Das kann nicht sein!«, erwiderte er. Er ließ mich nachprüfen, ob sie wirklich nicht atmete, keinen Puls mehr hatte. Erst dann fing er an zu weinen. Er sagte, er würde den Notarzt rufen und so schnell wie möglich nach Hause kommen.

Pepper starrte mich aus großen Augen an, und ich wollte ihn an mich drücken, während ich Mrs Russell anrief, die zwei Stockwerke unter uns wohnte. Aber er strampelte sich frei und zerkratzte mir dabei den Arm. Ich war froh, dass Mrs Russell auf dem Weg war, aber gleichzeitig auch nicht. Wenn niemand sonst meine Mutter so sah, blieb das alles vielleicht einfach ein grauenhaftes Missverständnis.

Mrs Russell kam, dann Dad, und dann immer mehr und mehr Leute. Es war kein Missverständnis.

An diesem Abend schlug ich nach, was Aneurysma auf Spanisch hieß — so ziemlich dasselbe: aneurisma —, und rief meinen Großvater an. Ich erklärte ihm, dass Moms Gesicht friedlich gewirkt habe, was wirklich stimmte. Nach einer langen Weile sagte er: »Una muerte dulce« — ein süßer Tod.

Natürlich war uns beiden klar, dass absolut nichts Süßes daran war, wenn man mit zweiundvierzig starb.

Was ich Abuelo nicht erzählte, war, wie steif und kalt Moms Leiche gewesen war, als sie sie wegbrachten. Ich wünschte, es wäre mir nicht aufgefallen.

Zwei Tage vor dem Frag-Kate-Vortrag an der Halsey überreichte Kiki mir einen Stapel alter Ausgaben der Fifteen, in denen sie die Kolumne markiert hatte. »Lesen«, kommandierte sie.

»Was? Jetzt gibst du mir schon Hausaufgaben?«

»Jepp.« Kiki öffnete meinen Kleiderschrank, griff hinein und zog den Rock hervor, den ich bei Bloomingdale’s gekauft hatte. »Darf ich mir den ausborgen?«, fragte sie, und ich zuckte mit den Schultern. Klar durfte sie. Dann fiel ihr Blick auf den Schrankboden. »Oh Gott!«, rief sie. »Da ist ja dein altes Puppenhaus!« Sie hob die hölzernen Mutter- und Vaterfigürchen hoch. »Die sind viel kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte!«

Früher hatten wir uns stundenlang mit diesem Puppenhaus beschäftigt. Abuelo hatte es gebaut und mir zum fünften Geburtstag geschenkt. Als wir zum ersten Mal damit spielten, quetschten wir die gesamten Möbel — Tische, Stühle, Betten, Schränke — und Puppen in die oberste Etage. Mom ermutigte uns, uns ruhig ein bisschen auszubreiten, aber Kiki und ich kannten eben nur Wohnungen, keine ganzen Häuser, und sich derart auszubreiten kam uns unnormal vor. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass eine einzige Familie zwei komplette Stockwerke einnehmen sollte.

»Wie geht es eigentlich deinem Großvater?«, erkundigte Kiki sich, während sie meinen Rock anprobierte und sich kritisch im Spiegel betrachtete.

»Ganz gut. Er kommt uns im März besuchen.«

»Cool.« Sie verriet mir, dass sie mit Derek verabredet war, aber ihrer Mom erzählt hatte, sie sei bei mir. »Nicht, dass sie anrufen würde oder so.« Derek war Kikis neuster Freund, und ich versprach ihr, sie zu decken, wenn nötig. Dann verschwand sie. Ihre Jeans und die Zeitschriften ließ sie bei mir.

Ich machte mir einen Kakao, schnappte mir Pepper und die Fifteens und las mir eine Kolumne nach der anderen durch. Kates Ratschläge gefielen mir, vor allem, weil sie nie schrieb »Rede doch mal mit deiner Mom darüber«. Ihr schien klar zu sein, dass Eltern im Plural nichts Selbstverständliches waren.

Februar

»Ich muss einfach wissen, woher sie die Ohrringe hat«, raunte Kiki. »Und wie cool sind denn bitte diese Stiefel?«

Kiki hatte Natalie, Madison und mir Plätze in der vierten Reihe freigehalten und umklammerte aufgeregt ihr zerlesenes Handbuch für Mädchen, als unsere Direktorin Mrs Milliman Kate vorstellte.

Die Kolumnistin hatte jeansblaue Augen und rötlich blondes, schulterlanges Haar. Ich fragte mich, ob sie uns wohl raten würde, an uns selbst zu glauben, unsere wahre Leidenschaft zu finden und unseren Traum zu leben.

Nein. Stattdessen fing sie so an: »Ich halte oft Vorträge an Schulen, aber ich will ehrlich sein — reine Mädchenschulen wie diese sind mir am liebsten. Warum? Weil ich dann direkt ans Eingemachte gehen kann: BHs, die Periode, Cliquen und süße Jungs, darüber wollen wir doch alle reden.«

Kiki stieß mich mit dem Ellbogen an, als wollte sie sagen: Na? Hab ich zu viel versprochen?

»Ich weiß, ihr habt mit der Schule schon genug um die Ohren, aber jetzt ist eben auch die Zeit, in der ihr euch in euren Körpern einlebt. Also ich war ja nicht nur eine totale Spätzünderin, sondern auch Miss Bügelbrett persönlich — an Letzterem hat sich bis heute nicht viel geändert!« Kate deutete lachend an sich herunter, und das Publikum stimmte ein. »Früher hat mir das echt zu schaffen gemacht, aber heute nicht mehr. Irgendwann erwischt die Pubertät uns schließlich alle. Und ein großer Busen ist zwar nett, aber ein kleiner oder ein mittlerer ganz genauso.«

Mein Lateinlehrer, Mr Conklin, lächelte, und ich merkte, wie ich rot anlief. Obwohl Mom ebenfalls hier gearbeitet hatte, hatte ich die anderen Lehrerinnen an der Halsey nie als Frauen mit Körpern gesehen. Und was die männlichen Lehrkräfte anging, hätte Mrs Milliman sie gern bitten können, diese Schulversammlung doch lieber mal auszulassen.

»Das durchschnittliche amerikanische Mädchen bekommt seine Periode mit zwölfeinhalb Jahren«, fuhr Kate fort. »Aber das ist, wie gesagt, nur der Durchschnitt, bei vielen fängt es früher oder später an. Ich war erst mit fünfzehn so weit.«

Bei Kiki und Natalie war es letzten Winter losgegangen, bei mir erst diesen Herbst, und von regelmäßig konnte keine Rede sein. Mir war schon klar, dass ich meinen Vater hätte fragen können (schließlich war er vom Fach), aber es war alles so viel leichter gewesen, als ich noch mit Mom über solche Sachen reden konnte.

Ob dreizehn wohl das schlimmstmögliche Alter war, um seine Mutter zu verlieren? Konnte sein. Aber ein gutes Alter gab es dafür wohl sowieso nicht.

»Reden wir über Tampons«, sagte Kate fröhlich. »Für einige von euch sind sie das Normalste der Welt. Andere wiederum denken sicher: Bleib mir bloß weg mit den Dingern.« Ich sah mich um. Ein paar Mädchen kicherten, aber alle lauschten gebannt. »Wenn ihr Schwierigkeiten damit habt, dann holt euch für den Anfang doch welche mit Applikator, das sind diese Schieberöhrchen. Tupft ein bisschen Vaseline auf die Spitze und entspannt euch erst mal. Tief durchatmen und dann startet ihr den ersten Versuch, aber bitte wirklich nur, wenn ihr eure Tage habt — zwischendurch üben ist tabu!« Auch Madison, die eben noch ihre langen blonden Haare auf Spliss untersucht hatte, beugte sich nun interessiert vor. »Wenn ihr erst mal Profis seid, könnt ihr den Applikator weglassen, das verursacht auch weniger Müll.« Natalie nickte.

»Manche Mädchen berichten mir, sie wüssten nicht, wo genau der Tampon hingehört.« Kate zog eine Augenbraue hoch. »Meine Damen, da unten befinden sich drei Löcher. Un, deux, trois. Eins für Pipi, eins für Kacka, und in der Mitte die Vagina. Wenn ihr euch nicht sicher seid, nehmt einen Spiegel zu Hilfe.«

Alle fingen an zu lachen, und die Lehrer zischten mahnend. Ich sah rüber zu Mrs Milliman — ob sie jetzt aufspringen und Kate von der Bühne zerren würde? Aber sie blieb sitzen, als hätten wir hier andauernd Gastredner, die »Pipi«, »Kacka« und »Vagina« ins Mikrofon sagten.

»Mir ist schon klar, dass das alles total intime Themen sind«, fügte Kate hinzu. »Aber ich kriege jede Menge Mails von Mädchen, darum weiß ich, was euch so umtreibt. Ich lese euch gleich mal ein paar Briefe vor — natürlich ohne Namen. Wenn ihr mir schreiben wollt, meine Mailadresse lautet: fragkate@fifteen.com. Fasst euch kurz, dann antworte ich auch.«

Ich fragte mich, was für Mädchen das wohl waren, die ihr tatsächlich schrieben, und dann fiel es mir wieder ein: Kiki zum Beispiel.

Kate hatte Briefe zu allen möglichen Themen dabei, von Amokläufen an Schulen bis hin zu transsexuellen Teenagern. Dann durften wir Fragen stellen. Eine Sechstklässlerin mit glitzernd grün lackierten Fingernägeln fragte: »Ist es in Ordnung, wenn man total besessen von Jungs ist?«

Kate antwortete: »Besessenheit ist nie ideal.«

Madison wollte wissen, wie viele E-Mails Kate pro Woche erhielt.

»Jede Menge«, sagte Kate, »und vor dem Valentinstag werden es noch mal doppelt so viele. Da komme ich kaum noch hinterher.«

Eine aus der Siebten fragte, woher die Post denn so kam.

»Kein Ahnung.« Kate zuckte mit den Schultern. »Briefe haben ja einen Absender, aber Mails sind meist anonym. Das Alter eines Mädchens kann ich zwar noch ganz gut schätzen, aber nicht den Wohnort. Namen wie Sexibabi, Iluvcandy oder Crazylady — das kann überall herkommen.« Sie lächelte. »Apropos: Wenn ihr euch mal irgendwo bewerbt, legt euch bitte vorher eine seriöse Mailadresse zu! HotChica666 kommt weder bei Arbeitgebern noch bei Collegeverwaltungen gut an.«

Plötzlich meldete sich Natalie, die die ganze Zeit eine Haarsträhne zwischen den Fingern gezwirbelt hatte, und fragte Kate, ob sie vielleicht einen Tipp für den Valentinstag hätte.

»Ich hab sogar vier«, erwiderte Kate und zählte an den Fingern ab. »Eins: Verknallt euch nicht Knall auf Fall. Zwei: Vor Freund kommt Freundschaft. Drei: Das Leben besteht nicht nur aus Liebe. Und vier: Amor kann manchmal ein Arschloch sein, also hört nicht nur auf euer Herz, sondern auch auf euer Hirn. Hilft das schon mal?«

»Ja«, beteuerte Natalie.

Kate beendete ihren Vortrag mit den Worten: »Falls ihr keinen Valentinsschatz habt, macht euch nur ja keinen Stress. Da geht’s euch nämlich wie den allermeisten, also seid ihr in bester Gesellschaft! Und falls doch, überstürzt nichts — Hals über Kopf endet meist mit einer Bauchlandung. Nehmt ein bisschen den Turbo raus, ihr seid noch so jung. Hirn einschalten, Höschen anbehalten!«

Das Publikum brach in Gelächter aus, und Mrs Milliman enterte die Bühne. »Leider läuft uns langsam die Zeit davon, wie schade! Vielen Dank, Sie haben uns allen viel Stoff zum Nachdenken gegeben.«

Kiki sprang auf, ihr eselsohriges Handbuch für Mädchen unter den Arm geklemmt, und sagte: »So, Leute, mitkommen.«

»Ich muss noch meine Bio-Hausaufgaben zu Ende machen«, sagte Natalie.

»Und ich muss mein Geschichtsbuch holen«, schloss Madison sich an.

Kiki sah mich streng an. »Sofia, keine faulen Ausreden jetzt.«

»Geh doch einfach allein. Sag bloß, du traust dich nicht!«

»Och, bittebittebitte! Bevor die Schlange noch länger wird.«

Also folgte ich Kiki zur Bühne und ärgerte mich über mich selbst, weil ich mich mal wieder von ihr mitschleifen ließ. Hatte ich in dieser Aula tatsächlich mal Musical-Songs geschmettert? Kaum zu glauben.

Die Schlange bewegte sich nur schleppend voran. Als Kiki an der Reihe war, bat sie Kate, ihr Buch zu signieren, und schwärmte: »Das hier ist meine Bibel. Ich kann es streckenweise sogar auswendig!«

Kate lächelte herzlich und fragte, für wen die Widmung sein sollte.

»K-I-K-I«, buchstabierte Kiki. »Und Ihre Kolumne finde ich auch super!«

»Danke.«

»Und Ihre Ohrringe!« Kiki war hin und weg.

Kate fasste sich ans Ohrläppchen. »Die gehören meiner Tochter. Sie ist sozusagen meine persönliche Stylistin.« Sie sah uns an. »Ich weiß gar nicht, wie Mütter ohne Töchter es schaffen, sich einigermaßen trendig anzuziehen!«

»Sie ist sicher glücklich, dass sie so eine coole Mom hat«, sagte Kiki.

Kate schüttelte den Kopf. »Na ja, ich weiß nicht. Oft findet sie, dass ich gar nichts kapiere, so wie das wohl die meisten Mädchen über ihre Mütter denken.« Sie gab Kiki das Buch zurück. »Kommen eure Eltern auch heute Abend? Mein nächster Vortrag ist um sechs. Mit etwas anderem Inhalt natürlich.«

»Meine Mom auf jeden Fall. Und ihr Dad« — Kiki deutete auf mich — »vielleicht.«

Ich spürte, wie meine Wangen wieder heiß wurden, und durchforstete mein Hirn fieberhaft nach Worten. Egal, was. Mach den Mund auf, Sofia!

Aber nein. Fehlanzeige. Stumm wie ein Fisch stand ich da. Aber was hätte ich auch fragen sollen? Für meine Situation gab es keine praktischen Tipps.

»Darf ich vielleicht ein Foto machen?«, wollte Kiki wissen.

»Klar«, sagte Kate, und Kiki schoss ein paar Selfies mit ihr.

Schließlich bedankte sich Kiki bei Kate dafür, dass sie an unsere Schule gekommen war, während ich nur ein bisschen mit den Fingern wackelte wie ein Baby, das zum Abschied schon Winkewinke machen, aber noch nicht sprechen kann. Todpeinlich! Ob Kate diese Wirkung auch auf andere Mädchen hatte? Dass sie entweder gar nicht mehr aufhören konnten zu quasseln oder kein Wort rauskriegten?

Pepper kam mir schon an der Tür entgegen und strich mir zur Begrüßung um die Beine. Mom hatte ihn immer »Pepito« genannt. Wir hatten ihn vor drei Jahren aus dem Tierheim geholt, und wenn er sich nicht mal wieder wie ein Angsthase vor irgendetwas verkroch, folgte er mir wie ein Hündchen.

Nachts schlief er allerdings nicht bei mir, sondern rollte sich auf dem Teppich vor der Heizung im Schlafzimmer meiner Eltern — meines Dads — zusammen. Echt schade, denn gerade dann hätte ich so ein warmes, schnurrendes Wesen gut gebrauchen können. Meine alten Kuscheltiere Panther, Tigger und Schildi spendeten irgendwie nicht mehr so viel Trost wie früher.

Ich warf einen Blick in den Kühlschrank: Milch, Brot, Saft, ein Karton Sesamnudeln vom China-Imbiss und zwei Plastikschälchen mit Hummus und Baba Ghanoush.

Was hatte ich mir denn erhofft? Ein bisschen Paella oder Tortilla española, das spanische Kartoffelomelett, das Mom mal eben schnell aus dem Ärmel schütteln konnte? Wann hatten Dad und ich überhaupt zum letzten Mal Manchegokäse mit Dulce de membrillo gegessen, der Quittenpaste, die Mom und ich so gern mochten?

Pepper sprang auf die Arbeitsplatte und tappte zur Spüle. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn auszuschimpfen, als er sich hinsetzte und mich aus seinen großen grünen Augen hoffnungsvoll ansah. Also öffnete ich den Hahn gerade so weit, dass ein dünnes Rinnsal herausperlte. Pepper legte den Kopf schief und schlappte das Wasser mit seiner flinken rosa Zunge auf.

Wenn Dad zu Hause war, benahm unser Kater sich ganz anders. Dann lümmelte er weder an der Spüle herum, noch sprang er auf die Arbeitsplatte oder Tische. Aber nach der Schule waren wir zwei ja unter uns.

Ich rief Dad an.

»Hallo, mein kleiner Cupcake. Wie war’s in der Schule?«

»Ich hab achtundneunzig Punkte im Spanischtest.«

»Wieso denn nicht hundert?«

»Wie wär’s mit ›Super, weiter so!‹?«

»Super, weiter so! Aber wo sind die zwei Punkte abgeblieben? Du sprichst ja wohl besser Spanisch als die neue Lehrerin.« Die neue Lehrerin, die als Moms Ersatz eingestellt worden war.

Ich erzählte, dass ich einen Akzent auf einem E vergessen hatte, und fragte dann, wann er nach Hause käme.

»Gegen sechs.«

»Willst du denn nicht zu dem Vortrag? ›Ihr kleines Mädchen wird erwachsen — Geheimnisse der weiblichen Pubertät‹?«

»Weiß ich denn nicht schon genug über die weibliche Pubertät?«

»Die Frau war heute schon bei der Schulversammlung. Richtig gut.« Ich fragte mich, worüber Kate wohl mit den Eltern reden würde. Mit Sicherheit nicht über die Tücken von Tampons.

»Aber wenn ich da hingehe«, entgegnete Dad, »was machst du denn dann heute Abend?«

Kurz war ich versucht, mit eine wilde Party schmeißen zu antworten, aber dann sagte ich nur: »Ich bestelle mir was zu essen.«

»Na schön. Dann sehen wir uns später.«

»Okay. Hab dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Seit April sagten wir das am Ende jedes Telefonats. Ich wusste gar nicht mehr, wer damit angefangen hatte — wahrscheinlich Dad. Zuerst war es mir ein bisschen unangenehm gewesen, so was vor meinen Freundinnen ins Handy zu murmeln. Aber es nicht zu sagen, fühlte sich viel mieser an.

Mom und ich hatten immer »Te quiero« zueinander gesagt, wenn auch nicht am Telefon, sondern meistens abends beim Schlafengehen, wenn sie mich zudeckte.

Ich bestellte mir bei Miyako Teigtäschchen und Avocadomaki, und Pepper leistete mir Gesellschaft. Anfangs, als beim Essen ein Stuhl leer blieb, war Pepper manchmal daraufgesprungen und hatte mit seinen runden Eulenaugen über den Tisch gespäht. Dad hatte es kaum über sich gebracht, ihn herunterzuscheuchen. Ihm war klar, dass Pepper genauso verwirrt und liebebedürftig war wie wir.

Kiki rief an. »Kommt dein Dad jetzt zu der Veranstaltung?«

»Ja.«

»Gut, meine Mom hat nämlich gerade Parfüm aufgelegt.« Sie lachte aufgekratzt. »Und ich gehe auch noch mal mit!«

»Oh Mann, Kiki, wir haben ihren Vortrag doch gerade erst gehört. Und draußen herrschen Temperaturen wie in der Arktis!«

»Mich interessiert aber, was Kate den Eltern erzählt. Schließlich will ich auch mal so werden wie sie. Ich hole dich in fünf Minuten ab.«

»Auf keinen Fall! Wir dürfen da sowieso nicht rein.«

»Auf jeden Fall. Wir verstecken uns einfach auf der Empore.«

»Ich muss Hausaufgaben machen«, protestierte ich. Außerdem will ich keinen Ärger kriegen — geschweige denn mit ansehen müssen, wie deine Mom meinen Dad anbaggert.

»Dann nimm deine geliebten Hausaufgaben halt mit!«

Ich knickte ein. »Du übst einen ganz miserablen Einfluss auf mich aus, ist dir das eigentlich klar?«

»Jepp«, erwiderte sie stolz.

Für den Fall, dass Dad vor mir nach Hause kam, kritzelte ich schnell Bin kurz in der Bibliothek, gleich wieder da auf einen Zettel, dann zog ich Mantel und Schal an und nahm den Aufzug runter in die Lobby, wo Kiki schon wartete. Gemeinsam huschten wir über die Straße zur Schule.

Inez vom Sicherheitsdienst hielt uns auf. »Reichlich spät, Mädels.« Sie deutete auf die Wanduhr, wobei ihre goldenen Armreifen bis zum Ellbogen rutschten. Ich bemühte mich, nicht auf ihren neuen Nasenring zu starren.

»Ich brauche mein Englischbuch aus meinem Spind«, log Kiki. »Wir schreiben morgen eine total gemeine Klausur.«

Bildete ich mir das nur ein, oder veränderte sich Inezʼ Gesichtsausdruck, als ihr Blick auf mich fiel? Das war etwas, was ich an der Halsey nur zu oft erlebte. Dachte auch sie: Ach, da ist ja Señora Wolfs Tochter, das arme Ding? Vor Moms Tod hatten alle ständig zu mir gesagt, ich sähe aus wie sie. Jetzt sagte das keiner mehr, aber jeder schien es zu denken.

»Inez, du bist unsere letzte Rettung!«, flehte Kiki.

»Na schön, aber macht flott.«

Wir liefen um die Ecke, vorbei an ein paar Motivationspostern (Nicht meckern, einfach machen!, Selbst Einstein wusste nicht alles — also frag nach!) und flitzten die Hintertreppe hoch auf die leere Empore.

Dort hockten wir uns auf den Boden und spähten über die Brüstung. Dad saß links, in der sechsten Reihe. Und direkt neben ihm schlüpfte gerade Lan aus ihrem weichen Pelzmantel und machte es sich bequem.

Mrs Milliman tippte mit dem Finger ans Mikrofon. »Guten Abend, liebe Eltern. Unser heutiger Gast hat eine Beratungskolumne in einem Jugendmagazin und ist außerdem die Autorin des Bestsellers Handbuch für Mädchen, der in unzählige Sprachen übersetzt worden ist, von Koreanisch bis Kroatisch. Heute Nachmittag hat sie bereits Ihre Töchter begeistert, und ich bin mir ganz sicher, Sie werden sie ebenso enthusiastisch empfangen. Ich bitte um einen freundlichen Applaus für Katherine Baird.«

Ich duckte mich hinter Kiki, als Kate die Bühne betrat.

»Komisch, ihren vollen Namen zu hören, oder?«, wisperte Kiki.

Kate dankte allen für ihr Kommen und sagte dann: »Es sind immer die besonders guten Eltern, die an diesen Abendveranstaltungen teilnehmen. Wer von Ihnen hat denn eine elfjährige Tochter? Eine zwölfjährige? Dreizehn? Vierzehn? Fünfzehn? Sechzehn?« Bei sechzehn hob sie selbst die Hand.

Kiki wandte den Blick kaum von ihrer Mom und meinem Dad. »Wenn die beiden heiraten würden, wären wir Schwestern«, flüsterte sie.

»Pssst!«, machte ich und musste mich zusammenreißen, um nicht wütend zu werden. Natürlich verstand ich sie, aber verstand sie auch mich?

»Ich schreibe schon für Teenager, seit ich selbst einer war«, erzählte Kate. »Als ich anfing, hießen süße Typen noch coole Macker, Flip-Flops noch Zehentrenner und Istanbul noch Konstantinopel. Können Sie sich erinnern?« Leises Gelächter. »Seitdem hat sich eine Menge verändert, aber vieles ist auch beim Alten geblieben, und der beste Weg, zu erfahren, was in Ihren Kindern vorgeht, ist immer noch, mit ihnen zu reden und ihnen zuzuhören. Also führen Sie nicht bloß das Gespräch mit ihnen, sondern eine fortlaufende Unterhaltung.«

Eine Mutter hob die Hand. »Aber was genau sollen wir ihnen denn zum Thema Sex sagen?«

»Wessen Mutter ist das?«, flüsterte Kiki mit weit aufgerissenen Augen.

»Am Ende beantworte ich alle Ihre Fragen«, versprach Kate. »Aber schon mal vorweg, was ich den Mädchen immer rate: ›Macht langsam! Sex kann man nicht zurücknehmen.‹ Bei älteren Teenies füge ich immer hinzu: ›Gib erst Gummi, dann Gas. Ohne Ballon keine Party.‹«

Kiki grinste, und kurz darauf fiel auch bei mir der Groschen.

»Junge Leute brauchen Informationen«, erklärte Kate. »Einfach nur ›Sag Nein‹ bringt nichts. Eher ›Ich sag dir alles, was du wissen musst, und dann entscheidest du selbst, ob du besser Nein sagst‹.« Ein paar Eltern nickten. »Und den Mädchen muss klar sein, wo sie Grenzen setzen sollten. Denn sosehr unsere Gesellschaft sich auch wandelt, Sex ist immer noch ein großes Thema. Er hat Konsequenzen, und über die sollten sich Männlein wie Weiblein aller Altersgruppen stets bewusst sein.«

Ich sah runter zu meinem Dad und Kikis Mom und wünschte, ich hätte mich von Kiki nicht mit hierher zerren lassen. Sex? Ich kriegte ja kaum mal einen Jungen dazu, mir zurückzuschreiben. Auch Kiki war noch Jungfrau, aber sie hatte mit mehreren Typen, ihr aktueller Freund Derek mit eingeschlossen, »mehr als bloß geknutscht«, wie sie sich ausdrückte.

Eine halbe Stunde später kam Kate zum Schluss. »Einmal blinzeln, und Ihre Töchter sind erwachsen. Meine eigene ist schon mit einem Bein aus der Tür«, fügte sie wehmütig hinzu. »Ich kann nur immer wieder an Sie appellieren, das Privileg der Elternschaft zu genießen, so lange Sie können. Denken Sie daran: Ihre Aufgabe ist es, Ihren Kindern ein sicheres Nest zu bieten, und die Aufgabe Ihrer Kinder ist es, flügge zu werden. Zum Ende will ich Ihnen noch ein Zitat von Christopher Morley auf den Weg geben: »Mit unseren Kindern hatten wir wirklich Pech. Sie sind alle erwachsen geworden.«

Ein Mann lachte. Dad? Keine Ahnung. Ich hatte ihn schon so lange nicht mehr lachen hören.

Die Eltern applaudierten, und Mrs Milliman verkündete: »Wer ein Handbuch für Mädchen kaufen möchte, kann sich hier an der Bühne anstellen. Und bitte möglichst passend zahlen.«

»Okay, lass uns abhauen!«, sagte Kiki. »Ich muss vor meiner Mom wieder zu Hause sein.«

»Komme schon!« Wieder mal wünschte ich mir, wir hätten Tarnumhänge wie Harry Potter.

Wir schlichen die Treppe runter, rasten an Inez vorbei, die Kiki skeptisch beäugte, und blieben vor meiner Haustür stehen. Kiki konnte gar nicht aufhören zu kichern, während meine Fingerspitzen langsam vor Kälte zu kribbeln begannen.

»Und, willst du immer noch so werden wie Kate?«, erkundigte ich mich.

»Absolut! In der Oberschule fange ich mit meiner eigenen Kolumne an: Kiki hilft

»Super Idee!«

»Und, was soll ich meiner Mom jetzt für Tipps wegen deinem Dad geben?«

Dass sie die Finger von ihm lassen soll, dachte ich, sagte jedoch: »Kiki, es ist noch nicht mal ein Jahr her!«

Kiki nickte und flitzte los zur Ecke Amsterdam Avenue und 101. Straße.

Wieder oben in der Wohnung angelangt, riss ich als Erstes meinen Zettel an Dad in kleine Fetzen. Nach zwanzig Minuten fing ich an, mich zu fragen, warum er so lange brauchte. Früher war es immer Mom gewesen, die sich bei Halsey-Veranstaltungen öfter verquatscht hatte, nie Dad.

Besonders das Singen im Eltern-Lehrer-Chor hatte ihr Spaß gemacht, und nach den Proben waren sie alle zusammen ausgegangen. Die Leute hatten immer gesagt, Mom habe so eine schöne Stimme.

Über mich sagten sie das auch — aber meine Stimme hatte schon lange niemand mehr zu hören bekommen. Beim Frühlingsfest im letzten Jahr war ich nicht dabei gewesen, und aus dem Chor war ich ausgetreten. Im Herbst hatte ich mich, anstatt für die Hauptrolle in The Pajama Game vorzusingen, freiwillig als Kulissenmalerin gemeldet. Auch beim Adventskonzert und dem Weihnachtssingen hatte ich nicht mitgemacht, zum ersten Mal seit der Grundschule.

Als endlich ein Schlüssel an der Tür klimperte, raste Pepper los, um Dad zu begrüßen.

»Und, wie war’s?«, rief ich ihm bemüht beiläufig aus der Küche zu.

»Ganz toll.«

Toll? »Hast du Kikis Mom gesehen?«

»Die saß neben mir.«

Fast hätte ich erwidert: Beinahe auf deinem Schoß, meinst du wohl!

»Sie geizt nicht gerade mit Parfüm«, merkte er an. »Und sie hat mir erklärt, dass Lan auf Vietnamesisch ›Orchidee‹ bedeutet.«