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Jan Drees

Sandbergs Liebe

Roman

Erste Auflage

© 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Kristina Wengorz

www.secession-verlag.com

Einband: Nach einem Entwurf von Christian Ruzicska

unter Verwendung eines Ausschnitts aus

Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer

© bpk/Nationalgalerie, SMB/Andres Kilger

Satz: Peter Löffelholz

Herstellung: Renate Stefan, Berlin

Druck und buchbinderische Verarbeitung:

Friedrich Pustet, Regensburg

Papier Innenteil: 100g Fly 05

Papier Vor- und Nachsatz: 115g Fly 05

Papier Überzug: 115g Surbalin Seda von Peyer

Gesetzt aus Edit Serif von Atlas Fonts

Printed in Germany

ISBN 978-3-906910-44-4

eISBN 978-3-906910-50-5

Inhalt

Teneriffa

Once

Nacht

Liebe allein reicht nicht.
Felix-Emeric Tota

Kalinas Antwort auf Kristian Sandbergs Frage, welches ihr Lieblingsbuch sei, verrät das Unheimlichste über sein Verschwinden wenige Monate nach dem viel zu heißen Spätsommer des Jahres 2016, in dem Paul Kalkbrenner vor siebzigtausend Besuchern die Headliner-Show auf dem Lollapalooza-Festival in Berlin gespielt hatte – bei Temperaturen knapp unter dreißig Grad, lange nach Einbruch der Dunkelheit.

Man könnte spekulieren, wie sich diese Geschichte entwickelt hätte ohne Kalinas Versprechen, ihn niemals zu verlassen. Ihm war dieser Satz vorgekommen wie ein Schwur.

Deshalb soll er später gesagt haben: »Ich verstehe das alles nicht.«

Man kann darüber nachdenken, was Verstehen bedeutet und wie eine Begegnung, die von derart kurzer Dauer war, ein komplettes Bewusstsein zerstören konnte. Dabei ist Zeit immer eine Nebensache. Es geht nie um Dauer. Es geht um Intensität. Wer sich in den Kopf schießt, ist innerhalb von zwei Sekunden tot.

Es gibt kaum Hinweise auf die wirklichen Ängste dieser Frau. Beim Zusammensetzen der Geschichte fehlt etwas. Es ist, so wird vermutet, die Geschichte einer Manipulation.

»Ich habe Kalina geliebt«, hat Sandberg versichert.

»Ich weiß, dass du mich liebst«, hatte sie gesagt, »aber du musstest alles zerstören und niederbrennen.«

Es gibt auf seine Frage, welches ihr Lieblingsbuch sei, Kalinas Antwort: »Das ist Die Gefährliche Geliebte von Haruki Murakami.« – und man kann sich vorstellen, wie sein Herzschlag damals für einen Moment ausgesetzt, wie sein Blut gestockt haben muss, nachdem sie das gesagt hatte, weil es für ihn der letzte Hinweis war, die Gewissheit, dass er mit dieser Frau sein Leben verbringen musste.

Selbstverständlich hatte er damals überlegt, ob es wahr sein konnte, dass Kalina sich ausgerechnet für jenen Roman begeisterte, den er als DIN-A2-Plakat über seinem Bett hängen hatte, den kompletten Text in Schriftgröße drei Komma fünf. Alles passte. Ab da passte es perfekt.

Das hier ist die Geschichte von Kristian Sandberg, er wird sie selbst erzählen. Aber- und dieses Aber teilt eine ganze Welt – es gibt zwei Wahrheiten. Es gibt Kristian Sandberg. Es gibt Kalina. Und es gibt Die Gefährliche Geliebte des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami.

Teneriffa

Es gibt diese Geschichte – sie beginnt, als ich im Januar 2016 im kleinen Kurort Punta del Hidalgo auf Teneriffa ankomme, wo ich mich kurzfristig für zwei Wochen im Spa-Hotel Maritim eingemietet habe.

Mit geschlossenen Augen sitze ich im Schatten vor der Lobby. Es ist später Vormittag. In der linken Hand halte ich eine Zigarette, obwohl ich mit dem Rauchen aufhören wollte.

Zu Hause herrscht Chaos. In meiner Bremer Wohnung, Tausende Kilometer entfernt, gibt es den Stapel flatterhafter Verlagsfahnen und Leseexemplare von Romanen, die mich seit Wochen belasten und nur mit etlichen Gläsern Primitivo di Puglia erträglich bleiben. Zu Hause gibt es das viel zu frühe Harfenspiel meines Smartphones am Morgen, wenn der immer gleiche Tag beginnt: mit hastigem Aufspringen, Duschen, Rasieren, stets im selben Ablauf.

Ich bin rastlos, und nur die Gleichförmigkeit meines Tagesablaufs garantiert jenes Mindestmaß an Struktur, das für alle Menschen notwendig ist, damit sie nicht komplett wahnsinnig werden.

Daheim, in Bremen, gibt es das Antidepressivum Citalopram und das tägliche Stück Mohnkuchen auf dem Weg in die Bibliothek, wo ich ab neun Uhr sitze, um nicht allein zu sein, wenn ich meine Notizen in den Laptop tippe. Ich lebe seit drei Jahren von einem Promotionsdarlehen, das bald ausläuft, weil ich durch bin mit meiner Dissertation. Das monatlich überwiesene Extrageld lässt mich vergessen, dass die Honorare für Rezensionen nicht steigen, sondern sinken.

Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich weiterarbeite, und bin zu der Einsicht gelangt, dass die Literatur, dass meine Bücher auf mich wirken wie Citalopram. Sie dämpfen meine wirren Erregungen an besseren, meine wollmanteldunklen Ängste an schlechteren Tagen. Doch obgleich dieses jetzt an jetzt träge fortschreitende Leben von außen betrachtet erträglich erscheint, hat es einen Bruch erfahren. Ich fühle mich angefasst von einer leisen Ahnung des Sinnverlusts, die durch einen Schrecken ausgelöst wurde, durch die erneute Bestätigung, dass mein Einfluss gering ist, viel geringer, als ich es angenommen hatte. Es ist ein Schrecken, der sich jeder Ordnung entzieht. Erneut weiß ich nicht, wohin. Ist das Verzweiflung?

Ich weiß, dass man sich verzweifelt nicht darüber im Klaren sein kann, ein Selbst zu haben. Ich weiß, dass es die Verzweiflung gibt, nicht man selbst sein zu wollen, und eine andere Verzweiflung, die darin besteht, verzweifelt man selbst sein zu wollen. Ich weiß, dass es eine Verzweiflung gibt, die sich aus wöchentlichen Penny-Markt-Besuchen zusammensetzt, aus dem Warten auf den Monatsersten, die verspäteten Honorare, einen Rückruf von einer der Personalabteilungen, aus dem Warten darauf, dass alles besser werden möge, während man eingeschweißtes Obst in seinen Einkaufswagen legt, vorgeschnittenen Käse, H-Milch, Müsli.

Nun aber sitze ich hier in Punta del Hidalgo, und mir ist, als wäre seit Jahren nichts Bedeutsames geschehen, als hätte ich soeben mein Literaturstudium beendet. Wenig Zeit ist vergangen, seit ich die Masterurkunde im Hörsaal ausgehändigt bekommen und gemeinsam mit meiner damaligen Freundin zwischen den Kommilitonen gestanden habe. Ich erinnere mich an den Geschmack des billigen Proseccos, der für Anlässe wie diesen in der Universitätscafeteria verkauft wird, und ich erinnere, wie es sich angefühlt hatte, von einer Frau geküsst zu werden, die mich wirklich liebte.

Vier Sommer sind seitdem vergangen. Es hatte meine erste Zeit als freier Literaturkritiker gegeben, mein Debüt als Blogger und gelegentlicher Moderator lokaler Lesungen, die mir eine respektvolle Bekanntheit in jenen akademisch-künstlerischen Kreisen eingebracht haben, zu denen mir früher der Zutritt verwehrt gewesen war. Inzwischen rezensiere ich häufiger für überregionale Zeitungen. Manchmal werde ich in eine Radiosendung eingeladen. Ich gebe Seminare an der Bremer Universität.

Anfangs hatte ich mir eingeredet, etwas Großes stünde bevor; inzwischen aber fürchte ich, dass mein Leben in eine Schieflage geraten ist. Ich fühle mich haltlos. Ich weiß: Es gibt keine Sicherheit. Es wird niemals eine Ordnung geben.

Dabei hatte mich immer dieses akkurat Kalte, das blank poliert Untertemperierte angezogen, der stahlgebürstete Chic leerer Lofts, die Objekte des britischen Turner-Preisträgers Damien Hirst, sein in Formaldehyd eingelegter Tigerhai. Meine Altbauwohnung jedoch ähnelt einem Hinterhof-Antiquariat. Selbst gegenüber der kleinen Küchenzeile stehen Bücherregale aus Kiefernholz beinahe deckenhoch. Auf dem Dielenboden im Schlafzimmer, neben dem Bett, stapeln sich Druckfahnen und vom Flohmarkt gerettete Romane aus den 1920er-Jahren.

Zusammengefasst kann ich sagen, dass seit den Jahren an der Universität kaum etwas schlechter, der Wein auf jeden Fall besser geworden ist. Meine Hausbank schickt Angebote für Konsumkredite. Ich bin Besitzer einer Mastercard, und wenn ich mit Freunden losziehe, schaue ich nicht aufs Geld.

Nur will ich nicht mehr komplett frei, ohne Sicherheit durchs Leben gehen. Mir fehlt ein Netz. Oft denke ich darüber nach. Das Denken gibt mir Struktur. Vielleicht ist Denken die schönste aller Tätigkeiten.

So habe ich den Flug nach Teneriffa gebucht: um Klarheit zu finden während einer Reise ins Warme, auf diese Insel des ewigen Frühlings mit den milden Temperaturen im Norden, weg vom Alltag, fort vom Vielleicht. Mit Blick aufs Meer, so erhoffe ich mir, wird sich der Raum des Möglichen weiten.

Die Boeing des Charterflugs war am frühen Morgen bei minus sieben Grad vom Hamburger Flughafen aus gestartet. Ich zahlte an Bord knapp zehn Euro für ein Käsebrötchen und das kleine Radeberger Pils, was mir maßlos erschien. Neben mir saß eine Frau, die laut klagend über ihre Arthrose lamentierte. Hinter mir plärrten Säuglinge. Diese kleinen Kinder, dachte ich, haben Schmerzen, selbstverständlich, es ist der Druckunterschied. Als unsere Maschine vor der Landung in Turbulenzen geriet, übergaben sich drei Passagiere. Es war derart belastend, dass es sich umso besser anfühlte, endlich wieder Boden unter den Füßen zu spüren und in die kanarische Sonne blinzeln zu dürfen. Wie hell es hier doch ist, dachte ich und fühlte mich beinahe glücklich.

Ich stehe auf, um ins Hotel zu gehen, um den Voucher abzugeben und den Urlaub beginnen zu lassen. Draußen ist es heiß, im Inneren aber angenehm kühl. Die geschmackvoll präsentierten Veduten im Vestibül zeigen die Piazza di Spagna in Rom. Vor vielen Jahren war ich mit meiner damaligen Freundin nach Italien gereist, heute fühle ich mich beim Anblick von Bildern wie diesen in eine verdrängte, sehr schmerzhafte Vergangenheit zurückversetzt. Nervös betrachte ich die verwitterten Stadttore, die monströsen Kerker und die halb niedergerissenen Triumphbogen. In einer Vitrine links neben der Rezeption liegen Halsketten, Lava-Anhänger, silberne Füller mit Teneriffa-Gravur. Es gibt nachgemachte Antikvasen aus Glas. In einem anderen Schaukasten liegen blaue Plastiktiegel, sorgfältig angeordnet diverse Sonnenlotionen, Anti-Aging-Cremes. Es gibt Schwämme in Folie, Flakons mit irgendetwas aus dem Meer. Am Hoteltresen wird mir zur Begrüßung ein leuchtend grüner Cava-Cocktail gereicht.

»Hatten Sie eine gute Anreise?«, fragt die Rezeptionistin und schaut wieder in ihr Computerprogramm, bevor ich Zeit finde zu antworten. »Sie werden von Ihrem Zimmer aus direkt aufs Meer blicken«, sagt sie, und ich antworte höflich: »Das freut mich.«

Ich werde gefragt, ob ich einer privaten Einführungsveranstaltung zustimme, »in einer Stunde«, was ich zunächst ablehnen will, bevor ich dann doch nicke, mich bedanke und die Zimmerkarte in meine Hosentasche stecke. Mit dem Aufzug fahre ich hoch in die fünfte Etage.

Im Zimmer steht ein kleiner Obstkorb. Als ich auf den Balkon hinaustrete, sehe ich in einen verschlungenen, nach englischer Art angelegten Garten mit etlichen Palmen – ein grün blühendes Durcheinander, angelegt um einen rechteckigen, in der Mitte liegenden Swimmingpool, in dessen Wasser sich tausendfach blitzend der kanarische Himmel spiegelt. Es gibt Kakteen, Zierbüsche, strahlende Astern, weiße Zantedeschien, Lilien, Sukkulenten, Nelken. Hinter der bewachsenen, aus Lavasteinen errichteten Gartenmauer liegt, etwas tiefer, die Promenade. Es gibt keinen Strand, aber eine kreisrunde Meerespiscina, vom Atlantik halb umschlossen, mit Liegeflächen, die man über eine Steintreppe erreicht.

Ich ziehe mich rasch um und stelle die hochgeschlossenen Winterschuhe in den Wandschrank. Ich steige in meine selten benutzten Flip-Flops, wechsele das T-Shirt und wasche mein Gesicht mit der bereitliegenden Mandelseife. Dann gehe ich hinunter zur Promenade und blicke aufs Meer. Zaghaft kräuseln sich die Wellen. Die See liegt ruhig da.

Wenig später sitze ich wie vereinbart einer jungen, sehr schlanken Spa-Managerin gegenüber und werde auf der kleinen Frühstücksterrasse bei Papaya-Schiffchen und kühlem Wein mit den umfangreichen Möglichkeiten des Fünf-Sterne-Hauses vertraut gemacht. Mir wird ein Gesundheitscheck angeboten, zahlbar mit Kreditkarte am Ende des Aufenthalts. »Sie geben lediglich Ihre Zimmernummer an.«

Die Yogaübungen am Vormittag sind für Hotelgäste kostenfrei, ebenso die Nutzung des Saunabereichs, der von siebzehn bis einundzwanzig Uhr dreißig am Abend zur Verfügung steht.

»Der Stützapparat muss im Wasser lediglich zwanzig Prozent des gewohnten Gewichts tragen, wussten Sie das? Und Ihre Gelenke werden bei der Thalasso-Therapie auf unserer Schwebeliege besonders geschont.«

Die Spa-Managerin entfaltet eine Broschüre, in der tiefblaue Tauchbecken in einem sanft abgedunkelten Raum präsentiert werden.

»Kann man auch nachts schwimmen?«, frage ich und betrachte fasziniert Bilder von Nasszellen, die mit winzigen Kacheln gefliest sind.

»In der Nacht schlafen wir«, sagt die Spa-Managerin. Sie sagt tatsächlich »wir« und redet dann weiter über die angebliche Heilkraft des Atlantiks, »die aufgrund des Salzgehalts von circa dreieinhalb Prozent besonders intensiv ist.«

Die Broschüre zeigt Teilansichten nackter Männer und Frauen, die sich einreiben lassen mit verschiedenfarbigen Salzen und schieferroten Erden. Ich schaue auf ein Unterwasserbild mit unwirklich dahintreibenden Gazetüchern. Die Spa-Managerin sagt, ich könne auf die Dienste eines spezialisierten Teams von Masseuren, Heilpraktikern, Meeres- und Physiotherapeuten zurückgreifen, »ausgebildet in klassischem Ayurveda, in verschiedenen Entspannungstechniken, in Kollagen-Treatments, Metabolic Balance und so weiter. Dafür nutzen wir exklusivste Phytohormone. Ich kann es Ihnen nur empfehlen.« Der leitende Arzt, Herr Prof. Dr. Liedtke, empfange zur persönlichen Sprechstunde von neun Uhr morgens bis um zwölf.

Ich entgegne, dass ich zum Ausspannen und Baden, der Berge und des warmen Wetters wegen angereist sei. Ich fände es befremdlich, im Urlaub einen Arzt zu konsultieren.

Die Spa-Managerin lächelt und nickt auf eine Art, als taxierte sie gleichzeitig meine körperliche Verfasstheit.

Dieser Blick ist mir unangenehm.

Ich weiß, wie abgespannt ich wirke, dass ich mehr Sport treiben müsste, häufiger wieder trainieren, laufen, am heimischen Kanal entlang.

»Sie sind noch jung, viel jünger als die übrigen Gäste im Hause«, sagt sie in einem Tonfall, als wäre eine erste Diagnose abgeschlossen. »Hier kommt jeder wieder zu Kräften.« Sie sei selbst erst sechsunddreißig. »Wir dürften im gleichen Alter sein.«

Daraufhin nicke ich, dabei bin ich drei Jahre jünger.

»Wenn Sie Fragen haben, egal welcher Art, so scheuen Sie sich nicht, mich zu kontaktieren«, ermuntert sie mich. »Meine Nummer steht hier hinten.« Sie überreicht mir die zugeklappte Broschüre und sagt, ich könne gern sitzen bleiben, »schenken Sie sich nach, genießen sie den ersten Nachmittag auf Teneriffa. Das Wetter ist heute überraschend angenehm. In den vergangenen Tagen war es doch recht frisch.«

Ich sitze wenige Minuten allein da, bevor ich das Hotelgelände verlasse, um noch einmal die Promenade entlangzulaufen und endlich eine Kleinigkeit zu essen. Ich finde ein beinahe leeres Restaurant auf der Anhöhe eines leicht ins Meer kragenden Felsens, setze mich und versuche, etwas zu bestellen. Aber niemand spricht Deutsch, keiner Englisch. Also zeige ich auf Tabletts, die von der Küche zum offenen Gastraum hinausgetragen werden. Ich zeige auf gegrillten Fisch, auf Gemüseteller, auf kleine, kanarische Pellkartoffeln, die mit einer puderigen Salzschicht überzogen sind. Ich habe einen gefällig konstruierten Krimi mitgenommen, dessen Inhalt, das stelle ich nach wenigen Szenen fest, nicht vordringen will. Ich lege das Buch zur Seite, schaue besinnungslos auf den Atlantik und rauche die Zigaretten mit dem obligatorischen Smoking-kills-Aufdruck. Ich spüre Unruhe in mir. Ich fühle mich erschöpft, als hätte ich einen langen Kampf ausgefochten; aber mirist ein Moment des Innehaltens vergönnt. Das Leben besteht nicht nur aus ewigem Treiben. Es gibt Plateaus.

Ich zahle, gehe die Promenade entlang zurück zum Hotel, an der glitzernden Piscina vorbei, wo junge Spanierinnen barbusig gemeinsam mit muskulös wirkenden männlichen Teenagern auf ihren Handtüchern liegen. Von Zeit zu Zeit erhebt sich einer von ihnen leichtfüßig und springt ins Becken. Ich schaue ihnen ein paar Züge lang zu, bis sie am anderen Ende des Pools hinaussteigen, um sich rasch abzuduschen. Es werden Schüler sein, oder einheimische Studenten, die weiter oben auf dem Berg ihre Seminare besuchen. Diese jungen Menschen erscheinen mir strahlend schön. Kurz denke ich darüber nach, mich zu ihnen zu legen, obwohl es an der Piscina keinen Schatten gibt. Nur was sollte ich da, warum stören? Es käme einer Peinlichkeit gleich.

Schatten bietet der Hotelgarten, wo ich unter Palmen eine weiße Liege aufstelle. Von dort beobachte ich andere Hotelgäste, folge dem Gang der vielen Seniorinnen mit ihrer bronzefarbenen Haut, den fein gealterten Gesichtern, den ölig-faltigen Körpern in ihren edel geschnittenen Bikinis. Einige dieser stolzen Frauen werden begleitet von Männern, die gebückt neben ihnen hergehen, auch ihre Haut bronzefarben, auch ihre Gesichter fein gealtert. Es gibt einsame Damen, die keine Gatten mehr haben und geflohen sind vor der heimischen Tristesse. Die Erscheinung dieses Ensembles aus Pärchen im Spätherbst ihres Lebens auf der einen und einsamen Damen auf der anderen Seite scheint mir zusammengehalten zu sein von einer schwer zu durchdringenden Esoterik, die darin begründet liegen mag, dass sie alle den Winter an genau diesem Ort verbracht haben, in der Wärme, am Fuß des Gebirges, im Norden Teneriffas, während einer wie ich in Deutschland hatte ausharren müssen, um kurz vor Schluss hier hereinzuplatzen mit seinen Flip-Flops und Fred-Perry-Shirts, damit er den Rest vom guten Fisch nehmen kann, während die anderen längst zum Filet Mignon zurückgekehrt sind. Ich verspüre eine bleierne, meinen gesamten Körper beschwerende Müdigkeit. Nach einer Stunde verlasse ich den Garten. Es ist sinnlos, den weiteren Nachmittag wach zu bleiben. Ich muss ins Zimmer, die Tür hinter mir schließen, zur Ruhe kommen, lesen, schlafen, nichts hören, nichts sehen. Ich habe gegessen, getrunken, aufs Meer geschaut, dreieinhalbtausend Kilometer mit dem Flugzeug überquert und bin über die komplette Insel gefahren. Es gilt, den kommenden Tag abzuwarten.

Als ich Stunden später im Bademantel aufwache, ist tiefe Nacht. Die Balkontür steht offen. Die Vorhänge flattern im kühlen Wind. Ich stütze mich von der Bettkante ab. Wie spät mag es sein?

Ich nehme einen Schluck Wasser aus der Glasflasche, die mir als Aufmerksamkeit des Hauses aufs Zimmer gestellt wurde, drehe vor der Anrichte stehend einen der im Obstkorb liegenden Äpfel, poliere ihn am Frotteestoff des Bademantels und trete essend ins Freie.

Die Flut hat den Ozean aufgewühlt. Hohe Wellen prallen gegen die felsige Küste, überspülen die Mauer des Meerwasserbeckens. Die nachmittags noch spiegelglatt daliegende Oberfläche ist jetzt rau und schäumend. Die Palmen weiter vorn wiegen sich schwer im Wind. Im Garten schimmert der Pool tiefschwarz. Man kann auf seinen Grund nicht hinabblicken.

Ich stelle mir vor, ich kletterte barfuß auf die Balustrade, wagte den Sprung nach vorn. Es ist wie in einem meiner häufigsten Träume, wenn ich von Anhöhen aus weit hinab ins Tal hechte, als könnte ich im freien Fall dem Horizont entgegenstürzen.

Ich habe Höhenangst, tatsächlich würde ich mich das niemals trauen. Ich verliere im Flug die Balance. Ich sehe mich auf dem Stein zerschellen.

Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass ich mit dem Leben davonkäme, würde ich den Rest meiner Zeit unter atemlosem Schmerz fristen. Ich habe eine mächtige, eine unkontrollierbare Angst vor Schmerzen. Mir kommt zwar in den Sinn, dass man solche Dinge nicht an einem Ort wie Teneriffa durchspielen sollte. Aber sie dringen jedes Mal in mein Bewusstsein, wenn ich allein an einer Klippe stehe. Früher hätte ich den Pool mit einem beherzten Sprung vielleicht erreicht. Es ist keine Unmöglichkeit für einen Menschen, der täglich trainiert.

Am folgenden Morgen scheint wieder die Sonne, und ich habe noch ein wenig schlafen können. Die anderen Hotelgäste sind bereits wach. Einige von ihnen schwimmen im Pool, andere schlurfen im Bademantel durch die Marmorgänge, sind auf dem Weg zum Sonnendeck, um an der ersten Yogastunde des Tages teilzunehmen, haben Thalasso- oder Ayurveda-Anwendungen gebucht. Der Frühstücksraum ist leer. Ich nehme mir reichlich vom dunklen Vollkornbrot, das ein deutscher Bäcker aus dem Nachbarort täglich liefert. Ich trage den Teller mit kanarischen Früchten, einen weiteren mit Spiegeleiern, Speck und gegrillter Paprika nach draußen zu den Tischen, wo ich anderthalb Stunden lang in der Helligkeit sitze.

Als ich mich umschaue, bemerke ich am anderen Ende des Gartens eine weitere Terrasse. Sie liegt verborgen, ist von Büschen geschützt. Auch hier sitzen Gäste.

Ich stehe auf, schlendere an den geschwungenen Beeten vorbei und taxiere im gemächlichen Vorbeigehen jenes freudlose Treiben, das sich dort zeigt. Diese Terrasse ist kleiner als die, auf der ich gefrühstückt habe. Stille Gäste sitzen auf Holzbänken und tunken hartes Graubrot in kleine Schalen mit Olivenöl. Sie halten den Kopf gesenkt und kauen mit Bedacht, bevor sie aufschauen, schlucken, mit klarem Wasser nachspülen, dann wieder ein Stück Brot abbrechen.

Ich habe in einer der Hochglanzbroschüren gelesen, dass im Maritim eine entschlackende Darmkur offeriert wird, die das achtsame Einspeicheln der Nahrung, Verzicht auf luxuriöse Mahlzeiten, eine Gemüsebasissuppe am Mittag und lange Spaziergänge in Wassernähe beinhaltet. Diese Spezialbehandlung wird erkauft. Sie sichert die tägliche Zuwendung des leitenden Mediziners, eine stete Überprüfung des Urinstatus und die vorrangige Zuweisung von Sonnenzimmern in den oberen Etagen des Hauses. Das Brot ist angeblich sieben Tage alt. Erscheint es unstatthaft, allzu neugierig hinzusehen? Einige Kurgäste haben bereits entdeckt, wie ich durch die Büsche spähe.

Üblicherweise ebbt die Unruhe erster Tage während der Urlaubsroutine ab. Man findet sein Stammcafé und setzt sich an den immer selben Platz. Man orientiert sich im Dorf, kennt die Öffnungszeiten des Supermarktes, ist ob der Bierpreise an der Hotelbar nicht mehr erstaunt, Ausflüge werden gemäß der Gezeiten verabredet. Man fällt abends erschöpft ins Bett und legt sich unter die dünne Wolldecke.

Manchmal wache ich mitten am Tag auf wegen des Gelächters, das vom Pétanque-Feld herüberdringt, wo britische Touristen glänzende Metallkugeln auf die trockene Sandbahn werfen. Ich konzentriere mich mit geschlossenen Augen auf das gelegentliche Klicken der diskret aneinanderstoßenden Bälle, decke mich wieder zu und falle erneut in seicht absinkenden Dämmerschlaf.

Immer wieder stehe ich im Freien, bin umgeben von Palmen, von langdornigen Kakteen. An den das Hotel umgebenden Anhöhen wachsen in weiteren Parks schmalblättrige Sukkulenten, in deren Schatten Eidechsen und Schlangen leben. Ich schaue die ansteigenden, mit Höhengewinn stets karger begrünten Bergmassive hinauf, fühle mich eingeschlossen zwischen Höhen und Tiefen, umgeben vom Unwirtlichen. Wie irr renne ich durch die wilde Natur. Das ist gut.

Es ist gut, aber es ist nicht gut für immer. Ich verlängere meinen Aufenthalt. Tage reihen sich an Tage, bilden in Kette beinahe einen Monat. Ich arbeite weiter, lasse mir die Verlagsfahnen per E-Mail schicken und lese am Rechner. Ich rauche zu viel. Von den preiswerten spanischen Zigarillos, eine Handvoll für gerade mal drei Euro fünfzig, zucken meine Nerven. Es kommt vor, dass ich tagsüber bei geöffnetem Fenster auf dem Bett liege und vorahnungslos am kompletten Körper aufschrecke, dass ich nachts enerviert am Meer entlangirre, dass mein Kreislauf einsackt, ich in die Hocke gehen muss, mit meinen Fingerkuppen auf dem Asphalt.

Die Abreise rückt näher. Das Apartment daheim bleibt leer. Es wird heiß. Bis in die frühen Morgenstunden finde ich keinen Schlaf. Ich döse ohnehin mehr, als dass ich schlafe. Manchmal nicke ich in einem der Parks unter freiem Himmel ein. Ich taumele, schon mittags vom Orujo betrunken, durch die Gassen. Ich verliere das Gefühl für die Tage, das Datum, die Uhrzeit, für Himmelsrichtungen und Barmittel, für meinen Zigarillo-Vorrat, meinen Hunger. Ich verliere den Blick für die jungen, hübschen Menschen in ihrer knappen Kleidung, für den Unterschied zwischen gutem und weniger gutem Essen. An den Kiosken mit deutschen Zeitungen im Drehständer gehe ich achtlos vorbei. Meine zu Hause eingepackte Lektüre liegt unter Plastiktüten im Kleiderschrank.

Eines nachts gehe ich durch die Straßen, aus der Stadt hinaus in die Peripherie, bevor ich dann im düsteren Winkel eines Hinterhofs lande, vor einer Tür, die sich öffnet, nachdem ich angeklopft habe.

Es ist nur ein Schritt über die Schwelle, dann stehe ich im rot gedimmten Licht des Souterrainraums und erkenne mich kaum im Tresenspiegel wieder, als wäre mein Gesicht das eines anderen. Abseits sitzen, als warteten sie nur auf mich, eine Handvoll Mädchen in schlecht sitzenden Dessous. Ich bin der einzige Gast.

Mir wird Bier gebracht. Die Bedienung sieht müde an meinem Gesicht vorbei. Dann nickt sie den Mädchen zu, bevor sie am CD-Wechsler einen Mix antippt, der nach spanischem RnB klingt, und sich neben mir, viel zu nah, mit zierlicher Hand auf meinem Oberschenkel, eine blondhaarige Frau niederlässt. Ich habe ihr Erscheinen kaum bemerkt. Sie stellt sich vor, ihren Namen verstehe ich nicht.

»With me, come?«, fragt sie, erhöht den Druck auf meine Haut und nennt einen Preis, der erschreckend niedrig ist.

Ich fühle mich verlassen.

Ich möchte nicht sein an diesem Ort. Aber wo hätte ich Gesellschaft in dieser Nacht?

Ich werde es nicht mit mir in Übereinstimmung bringen können am kommenden Vormittag, als ich beschämt in einem Café sitze und mich des Zimtzigarettengeruchs der düsteren Stunden erinnere, die auf eine grammatikalisch falsch gestellte Frage folgten und sich anfühlten wie ein endloses Fallen.

Ich hätte niemals allein fliegen dürfen.

Ich habe sehr viel Geld ausgegeben. Es war nicht nur das Bier zu zehn Euro pro Glas, das ahne, das weiß ich in kurz aufblitzenden Momenten, gegen die kein Verdrängen hilft – und ich will fliehen, vor mir selbst, vor meinen eigenen Blicken, die ich gefühllos in die Scham verschiedener Frauen geworfen habe.

Hinter dem Schleier des Abgespalteten liegen ab jetzt Teile meiner Erinnerung: Wie anders sich Frauen entkleiden, wenn sie für das, was folgt, entlohnt werden, sie tun es zwangsläufig ohne Schüchternheit und bewegen sich dann, ohne jegliches

Zögern, da sie vorgeben, es ginge um wenig. Kein Grund zu beschönigen.

Ich wollte Verführung mit dem Öffnen der Stahltür dieses Etablissements, ich wollte ohne Anstrengung spüren und sehen, was an helleren Tagen höchstens zum Glück gehört nach charmanten Momenten an Tischen italienischer Restaurants, nach wohlgesetzten Worten beim Gang durch blühende Parkanlagen. »Das darf nicht zu dir gehören«, denke ich.

Die letzten Tage verbringe ich hinter geschlossenen Vorhängen im Hotel. Meine Nachttischlampe brennt permanent. Ich lese mehrfach gefaltete Zeitungsseiten, die ich in Bremen eingepackt habe, überholte Feuilletons aus dem Januar, ferne Jahresrückblicke und Sportartikel über bevorstehende Hallenmeisterschaften, die längst stattgefunden haben.

Am frühen Morgen des letzten Tages verlasse ich das Hotel. Ich gehe mit meinen Koffern zum Busbahnhof, wo ich in die Linie zum Aeropuerto Tenerife Sur einsteige. Durch den Morgennebel, meinen Kopf an die taufeucht beschlagene Seitenscheibe des Busses gelehnt, fahre ich über die Insel und hoffe, noch heute einen Flug auf den Kontinent zu finden. Es muss keinesfalls nonstop nach Bremen gehen. Sollte ich woanders ankommen, würde ich ab da den Zug nehmen.

Und dann? Passiert nicht viel. Ich schlafe auf den letzten Kilometern ein. Später sollte ich sogar das Glück haben, für einen Direktflug nicht nach Bremen, aber nach Hamburg einchecken zu können, was ein Zeichen sein könnte, wenn man denn an Zeichen glaubt.

Once

Daheim sehe ich den Poststapel der vergangenen Wochen durch und öffne die Pakete mit den Büchern der Frühjahrsprogramme. Ich putze meine Wohnung, fülle den Kühlschrank und setze mich aufs Sofa, um zu lesen. Stück für Stück komme ich an. Ich beschäftige mich mit den hölzernen Zettelkästen. Ich sortiere beschriebene Karteikarten. Jeder Notiz ordne ich eine Zahl zu. Ich schreibe Schlagworte auf die Rückseite und übertrage sie in einen Index-Kasten. Mal geht es um Zucht, Moral, Form, wenige Karten weiter um Schönheit, Begehren, Ewigkeit.

Ich hatte mit dieser Technik des Sortierens während des Studiums begonnen, in der Hoffnung, eine Struktur für all jene Ideen und Gedanken zu finden, die damals im Stundentakt auf mich eindrangen und kaum zu fassen, zu verbinden waren.

Ich bin erfüllt von der Vorstellung, dass die modernen Internet-Suchmaschinen ebenso wertlos sind wie das Wikipedia-Archiv, weil allein zählt, was der einzelne Mensch, der sich hineinwirft in die Welt mit seiner Neugier, seinem Schmerz und Intellekt, finden kann, was nützlich ist für andere, vor allem aber für sich selbst. Die Welt erscheint im Kopf, nur da kann sie geordnet werden. Ich schreibe Bewerbungen – und mit einer habe ich Glück.

Ende Mai werde ich zu einem Gespräch in einer Hamburger Literaturagentur eingeladen. Der Chef heißt Walter Dierks. Ein wohlmeinender Mann, der sein Geschäft vor wenigen Monaten angemeldet hat, nachdem er jahrelang als Lektor eines wichtigen Publikumsverlages tätig war.