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Julia Jessen

DIE
ARCHITEKTUR
DES
KNOTENS

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Diese Geschichte ist der Zukunft gewidmet.

 

 

FLIEHKRAFT

(Zentrifugalkraft)
bezeichnet in der klassischen Mechanik
den Widerstand, den der Körper nach dem Trägheitsprinzip
der Änderung seiner Bewegungsrichtung entgegensetzt,
wenn er einer gekrümmten Bahn folgt

POESIE

 

 

TENSION

(Druck)
ist ein Maß für den Widerstand,
den Materie einer Verkleinerung des
zur Verfügung stehenden Raumes
entgegensetzt

GESELLSCHAFT

 

 

GRAVITATION

Gravitationskraft
(Schwere)
äußert sich in der gegenseitigen
Anziehung von Massen

LIEBE

 

 

1

DIE JUNGS BAUEN EINE STADT. Seit Stunden schon. Akribisch, hochkonzentriert und mit einer Hingabe, die mich fasziniert im Türrahmen des Kinderzimmers gefangen hält. Sie haben die Vorhänge zugezogen. Durch die dünnen Vorhänge fällt das Licht der Oktobersonne ins Zimmer, schwach und lindgrün. Es ist schon wieder Oktober.

Die Luft ist wie aufgeladen von der fieberhaften Stille und der ungewohnten Einigkeit der beiden Jungs. John ist noch immer in Unterhemd und Unterhose, ich beobachte, wie er, mit rundem Rücken am Boden sitzend, den Kopf tief über die arbeitenden Hände geneigt, geduldig kleine, krümelige Stückchen von der Spitze einer braunen Wachsmalkreide schabt. Mika steht, mit in die Seiten gestemmten Armen, neben seinem großen Bruder, ihn keine Sekunde aus den Augen lassend. Sie scheinen eine klare Vorstellung zu haben von der Stadt, die sie bauen. Sie reden kaum ein Wort miteinander.

Kleine, braune Krümelwürmer fallen von dem braunen Wachsstift auf den Boden und bilden lose Häufchen. John scheint fertig zu sein, er nickt Mika zufrieden zu.

Mika schiebt die braunen Krümel auf ein Blatt Papier und trägt sie vorsichtig zu dem kleinen grünen Handtuch, das in der Mitte der Stadt liegt. Dort stehen Bäume und eine Rutsche, unterschiedliche kleine Plastik-Menschen liegen sorgsam verteilt auf dem Rücken, einer von ihnen liest sogar ein Buch. Ein Park.

Es gibt mehrere Hunde. Mika verteilt die braunen Krümelhaufen auf dem Handtuch und vor jeden Haufen stellt er einen Hund. Er lächelt zufrieden, als er damit fertig ist.

Hundekacke, denke ich. Die Jungs haben sogar Hundekacke gemacht.

Schon gleich nach dem Aufstehen habe ich die beiden Kurven und Linien auf weißes Papier zeichnen sehen. Ich habe nicht gefragt, wofür das ist, war in Gedanken woanders. Mein Blick wandert durch die Stadt. Sie haben fast alles an Spielzeug verbaut. Playmobil, Legoautos, Eisenbahnbrücken, Gebäude aus Bauklötzen, Zäune aus Fisherprice, das weiße Papier haben sie mit Tesafilm zu einem Straßennetz zusammengeklebt, es gibt Ampeln, Schranken, ich sehe sogar einen Zebrastreifen. Es ist perfekt.

Was ist das für eine Welt, die sie da gebaut haben? Ich betrachte die Horde Gummi-Neandertaler, die mit Fackeln, gefolgt von einem Rudel Wölfe, den Zebrastreifen überquert. Ein Playmobilpolizist regelt den Verkehr mit einem Maschinengewehr. Merkwürdiges Bild.

Mitten auf dem Zebrastreifen liegt eine rotbeschürzte Playmobilfrau mit einem Einkaufskorb in der Hand. Sie ist vornübergefallen und liegt dort mit Hintern in der Luft. Irgendwie hat das was Würdeloses. Zusammengebrochen, denke ich.

Auf der anderen Straßenseite, auf einem umgedrehten Schuhkarton, entdecke ich unseren Holzjesus aus der Weihnachtskiste. Er steht auf dem goldenen Playmobiltisch, der zum Ritterschloss gehört, vor ihm, auf einer Ansammlung von Stühlen, sitzen Playmobilkinder, Müllmänner, Prinzessinnen und Ritter, regungslos und alle mit ihren steifen, nach vorn gestreckten Plastikarmen. Auf ihren hochgeklappten Beinen liegen Papierschnipsel … Hefte? Bücher? Denke, das ist wohl die Schule. Warum haben sie Jesus auf den Tisch gestellt? Sie hätten ihn doch auch dahinterstellen können.

Jesus trägt an einem seiner ausgestreckten Holzarme eine kleine Tasche. Lehrer haben Taschen, mit lauter wichtigen Büchern, das kennen sie von mir.

Warum nehmen sie überhaupt Jesus als Lehrer, frage ich mich. Warum haben sie keinen Ninja Turtle genommen?

Auf ungewollte Weise haben sie ein seltsam richtiges Abbild der Welt gebaut, denke ich, während mein Blick weiter durch die Stadt wandert.

Bis jetzt habe ich es geschafft, mich still zu verhalten, obwohl das nicht gerade meine Stärke ist. Super Stadt, Jungs. Toll, dass ihr zusammen spielt. War beides schon auf meinen Lippen. Hab beides wieder runtergeschluckt.

Sie machen nicht den Eindruck, als bräuchten sie meine Zustimmung.

Beim Anblick ihrer schmalen Schultern und Hüften, der nackten Füße, der sichtbaren Hingabe, die ihre Körper ausdrücken, durchläuft mich etwas Zärtliches.

Das ist alles mal aus mir rausgekrochen, denke ich.

In letzter Zeit sind die Gedanken in meinem Kopf sehr laut geworden. Ich höre sie laut und deutlich, so als würden sie zu mir sprechen. Mein Körper steht wie eingefroren im Türrahmen. So angespannt, dass es mir schwerfällt einzuatmen. Versuche, mich wieder auf die Kinder zu konzentrieren. Warum geh ich nicht einfach weg?

Mika ruft John immer mal wieder ein paar Ideen zu und seine aufgeregten Hände wedeln dabei durch die Luft. Ideen, die John gönnerhaft, mit leichtem Kopfnicken entgegennimmt, dann aber ignoriert. Jetzt tritt er einen Schritt zurück und Mikas Arme sinken herab. Ich versuche normal zu atmen.

Die Stadt ist fertig.

Ich folge ihren prüfenden Blicken. John nickt zwischendurch vor sich hin, als würde er etwas endgültig absegnen, seine Lippen sind dabei leicht gekräuselt.

Was denken sie, was die Welt ist?

In allen Häusern gibt es Tische. Und immer eine Familie. Eine Familie hat in ihrer Welt offensichtlich aus vier Leuten zu bestehen, so kennen sie es. In jedem Haus-Kasten vier.

Auf den Tischen stehen Teller und Schüsseln, darauf liegen Fische, Brötchen und Miniaturobst. Schon wieder eine rot bekleidete Playmobilfrau. Sie balanciert einen Kuchen auf ihren ausgestreckten steifen Armen. Natürlich, denke ich. Da ist sie wieder.

Ich denke, das ist doch die Gleiche, die auf dem Zebrastreifen liegt. Ist sie aber nicht, die Andere liegt noch immer auf der Straße.

Hätte ja sein können, dass die mittlerweile nach Hause gekrochen ist und jetzt Kuchen serviert, einer muss es ja machen, denke ich.

Seltsam, dass da überall gegessen wird. Seit die Kinder auf der Welt sind, scheint Essen so etwas Zentrales geworden zu sein. Was essen wir heute? Mama, ich hab Hungerdurstwilleis. Ich kaufe es ein, ich trage es nach Hause, ich schneide es klein, zerteile es, schmiere es auf Brote, brate und koche es, packe es in Brotdosen, stopfe es in Ausflugtaschen, schmeiße es weg, wische es vom Boden auf, trage es zum Müll, wir arbeiten, verdienen Geld, kaufen damit neues Essen. Ja, denke ich, vielleicht hat sich die rote Playmobilfrau auch einfach auf die Straße geschmissen. Vor die Autos. Oder sie wartet auf die Horde Neandertaler, die gerade so zivilisiert den Zebrastreifen überquert. Ein Angebot, sie einfach mitzunehmen.

Ich möchte mich so gern hinschmeißen. Das war kein lauter Gedanke. Es war eine leise Stimme. Meine lauten Gedanken sitzen im Kopf. Vorn, hinter der Stirn. Das eben kam von unten, hat sich angefühlt, als wäre es aus der Brust aufgestiegen, wie der Atem, ganz ohne Ton. Ich möchte mich hinschmeißen. Ja, das möchte ich. Für einen Moment erahne ich die Möglichkeit, nach innen wegzukippen, in eine Tiefe, in der ich die Stimme vermute, aber sofort übernimmt der alte Reflex, es abzuschütteln, das Gefühl des Nachgebens. Richte meinen Blick wieder auf die Jungs.

Ihre Stadt rührt mich. Dass meine Jungs die Tische in den Häusern gedeckt haben, Brot auf die Teller gelegt haben, rührt mich.

Ich habe sie lange beobachtet. Ich denke, sie haben mich hier im Türrahmen vergessen.

Als hätten sie einen Plan gehabt. Als hätten sie ein gemeinsames Bild im Kopf gehabt, so ungewohnt ruhig und zielstrebig wie sie gebaut haben, und das seit Stunden.

»Was wird das?«, ist das Einzige, was ich vorhin mal gefragt habe.

»Eine perfekte Stadt«, hat John geantwortet, ohne mich anzusehen. Beide scheinen zu wissen, was das ist. Eine perfekte Stadt.

Mein Blick wandert durch den Zoo der Stadt, die Jungs haben die Flucht- und Raubtiere sorgsam voneinander getrennt. Sicher ist sicher. Und dann sehe ich den Turm.

Sie haben ihn aus den schmalen Hölzern gebaut, die sie kreisförmig, quer übereinandergelegt haben. Der Turm ist bedenklich hoch. Was soll das sein? Wieso habe ich den bis eben nicht gesehen? Er ist so hoch. Ich hätte ihn eigentlich sehen müssen.

Die Jungs sitzen und betrachten ihre Stadt, in atemloser Stille, keiner der beiden sagt was.

Ich bin ein Riese. Ein Barfußriese. Auf Zehenspitzen laufe ich durch die Spielzeugstadt. Ich kann nicht anders. Lehne mich über den Turm und schaue hin ein. Oben, über der Öffnung liegt ein Netz, das Fußballnetz. Es liegt da wie ein Gitter, denke ich, also ist das ein Gefängnis, oder was? Die Jungs verfolgen mich mit ihren Blicken.

Unten erkenne ich eine Feuerstelle und drum herum sitzt eine Ansammlung aus Superhelden, da sind auch die Ninja Turtles, Drachen sind auch dabei und Gummipiraten, überall an ihnen stecken und kleben Waffen, auch auf dem Boden liegen Waffen. Dynamit sehe ich auch. Und Mikas Zauberstab, er lehnt innen an der Turmwand. Er wirkt überdimensional in diesem Ensemble.

»Gut, dass ihr die da alle eingesperrt habt«, sage ich plötzlich und auch noch viel zu laut, weil sie mich beobachten, weil ich denke, ich müsste was sagen.

»Da können sie der Stadt nichts mehr … ähm antun, oder?«, schiebe ich noch schnell hinterher.

John schaut mich an, ohne erkennbare Regungen in seinem feinen Gesicht.

Dann sagt er, dass die da ja alle nur warten, bis Mika und er mit der Stadt fertig sind, und dass sie die Stadt dann dem Erdboden gleichmachen.

Mika gibt ein Geräusch von sich, das wie ein aufgeregter Seufzer aus einer körperlosen Tiefe kommt. »Ja, die machen gleich Terror«, sagt er dann und lächelt mich an und ich sehe, wie der Wunsch, die Aufregung darüber mit mir zu teilen, kurz durch sein Gesicht geistert, und ich kann sehen, wie ihm der Gedanke kommt, dass ich »kaputt machen« wahrscheinlich nicht so toll finde, und ich sehe, dass er sich von mir abwendet und wie sein Arm sich kurz über seine schmale Brust schiebt, besorgt, dass ich ihm das nehmen könnte, den großen Moment, auf den sie hingearbeitet haben. Darum ging es also.

Ich will etwas sagen, was fragen, aber ich spüre die aufgeladene Spannung im Raum, die Luft, wie verdichtet, ein merklicher Widerstand, als wenn ich in Schlagsahne stehen würde, steifgeschlagene meine ich. Jede meiner Bewegungen scheint Abdrücke zu hinterlassen und das Bild zu stören. Empfindlich spürbar, dass ich da nicht durchlaufen kann, nicht reinreden kann, ohne die ganze Atmosphäre zu zerstören. Ich hätte gar nicht hier sein sollen.

Ich sage nichts.

Stehe nur weiter im Türrahmen.

Meine Jungs haben eine Stadt gebaut.

Eine perfekte, bis ins kleinste Detail ausgetüftelte Stadt, zusammengesetzt aus allem, was sich an Baumaterial, Figuren, Ideen und Vorstellungen über die Jahre in ihren Kisten und Köpfen angesammelt hat. Einzig und allein, um sie zu zerstören.

Was bringen wir ihnen bei? Aufbauen, erhalten, bewahren, schützen, pflegen und in Ordnung halten. Zerstörung von Sachen ist nicht dabei. Nein, natürlich nicht. Wozu sich sonst die Mühe machen.

Aber darauf haben die Jungs sich geeinigt. Nur dafür haben sie die Stadt überhaupt gebaut. Und jetzt ist sie fertig. Und jetzt muss sie weg.

Ich beobachte, wie sie eine Weile damit spielen, die Autos über die Straße schieben, Mika lässt den Polizisten den Verkehr regeln, während John alle Holzampeln auf Rot stellt. Mika lacht.

Ich warte geduldig, denn ich kann fühlen, wie sie sich an die Katastrophe herantasten. Unter ihren Stimmen vibriert eine Aufregung, die mir bis in die Zehenspitzen kriecht.

Normalität, Alltag, etwas, das auf einen Abgrund zuzulaufen scheint. Es ist alles ein Spiel. Ein Experiment. Oder nicht? Eine rote Playmobilfrau steht im Supermarkt, sie trägt zwei Körbe und sieht aus, als würde sie auch gleich umfallen, die andere serviert immer noch Kuchen. Die roten Plastikfrauen haben hier ausschließlich Hausfrauenpflichten.

Ich würde sie gern nehmen und schmeißen.

»Darf ich bitte mal die Butter haben« (zuckersüße Stimme von John)

»Natürlich, sofort, bitte schön.« (zuckersüße Antwort von Mika)

»Dürfte ich die Butter auch gleich mal haben.« (andere Stimme von John, diesmal geflötet)

Ein freundliches Frühstück in einem der Wohnhäuser, während ich die rote Playmobilfrau zertreten möchte, ich möchte sie vor den Augen meiner Jungs zertreten. Aber das ist nicht mein Spiel. Ich bin die, die zuschaut. Und da ist ein zögerlicher Gedanke, der sich ausbreitet, ob ich nicht vielleicht ein besseres Vorbild wäre, wenn ich die Kuchen und Körbe schleppenden Playmobilfrauen einfach wegtreten würde, vor ihren Augen. Ich sollte ihnen unbedingt sagen, dass Frauen auch noch andere Dinge machen, als Essen hin und her zu tragen. Dass ich mal mehr war als das. Bin. Warum sollte das für sie wichtig sein?

Ich bin aufgewühlt. Ihr stillschweigendes Einverständnis, ihre gemeinsame Verabredung zum Befreiungsschlag, ihre Lust auf das Chaos der Zerstörung. Aufgewühlt, von dem Gedanken an ihre Hingabe, eine ganze Welt bis ins Kleinste zu erschaffen, und ihre Lust, sie mit der gleichen Hingabe wieder einzureißen, und davon, dass darin für sie kein Widerspruch zu liegen scheint. Ich starre auf ihre Körper und Gesichter, gierig schon fast, und ich begreife, warum es so sein muss. Und gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht mehr die Freiheit besitze, es so sehen zu dürfen.

Mika ist aufgestanden, eilt zum Turm und steht darübergebeugt, flüstert:

»Jetzt John, sollen wir jetzt schon?«

John beginnt, leise vor sich hinzumurmeln, in unterschiedlichen, ärgerlichen und lustvollen Stimmen, die Pläne schmieden, sich verbrüdern und ihren Ausbruch planen.

Mika hebt den Kopf. »Mama, jetzt musst du aber mal rausgehen. Wir wollen doch jetzt alles kaputt machen …«

Ich fühle mich erwischt. Sein Blick hat etwas Bittendes. Ich dachte, sie lassen mich zuschauen.

Die Jungs gucken mich an, John legt den Kopf schief, ein Ruck in meinem Körper, als hätte mich jemand geschubst. Ich gehe raus, sage nichts, ziehe die Tür hinter mir zu und bleibe mit dem Rücken an die Tür gelehnt, denke gar nichts, warte einfach nur, warte, so wie man auf ein Gewitter wartet, das schon seit Stunden in der Luft liegt. Es ist wie eine Hitze, die sich in mir aufgestaut hat. Ich bewundere die Jungs für ihre Ausdauer.

Die ungebremste Wucht, mit der die Teile gegen die Tür fliegen, das Holz der Tür, das in meinem Rücken wummert, das hörbare Durcheinander der Spielzeuge, die an Wänden und aneinander abprallen, zu Boden fallen, die satten Töne, das Lachen, das tief aus den kleinen Körpern zu kommen scheint, abgelöst von hohen lustvollen Schreien, erzeugt ein seltsam dumpfes Echo in meinem Körper und lässt mich kurz in die Knie sacken.

Die Spannung bleibt in meinem Körper stecken, ich sacke weiter nach unten weg, es gibt keine Entladung für mich. Als ich tief Luft hole, endlich ausatme, kann ich spüren, wie Tränen in mir hochsteigen.

Alles geht vorwärts, nichts hält, nichts bremst. Ich möchte mich hinlegen.

Ich sollte die Jungs jetzt stoppen, denke ich, richte mich auf und ziehe mein T-Shirt nach unten, so halbwegs über die Unterhose, wofür schäme ich mich plötzlich? Habe ich einen Grund? Ich sollte sie davon abhalten, oder? Ich will es nicht aufräumen müssen, sie sollten die Sachen nicht kaputt machen, sollten sie wirklich nicht, schließe die Augen wieder, nur kurz, stelle mir vor, wie es sich anfühlen würde, etwas gegen die Wand zu schmeißen, mit aller Kraft. Ich möchte die Jungs nicht stoppen. Ich beneide sie.

Vorhin hatte ich auf das Gefühl gewartet, das das »Fertigsein« begleitet, den Stolz, dachte, sie spielen mit der Stadt, zeigen sie her, zeigen sie uns, Jonas und mir, damit wir sie bewundern können. Warum bin ich davon ausgegangen?

Jonas kommt die Treppe hoch und das Erste, was ich sehe ist, dass seine Hose offen ist, und ich denke, dass er wohl auf der Toilette war. Sein Tempo überfordert mich nach der ganzen Stille. Und kurz ist da ein Gefühl der Angst. Dass er alles kaputt macht.

»Was ist denn hier los?« Seine Stimme klingt dunkel. Er kommt auf mich zu und seine Hand greift sofort nach der Türklinke. Ich fasse nach seiner Hand und halte sie fest. Ganz fest. Halt meine Hand fest, bitte.

Mein Satz: »Lass sie doch, sie zerstören nur ihre Stadt …«, hängt sinnlos zwischen uns in der Luft.

»Das hört sich aber an, als würden sie das ganze Zimmer zerstören. Ich kann diesen achtlosen Umgang mit den Dingen nicht ab, Yv!« Ich halte immer noch seine Hand fest und durch meinen Kopf schieben sich laute Gedanken. Auf der Suche nach einer Erklärung, nach dem, was ich sagen möchte, durchkreuzen sie sich gegenseitig, brechen mittendrin ab, zerfallen in ein unendliches Für und Wider, und das so schnell:

… nichts davon war achtlos, Jonas (er wird das anders sehen), ganz im Gegenteil, es hatte was Liebevolles (ach wirklich?) … So viele Details, Häuser, gedeckte Tische, Menschen im Park, Hundekacke aus Wachsmalkreide, Jonas! (Warum zerstört man die ganze Arbeit, die man sich gemacht hat?) … weil Zerstörung auch eine Erlösung ist … (ich bitte Dich, Yv!) … die Luft im Zimmer war so … (Gewitter und Hitze sind zu abstrakt, kein Argument) … ist das denn nicht der Lauf der Dinge? Fertig ist fertig, muss dann nicht was Neues kommen … (und deshalb muss man es gleich kaputt hauen?) ja …vielleicht … Ordnung kann auch zerstörerisch sein, Jonas. Sie hält uns davon ab, etwas umzuschmeißen, hält uns fest, man erschlafft in ihren Armen, ermüdet in ihrer Umklammerung und dann kriecht einem das vermiedene Chaos in den Kopf (bist du bescheuert?).

Hab ich dir von den Feuerkeimern erzählt? (Die Feuerkeimer! Ich wollte ihm davon erzählen … längst schon), den Samen, die tief in der Erde ruhen, dort schlafen, hundert Jahre manchmal, die erst nach einem Waldbrand zu keimen beginnen, erst wenn ein Höllenfeuer über sie gewandert ist, wenn der Wald in Schutt und Asche liegt, hast du von denen gehört? (Es ist einfach nicht der richtige Moment für die Feuerkeimer …) Unsere Welt ist so heil, so in Ordnung, aber sind wir nicht unerträglich unerschütterlich geworden? … wo sollen die Jungs Widerstand lernen, wenn sie nicht mal was schmeißen dürfen? … ich war ein Riese in barfuß (Was soll das sein?) … sie dürfen niemals Angst vor dem Chaos bekommen, Jonas … Die Haut der Kinder, vorhin habe ich daran denken müssen, an die Haut ihrer Fersen, wie weich die war, hat das nicht alles aufgewogen, darüber zu streichen? … … … sie schützen zu wollen, vor all dem Bösen in der Welt, wie sehr wir uns immer schützen wollen … (das dauert alles zu lange … was soll das jetzt Yv?) … Ich ersticke in diesem Stillstand … (worum geht es, Yv?) … mir sind eben die Knie weich geworden, als es in meinem Rücken vibriert hat, ich wollte auch was zerstören, schön, deine Hand zu halten (Fass mich an), kannst du die Hand jetzt von der Türklinke nehmen und mich anfassen. Bitte …

Ich bin bei »Fass mich an« gelandet. Denn dort enden meine Gedanken. In dem Wunsch nach Unordnung. Und in diesem Moment verstehe ich, dass ich ihm keine verständliche Erklärung für das anzubieten habe, was im Kinderzimmer vor sich geht. Jonas und ich sind in verschiedenen Sprachen unterwegs und werden uns nicht verstehen. Und ich sage nichts, in diesen wenigen Sekunden, in denen zwischen uns nichts weiter entsteht als ein seltsam langer Moment der Stille, in dem sein Körper in Richtung Kinderzimmer drängt, während meiner sich dagegenstemmt. Leere.

»Lass sie doch … sie wollen doch einfach nur Zerstörung spielen«, sage ich dann und der brüchige Klang meiner Stimme ist mir sofort zuwider.

Ein Satz, der wie kraftloser, trockener Lehm zwischen uns in der Luft zerbröselt. Ich hab das Falsche gesagt. So unzureichend das alles.

Und deshalb sage ich dann auch noch: »Warum schlafen wir nicht mehr zusammen?«

Jonas ist sauer, dreht sich um und geht die Treppe runter.

»Dafür arbeite ich mir doch nicht den Arsch ab, Yv, dass hier am Sonntag, wenn ich noch halb penne, alles zerkloppt wird!«, sagt er, während er nach unten geht.

Hatte ich gedacht, ich könnte etwas heil machen? Jetzt hab ich’s kaputt gemacht.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich so lange schon meine Gedanken vorbeiziehen lasse, sie nicht mehr mitteile. Auch die Wünsche nicht. Wenn ich sie ausspreche, verwandeln sie sich, weil sie Enttäuschte sind, in Vorwürfe.

Im Kinderzimmer ist es still. Die Stadt ist zerstört. Mit Hingabe.

Ich höre sie auch nicht streiten. Warum ist es so still?

Dann höre ich Mika durch die Tür: »Was machen wir jetzt?«

»Wir bauen was Neues«, sagt John ungerührt.

Danach wieder Stille.

Ich knie im Chaos. Die Jungs duschen, das Wasser läuft, trotzdem kann ich sie reden hören, ich höre sogar das Radio in der Küche.

Jemand im Radio sagt, dass selbst die Kühe unter der Zeitumstellung leiden und weniger Milch geben. Im Oktober stellen wir wieder auf Winterzeit um. »Die Zeitumstellung ist ein Relikt der Vergangenheit«, ruft der Mann im Radio aufgeregt, »nennen Sie mir doch einen Grund, die Zeit umzustellen! Warum muss ICH Ihnen denn beweisen, dass das unsinnig ist? SIE müssten mir doch beweisen, warum es sinnvoll sein soll, die Zeit ständig vor- und zurückzustellen, wenn jede wissenschaftliche Untersuchung dagegen spricht.«

Meine Oberschenkel zittern leicht, während ich über den Boden rutsche. Sitze im Chaos und fange an, alles wieder zurück in die Kisten zu räumen. Sortiere und ordne. Alles dorthin, wo es hingehört. Die alte Ordnung. Meine Ordnung. Ich weiß, die Jungs sollten das machen. Ihre eigene Ordnung machen. Aber ich möchte es machen. So wird es nichts mit der Eigenständigkeit, denke ich. Alles wieder an seinen Platz.

»Einmal beschlossen ist immer beschlossen«, ruft der Mann, »die Bereitschaft, etwas Idiotisches zurückzunehmen, ist einfach nicht sehr hoch entwickelt.«

Sie spielen wieder Musik im Radio. Die letzten aufgeregten Worte aus dem Radio bleiben bei mir im Kinderzimmer, ihr Echo begleitet die selbstverständlichen Bewegungen meiner Hände.

Ich erinnere mich nicht mehr, wann es angefangen hat, dass meine Gedanken so laut geworden sind. Wann es angefangen hat mit dem Gefühl von Abstand zu allem, was um mich herum geschieht. Die lauten Gedanken in meinem Kopf markieren diesen Abstand, sie schieben sich unablässig zwischen mich und die Menschen, die Dinge, die Ereignisse. Sie halten mich fern, halten mich davon ab zu wissen, was ich fühle, und dann davon, etwas zu tun oder zu sagen, mit ihrem ständigen Hin und Her.

Ich weiß nicht mal mehr, ob es meine Gedanken sind, sie kommen plötzlich, zählen mahnend auf, was ich zu tun habe (Du musst noch einkaufen gehen! Wenn du jetzt in den Keller runtergehst, darfst du aber nicht vergessen, danach einkaufen zu gehen), geben mir vor, was ich sagen sollte (Sag, dass dir Blumen gefallen), wiederholen es (Hast du dich für die Blumen bedankt?), bis ich es ausspreche (Danke für die Blumen), weil mir nichts anderes mehr einfällt als das, als hätte ich Angst, es zu vergessen, nicht mehr richtig zu funktionieren, als wäre mir alles Selbstverständliche abhanden gekommen, auch meine Zurechnungsfähigkeit, sie wiederholen laut, was ich schon gesehen habe (Die Kinder müssen aber mal Haare waschen), kommentieren es (Aber dringend!), so als müssten sie mich irgendwie in der Welt da draußen halten (Am besten jetzt gleich, noch vor dem Abendbrot) und verhindern, dass ich in mir versinke, zur Ruhe komme, und wenn ich mich darauf einlasse, spalten sie es sinnlos auf, selbst das Alltäglichste (Soll ich es jetzt oder morgen tun? War um will ich es nicht heute tun? Bin ich faul oder gelassen? Wahrscheinlich faul. Wäre ich gelassen, würde ich mich das nicht fragen. Bin ich überfordert? Wahrscheinlich. Blödsinn. Mit Haarewaschen? Warum schaffen es andere, ihren Kindern regelmäßig die Haare zu waschen? Ich bin zu müde. Von was? Ich hab ja noch nicht mal den Kindern die Haare gewaschen …).

Jeder Gedanke zerbricht verzweifelt in zwei Möglichkeiten. Und diese beiden Möglichkeiten dann in vier weitere, bis ich gar nichts mehr weiß. Und manchmal fassen sie den Irrsinn unter einer Überschrift zusammen, so als wäre mein Leben nur ein Bericht, eine Geschichte über bereits Geschehenes. Und nicht mein Leben.

So treiben sie mich durch die Tage, reden auf mich ein, bis ich müde bin, und je lauter sie werden, desto weniger weiß ich, was zu tun und zu sagen ist.

Ich werde immer stiller. Die Sprache ist zu einer Mauer geworden, die ich nicht mehr zu überwinden weiß, und die Bedeutung der Worte ist mir auch verloren gegangen. Ihre festgelegten Bedeutungen sind unzureichend geworden, keines beherbergt Bilder, die davon erzählen können, die einfangen könnten, wie ich mich fühle. Ich bin ein heimlicher Mensch geworden. Einer, der sprachlos hinter einer Mauer haust.

Ich wünschte, Jonas hätte meine Hand genommen. Nicht gedrückt. Gehalten. Es fühlt sich an, als wäre ich neben das Leben gerutscht. Plötzlich sehe ich mich selbst, so als würde ich noch immer da im Türrahmen stehen, sehe mich hier halbnackt, in Unterhose und T-Shirt, auf Knien, zwischen kaputten Häusern und zerstörten Straßen sitzen, mit meinen idiotisch automatischen Händen Playmobilfrauen, Ninja Turtles und wilde Tiere sortieren. Ein Riese in einer zerstörten Spielzeugwelt.

Eine Frau auf Knien. Sortieren und ordnen.

Ich weiß plötzlich, dass ich mich an dieses Bild erinnern werde.

2

WIR HABEN SCHON MAI.

Heute fühle ich mich rosa. Sanft und hell, irgendwie durchlässig. Eine Farbe, mit der ich eigentlich gar nicht gut zurechtkomme, aber heute finde ich’s ganz gut. Verblasstes Rot. Passt doch. Ich bin müde.

Meine Klasse ist auf einem Ausflug im Tierpark und ich habe frei. Habe nicht wirklich verstanden, warum ich nicht dabei bin, kleines Durcheinander wegen der Referendarin, also bin ich nicht dabei und froh darüber. Über die freien Stunden.

Bin heute Morgen trotzdem nicht liegen geblieben. Ich bin aufgestanden und war hektisch, habe Johns Schulbrot gemacht, mit Jonas einen Kaffee getrunken und Mika in die Kita gebracht. Alles mit diesem rosa Gefühl, etwas gut machen zu wollen, es besser zu machen, das Gefühl, mich hinschmeißen zu wollen, loszuwerden. Jetzt sitze ich wieder am Küchentisch und habe nicht wirklich eine Idee, was ich mit dem Tag machen soll.

Ich werde mir ein Kleid kaufen, beschließe ich. Für Ellas Taufe. Am Wochenende fahren wir nach Dänemark. Sven und Mille haben uns zur Taufe ihrer Tochter eingeladen. Ja, das sollte ich tun. Ein Kleid kaufen. Etwas muss sich ändern. Mit einem Kleid kann man schon mal anfangen. Ich gehe einfach los, die Luft ist warm und die Straßen sind voll, die Abgase hinterlassen ein kratziges Gefühl im Hals. Ich laufe die Straße runter, vorbei an vollen Cafés, erstaunlich, wie viele Menschen vormittags in Cafés sitzen. Mehr als ihre Umrisse nehme ich nicht wahr, nur Ausschnitte, Hände, die nach Gläsern greifen, plappernde Münder, alles bleibt verschwommen. Mein Körper fühlt sich an wie ein Schatten, der vorbeigleitet.

Ein Krankenwagen fährt an mir vorbei. »Still und ohne Blaulicht«, der Gedanke ist laut in meinem Kopf und wiederholt sich, versucht, mich zu beruhigen, mich abzulenken. Schafft er aber nicht. Die Erinnerung an den Krankenwagen und an meinen Vater ist schon da. Er lauert ständig in meinem Hinterkopf. Mein Vater.

Ich rufe schnell im Pflegeheim an und sage Bescheid, dass ich nach Dänemark fahre, dass ich meinen Vater am Wochenende nicht besuchen werde, dass sie ihm das bitte ausrichten mögen. Ich hätte es ihm auch selbst sagen können. Aber ich lege auf.

Ich könnte ihn heute auch besuchen. Habe ja Zeit. Aber ich weiß, dass ich das nicht tun werde.

Das Kleid. In meiner Vorstellung ist es jetzt auch schon rosa. Das wäre mal was anderes. Die Straße runter sind zwei Läden, die etwas in der Richtung haben könnten, hoffe ich jedenfalls.

Ich gehe weiter die Straße entlang. Die Erinnerung an das Gesicht meines Vaters kommt mit. Ich kann es nicht vergessen, obwohl es schon einige Wochen her ist. Ich erinnere jede Einzelheit. Die offenen Türen des Krankenwagens und zwischen den weißen Laken ein blasses, fahles Gesicht, schmal, die Augen tief eingesunken, ich habe nur die Hälfte des Gesichts gesehen.

Der Körper des Mannes war bis zum Hals zugedeckt. Ich weiß nicht, woran ich es erkannt habe, aber ich denke, es war der Ausdruck in seinem Gesicht, das Entrücktsein in seinem Blick, der mit nichts mehr in Verbindung zu stehen schien, die gelöste Spannung in seinen Zügen. Sein Blick schien auf etwas gerichtet zu sein, etwas, das gleichzeitig außerhalb von ihm lag und dennoch von innen zu kommen schien. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, länger habe ich ihn nicht gesehen und doch wusste ich, dass er der dem Tod näher war als dem Leben.

»Sie sollten kommen, es könnte gut sein, dass es mit Ihrem Vater zu Ende geht«, hatte der Pfleger am Telefon gesagt. »Eine Lungenentzündung in Kombination mit Parkinson, damit ist ja nicht zu spaßen.«

Mein Auto hatte ich quer über den Fahrradweg geparkt, mit Warnblinker, ich bin an dem Krankenwagen vorbei und am Empfang, bin hochgehastet in den zweiten Stock der Seniorenresidenz, den Gang entlang zum Zimmer meines Vaters.

Als ich die Tür öffnete, war das Zimmer meines Vaters leer. Die Nachttischlampe brannte, da lag sein Telefon und ein verschmiertes, schmutziges Wasserglas stand unter dem Licht der Lampe. Die Bettdecke lag eilig zurückgelassen auf dem Boden.

»Ihr Vater ist eben abgeholt worden, also der Krankenwagen, stand gerade noch draußen«, sagte der Pfleger in meinem Rücken. »Ich gebe Ihnen gern die Adresse vom Krankenhaus.«

Erst als ich wieder im Auto saß, mit Blick auf die leere Einfahrt, habe ich begriffen, dass es mein Vater war, den ich eben im Krankenwagen gesehen hatte. Dass ich in das Gesicht meines Vaters geschaut hatte, ohne es zu erkennen.

Das Gesicht, das zwischen den weißen Laken gelegen hat, verlässt mich nicht mehr. Ich sehe es, wenn ich ihn besuche. Ich sehe es jetzt. Ständig taucht es auf, ohne Vorwarnung.

Mein Vater und ich reden wenig. Wir haben nie viel geredet. Seit meine Mutter nicht mehr lebt, noch weniger. Er ist verwirrt. Manchmal ist er ganz klar und dann plötzlich fantasiert er, redet die seltsamsten Dinge, er erkennt mich, aber er erzählt mir Geschichten über mich, die nicht stimmen. Ich glaube jedenfalls, dass sie nicht stimmen.

Wenn seine Erinnerungen durcheinandergeraten, spricht er zu mir wie zu einer Fremden.

Ich versuche, das vertraute Gesicht meines Vaters in seinen von der Krankheit starren Gesichtszügen ausfindig zu machen, weil ich nicht mehr weiß, worauf ich reagieren soll. Auch wenn er sich mir immer auf seine Art entzogen hat, versteckt hinter diesem unbestimmten, freundlichen Lächeln, das nie sein Gegenüber zu meinen schien, aber das kannte ich, darauf waren meine Geschichten, mein Tonfall, jede meiner Bewegungen eingestellt, wenn wir aufeinandertrafen. Ich konnte mit ihm immerhin über das Wetter reden, die Kinder oder wir redeten über das Essen.

Seit ich diesen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen habe, weiß ich nichts mehr zu sagen. Er ist ein Unbekannter geworden. Ich sehe ihn an und verstumme. Warum habe ich ihn nicht erkannt? Wie konnte es sein, dass sich ein fremdes Gesicht in die vertrauten Gesichts züge meines Vaters eingeschlichen hatte? Wo war das fremde hergekommen? War es der Krankheit geschuldet? Etwas Dazugekommenes? Oder etwas Altes? Ihm schon lange Vertrautes? War es vielleicht schon immer da gewesen? Verborgen unter seinem anderen Gesicht, das mit uns gelebt hatte? War es der Ausdruck eines heimlichen Fremden in ihm gewesen, der aufgetaucht war, der seine Chance gewittert hatte, einen Blick nach draußen zu werfen, in die Welt, in diesem Moment der Schwäche, als meinem Vater sein unbestimmt lächelndes Gesicht entglitten war? Ich wünschte, ich hätte den Mut, ihn danach zu fragen. Zu fragen: Wer war der Mann, den ich da gesehen habe?

Ich bin sicher, er würde mir nicht antworten. Ich bin auch gar nicht sicher, ob ich die Antwort hören möchte.

Seit diesem Tag weiche ich unseren Treffen noch mehr aus, als ich es eh schon getan habe.

Direkt vor dem ersten Laden, den ich ansteuere, hat eine Galerie eröffnet. Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Ich bleibe vor dem großen Fenster stehen. Der Raum scheint L-förmig zu sein, verläuft schmal nach hinten und dann, nicht mehr einsehbar von hier, nach rechts um die Ecke. An der rechten Seite des schmalen Vorderraumes steht ein wellenförmig geschwungener Tresen. Weißlackiert und irgendwie unpassend. Es scheint niemand da zu sein.

Mein Blick streift über ein Bild im hinteren Teil der Galerie und bleibt daran hängen. Mir direkt gegenüber, an der hinteren Wand des Raumes, hängt das Bild einer Frau.

Sie steht in einem Garten, glaube ich, zwischen Bäumen und Sträuchern, und einem Haufen Müll, oder was ist das? Auf die Distanz und durch die Spiegelung in der Fensterscheibe ist das schwer zu erkennen.

Sie steht neben einem Baum, ihr linker Arm ist ausgestreckt und ich sehe ihre Augen.

Ich denke, ich sehe ihre Augen, mein Blick wird sofort von ihnen angezogen, aber eigentlich sehe ich sie nicht richtig. Spüre sie mehr, als dass ich sie sehe. Stehe hinter der Fensterscheibe und starre ihr ins Gesicht. Als wäre sie eine Erscheinung.

Mein Oberkörper spiegelt sich in der Fensterscheibe und für einen Moment starre ich durch meine eigenen Umrisse hindurch auf die Frau im Hintergrund und plötzlich scheint es mir, als würde ihr Körper heranzoomen, als würden sich unsere Körper übereinanderlegen und verschmelzen, ich spüre eine fremde Spannung in meiner Brust, eine leichte Verschiebung der Körperhälften in ein Vor und ein Zurück. Es ist, als würden wir verharren, in dieser gegenseitigen Anziehung. Das leichte Heben in ihrer Brust, unser Abwarten, ich spüre es mehr, als dass ich es sehen kann. Ich kenne dieses Gefühl, den gehaltenen Atem, das Abwarten, wenn man »dazwischen« ist, in diesem leeren Raum zwischen dem Gedanken »etwas zu tun« und dem Moment, in dem man es »tatsächlich tut«. Die Spannung der Verzögerung, die sich zwischen Gedanke und Bewegung ausbreitet und den ganzen Körper ergreift. Ich erkenne es auf dem Bild. Wie in einer Spiegelung.

Etwas an ihrer Körperhaltung lässt mich denken, dass sie ihre Hand nicht nach etwas ausstreckt, was sie sieht.

Das Gesicht meines Vaters schiebt sich vor das Bild. Seine Augen. Die gleiche seltsame Leere, denke ich plötzlich. Ich muss das Bild aus der Nähe sehen.

Als ich die Galerie betrete, finde ich es erstaunlich kühl. Es riecht nach einem starken Aftershave/Eau de Toilette … was auch immer. Ein guter Geruch. Klar und frisch.

Ein Geruch, bei dem ich unwillkürlich ans Duschen denken muss, an feuchte Haut, die man abtrocknet und eincremt, in dieser versunkenen Intimität, die man nur hat, wenn man unbeobachtet und allein mit seinem Körper ist.

Mir gefällt das. Es tröstet mich. Frisch geduschte Menschen sind umgeben von dieser Wolke aus warmer Luft, die ihnen noch aus der Haut strömt. Wenn sie mit diesen Wolken an mir vorbeiziehen, fühle ich mich ihnen seltsam nahe, den Fremden. In diesen Momenten schweigen auch kurz die Gedanken in meinem Kopf.

Niemand steht hinter dem Tresen, in der rechten Wand ist eine Tür, jemand wird wohl da sein, denke ich. Ich möchte nur schnell etwas überprüfen, möchte mit niemandem sprechen, hoffe, dass derjenige, der hinter der Tür ist, nicht herauskommt.

Hastig gehe ich auf das Bild zu, kurz davor bremse ich ab und mache einen letzten, seltsam langsamen Schritt nach vorn. Es hat etwas ungewollt Ehrfürchtiges, wie ich hier stehe.

Als sich die Tür der Galerie hinter mir schließt, wird es schlagartig still.

Ich sehe den Verkehr und die Menschen, die draußen vorbeiströmen, als ich mich kurz umdrehe. Still wie in einer Kirche.

Das Bild hängt etwas höher, sodass ich den Kopf heben, zu der Frau hochblicken muss.

»Eva hysterisch« steht auf dem Schild neben dem Bild. Aha.

Die Augen der Frau sind weit geöffnet, ich starre hinein und es fühlt sich schamlos an, wie ich in ihren Blick hineinfalle. So starrt man niemanden an.

Ihr Blick ist leer. Das, was sie sieht, befindet sich offensichtlich nicht in der Welt.

Sie ist nicht anwesend. Sie würde mich nicht sehen, selbst wenn sie echt wäre.

Ihr Körper ist entspannt. Sie steht und schaut. Ich kann nicht erkennen, was daran hysterisch sein soll.

Ihr linker Arm ist nach vorn ausgestreckt, aber ihre Hand greift nach nichts … eher so, als würde sie gezogen werden, als hätte ihre Hand sich selbstständig gemacht, losgelöst vom Körper.

Ihr rechter Arm dagegen hängt seitlich herab, völlig untätig. Ihr Körper ist weich und verweilt noch, ist noch nicht im Aufbruch. Nur ihre Hand … von etwas angezogen, zieht die linke Körperseite leicht nach vorn. Deshalb die Verschiebung in ihrem Körper.

Sie trägt ein Kleid. Vielleicht hatte es mal eine Farbe, aber das ist nicht wirklich zu sagen, es ist vielleicht nicht mal grau. Eher schmutzig. Sie trägt keine Schuhe und helles, blondes, kurzes Haar. Reste von Lippenstift sehe ich, glaube ich, der Mund sieht verwischt aus. Während ich sie betrachte, tastet sich mein Körper in ihre Körperhaltung hinein und wieder kann ich fast spüren, wie ruhig und flach ihr Atem wohl gehen muss. Etwas scheint sie fortzuziehen. Was ist das dort hinten?

Mein Blick schwenkt ruckartig in den Hintergrund des Bildes. Ich bin wieder bei mir. Unsanft aufgetaucht. So als hätte ich eben kurz geschlafen.

Der Garten ist groß und verwildert. Die meisten der Farben, die hier benutzt worden sind, haben etwas leicht Schmutziges, grau und braun, beige, alles sieht vertrocknet und welk aus, nur das Grün leuchtet an manchen Stellen. Es sind viele verschiedene Grüntöne, helle und dunkle. Das Haus dahinter wirkt klein und zugewachsen.

Viele Büsche, Bäume, Sträucher und verwelkte Pflanzen. Dazwischen stehen aber auch ein Tisch und ein Bett, ich sehe auch umgekippte Stühle, Kisten und Kästen, einen Herd und einen Garderobenständer mit Mänteln. Der ganze Garten ist voll damit. Die Möbel sind nur mit Strichen gezeichnet, wie ein erster Entwurf, nur die Konturen, zarte graue Linien, sie verschwinden fast im Dickicht der Sträucher und Büsche.

Die gesamte Einrichtung scheint im Garten zu stehen. Vor dem Haus. Ich sehe ein kleines Fenster, aber keine Tür. Das Haus hat keine Tür.

Der Tisch steht schief, an den Stühlen fehlen Beine. Das meiste ist zerbrochen.

Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll. Hat sie die Sachen in den Garten geschmissen?

Durch das kleine Fenster? Mit Kunst kenne ich mich nicht aus.

Was tut sie da in ihrem Garten? Vielleicht ist es ja auch gar nicht ihr Garten. Ich frage mich, woran sie denkt, denn offenbar denkt sie doch an etwas … vielleicht an etwas, das gerade geschehen ist? Etwas, das zu dem Müll im Garten geführt hat? Oder an etwas, das vor ihr liegt, das sie anzuziehen scheint? Vielleicht steht sie unter Schock? So sieht sie allerdings nicht aus. Vielleicht wartet sie auf jemanden … Ich möchte unbedingt wissen, woran sie denkt. Was tut sie da? Es fühlt sich an wie ein Rätsel, das ich lösen muss. Ich muss es verstehen. Der Kopf der Frau ist leicht nach links geneigt, ihr Blick geht eher nach oben als geradeaus, aber ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht zuordnen. Was für ein Zustand soll das sein? Sie ist nicht traurig, nicht fröhlich, weder gelöst noch angespannt, auch nicht verträumt. Nichts davon. Sie ist leer. Und auch das ist falsch.

Ich starre so angestrengt auf das Bild, dass ich nicht mitbekomme, dass der Galerist offensichtlich schon eine Weile hinter mir steht. »Tolles Bild, oder?« Seine Stimme bricht so rasant in meine Stille ein, dass ich ihn vor lauter Schreck einfach ignoriere. Starre weiter in das Gesicht der Frau und wünschte, er würde weggehen. Ich sollte was sagen. Wenigstens mit dem Kopf nicken. Ich muss jetzt was sagen. Kann nicht rumstehen und nichts sagen. Bin unhöflich. Ich habe nichts zu sagen und halte mich mit dem Blick am Gesicht der Frau fest.

Ich finde auch, dass »toll« kein angemessenes Wort für dieses Bild ist.

»Toll« ist ein quirliger Nachmittag mit Kuchen oder ein buntes Fest mit Luftballons, ein Wort, das man benutzt wenn Kinder eine Schnecke malen. Zu diesem Bild passt es jedenfalls nicht.

»Da bin ich mir nicht sicher«, sage ich dann.

Der Mann, der hinter mir steht, sieht aus wie der Typ Mann, mit dem ich mich nicht auskenne. Wie jemand, der Drogen nimmt (wie komme ich bloß auf so was?) oder wenigstens genommen hat, einer, der als Jugendlicher Autorennen gefahren ist, so einer (was lässt mich das denken?). Die Lippen sind es. Schmal und fest. Sie haben etwas Schonungsloses, der Zug um seinen Mund etwas Abgründiges. Er trägt einen schmalen Schnurrbart, seine dunkelblonden Haare sind streng zurückgekämmt und seine blauen Augen werden zu schmalen Schlitzen, als er lächelt.

Wir stehen ein bisschen seltsam voreinander, er zuckt mit den Schultern und lächelt noch mal, so als hätte ich etwas nicht verstanden. Mein Gesicht ist heiß.

»Ich wollte mir nur mal kurz das Bild ansehen«, sage ich, »von draußen sieht man es so schlecht.« Er macht »Mmh« und verschwindet hinter dem Tresen.

Ich bleibe vor dem Bild stehen und denke, wahrscheinlich wird sie ihrer Hand hinterhergehen. Wie eine Schlafwandlerin vielleicht.

»Sie sagen mir, wenn ich Ihnen helfen kann, ja?« Es klingt als würde er genau das Gegenteil meinen. Ich nicke und gehe dann einfach raus.

Ich will das Bild haben.

3900,– Euro hab ich gelesen. Das wird also nichts.

»Kann ich helfen?«, fragt eine unsichtbare Stimme, als ich halbherzig versuche, ein Kleid von der Stange zu zerren, dessen Kleiderbügel sich mit mehreren anderen verhakt hat. Ich bin frustriert. Zwei Kleider sind schon auf den Boden gerutscht.

»Ja, wenn du tot umfällst«, denkt es laut in mir. Und dass ich gemein und ungerecht bin, denke ich gleich hinterher.

Eine zwanzigjährige Verkäuferin mit pinken Haaren, höchstens zwanzig, nähert sich und gibt mir das rosa Kleid, an dem ich zerre, in einer anderen Größe. Ich kann mich nicht erinnern, danach gefragt zu haben. Sie muss mich beobachtet haben. Es hat einen tiefen Ausschnitt und ist schmal geschnitten, ganz schlicht. Eigentlich ein schönes Kleid. Es hängt wie ein Fremdkörper auf dem Bügel an meinem ausgestreckten Arm. Das Mädchen dreht sich um und verschwindet wieder.

Ich geh in die Umkleidekabine und schlüpf rein. Es endet kurz unter dem Knie und alles, was bei mir nach dem Knie kommt, sieht ganz okay aus. Ziehe die Stiefel aus und stehe barfuß in einem rosa Kleid vor dem Spiegel.

Ich hab keine Ahnung, was man auf einer Taufe tragen sollte.

Ich mag Kleider nicht besonders. Jetzt habe ich es mir aber in den Kopf gesetzt, dass ich auf der Taufe ein Kleid tragen werde. Ich mag Jeans und Hemden. Kleider enden für mich meistens auf der falschen Höhe. Man sieht einen ungünstigen Ausschnitt vom Bein, bei mir ist das definitiv der Fall. Ich bin kräftig. Damit meine ich nicht dick. Meine Arme und Beine sind muskulös, als würde ich Tennis spielen oder schwimmen. Was ich nicht tue. Ich bin einfach so. Meine Stimme ist dunkel und direkt. Und laut. Ich weiß das, aber ich kann es nicht ändern. Jonas macht sich darüber lustig, dass ich nicht flüstern kann. Nach Johns Geburt, John, der nie einschlafen wollte, hat Jonas mir abends verboten zu reden. »Sei still, Herrgott, du weckst ihn noch auf.«

Ich stehe mir gegenüber. Im Spiegel. Es muss seltsam aussehen, wie ich mich anstarre. Ich denke, nichts ist weiter weg von einer Elfe als das.

Ich habe eine Schwäche für Elfen.

Sie beobachtet mich, seit ich aus der Umkleidekabine raus bin.

»Wissen Sie, was Sie dazu tragen müssen?« Ohne abzuwarten, steckt mir das pinke Mädchen einen Blumenkranz ins Haar. Kleine, bunte Plastikblumen und Perlen, hinten irgendwas mit Tüll. »Flowercrown. Voll in gerade.«

Das Bild im Spiegel löst eine seltsame Qual aus. Da steht eine verkleidetet Frau und starrt sich selbst an. Mit Blumen im Haar.

Ich frage mich, wozu? Wozu soll ich mir einen Blumenkranz ins Haar stecken?

Was ändert das? Sie kann sich das gern selbst ins Haar stecken. Bei ihr wäre es ein Versprechen, oder eine Hoffnung, wenn man es zynisch betrachten möchte. Bei mir ist es einfach nur albern.

Ich nehme das Ding von meinem Kopf und gebe es ihr zurück.

Ich bin ganz ruhig. In meiner Vorstellung waren hysterische Frauen immer welche, die schreien und mit den Armen um sich schlagen. Vielleicht stimmt das gar nicht.

»Och schade, ich finde, Sie sehen damit aus wie eine Elfe«, sagt sie. Hat sie das eben wirklich gesagt? Ja. Damit hat sie mich natürlich voll am Arsch. Keine Ahnung, warum ich immer eine Elfe sein wollte, aber das wollte ich. Immer schon. Wahrscheinlich weil ich mich eher wie ein Trampeltier fühle. »Du musst Ballett machen!«, hat meine Mutter immer gesagt, »dann kriegst du Eleganz.« Ballett hab ich nie gemacht.

Ich kaufe die Flowercrown trotzdem nicht, dafür aber das Kleid. Es ist ein gutes Rosa, finde ich. Es besteht nicht darauf, rosa zu sein. Es ist ein indirektes Rosa. Ein passives Rosa. Kein klares Bekenntnis. Zu gar nichts. Wahrscheinlich ist es passend.

Als ich wieder an der Galerie vorbeihaste, sehe ich den Galeristen von hinten. Er hat die Hände in die Hüften gestemmt und unterhält sich mit einer Frau, die unter jedem Arm einen Hund trägt.

Ich möchte mein rosa Kleid anziehen und mich danebenstellen. Passiv aggressiv. Also noch mal anders. Ich möchte ein Leben haben, in dem es Sinn macht, ein rosa Kleid anzuziehen und sich danebenzustellen. So rum.

Ich bin doch da! Oder etwa nicht? Bin ich doch. Warum will ich mir ein Kleid anziehen und mich danebenstellen. Neben Bilder. Neben Galeristen. Neben mich. Was soll denn das?

Freitag fahren wir los. Zu Sven und Mille, zu Ellas Taufe, nach Kopenhagen.

Ich freue mich darauf. Ich freue mich hauptsächlich darauf, wegzufahren. Mit Jonas und den Jungs. Keine Ahnung, ob ich das rosa Kleid anziehen werde.

3

ICH WACHE AUF UND FINDE, dass ich in einer merkwürdigen Position liege.

So gerade und steif, so wie eine Tote. Wie eine Tote, die man mit einem Zettel am Zeh aus einem Kühlregal gezogen hat, denke ich. Ich liege einfach nur da und hab dieses Bild von mir im Kopf. Wie ich so liege. Bewegungsunfähig.

Mein Kopf sinkt auf die linke Seite und ich kann den Regen sehen, der an der Fensterscheibe herunterläuft. Und die Sonne dahinter. Ein kurzer Blick nach rechts, auf den Wecker, kurz nach acht. Ich drehe den Kopf wieder zum Fenster. Regen an Fensterscheiben ist etwas, was mich an früher erinnert. Lange Autofahrten. Das Auto meiner Eltern. An einen verklebten Bauch von zu vielen Süßigkeiten.

In Gedanken fahre ich mit dem Finger die Bahnen der Regentropfen nach. In solchen Dingen konnte ich früher versinken, die Zeit vergessen.

Zeit ist kein guter Spielkamerad mehr, finde ich. Früher hat sie sich vor mir ausgebreitet wie Phantasien in der Unendlichen Geschichte. Unendlich eben. Zeit war etwas Dehnbares und gleichzeitig war sie zusammenfaltbar. Man konnte in ihren Falten verschwinden, die ganze Welt konnte man darin verschwinden lassen, einen Stein im Garten umdrehen und eine Welt aus Tausendfüßlern und Spinne neiern war plötzlich das Eingangstor in eine völlig neue Zeitzone.

Zeit war ein dehnbarer Begriff. Noch gar kein Begriff eigentlich. Im Grunde war sie ohne Bedeutung. Ich sollte aufstehen.

Jetzt ist Zeit etwas, wogegen ich ständig kämpfen muss. Sie läuft mir davon, sie geht einfach vorbei, ohne sich zu verabschieden. Manchmal stehe ich im Wohnzimmer und stelle fest, dass mir schon wieder mehrere Jahre abhanden gekommen sind. Einfach weg. Regen ist kein Schlupfloch mehr, durch das ich ihrem Takt entgehen, bei dessen Betrachtung ich ihr unbeirrbares, stoisches Ablaufen vergessen könnte. Es ist einfach nur Regen. Er läuft an meiner Schlafzimmerscheibe herunter, und ihn dabei zu betrachten, macht mich nervös. Ich muss wirklich aufstehen.

Weil ich Salate machen muss. Zwei. Für den einen muss ich vorher noch Kartoffeln kochen. Inge hat mich gestern angerufen. Wenn Jonas’ Mutter mich anruft, geht es meistens um Essen. Zwei Salate soll ich mitbringen. Wir grillen heute. Ich denke kurz über all das Müssen und Sollen nach, das ständig in meinen Gedanken vorkommt, aber ohne wirkliches Ergebnis.

Ich schaffe es nicht aufzustehen.

Vielleicht ist es so, denke ich, seit wir die Zeit in Uhren gesperrt haben. Dass wir ihrer nicht mehr wirklich Herr werden können. Sie gehört uns nicht mehr.

Ich bin unsagbar müde. Die Müdigkeit ist das Schlimmste.

Jonas schläft, seine Arme liegen verschränkt hinter dem Kopf, als würde er für ein Foto posieren. Da ist kurz der Impuls, ihm durchs Haar zu streichen, das tue ich aber nicht. Weil ich keine Zeit dafür habe. Weil ich Salate machen muss.