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MICHAEL BRATUSA

Hahn oder Henne?

Über das Buch

Kein Spiel, Schoasch, nein, nicht spielen. Ich sehe bloß ein, dass es richtig ist, dir nur beizustehen. Du wirst uns aus diesem Höhlengefängnis bringen. Als Lisa diese Zeilen zu Papier bringt, blickt sie bereits auf die unerbittlichsten Jahre ihres Lebens als Schriftstellerin zurück; auf die Entstehung ihres Debütromans. Es ist eine surreale Dystopie, in die sie sich unbemerkt verstrickte. Die Ausrottung der Unterschicht; kolossale Hühner, die den Vor-Herren, den Untertanen des Königspaars, im Krieg gegen die Mittelschicht dienen; sowie ein Künstler und ein scheinbar dummer Hüne, die als Gefangene im Untergrund des Welt-Zentraltheaters aus den Leichen Porzellanpuppen kreieren. Man ist förmlich verzückt über das Auftreten des altweisen Lektors, der mit Lisa in atmosphärischen Gesprächen das edle Handwerk des Schreibens ergründet. Und Alice? Ja, wer ist sie eigentlich?

Michael Bratusa

HAHN ODER HENNE?

Roman

© 2018 Michael Bratusa

Alle Rechte vorbehalten

Zweite, überarbeitete Auflage, Wien 2018

Lektorat und Korrektorat: Nina Hula

Cover: Michael Bratusa (mit freundlicher Unterstützung von Andrea Plesnitzer und Matthias Bauer)

Satz und Layout: Michael Bratusa

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Hardcover 978-3-7469-5600-8

e-Book 978-3-7469-5601-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

GEWIDMET

Nina Hula

für deine kostbare Freundschaft sowie dein unermüdliches Engagement und deine Courage Belangvolles geradeheraus anzusprechen.

DANKE

meiner Oma,

für deine Hilfe in schweren Zeiten meines Lebens,

meiner Familie,

für die Möglichkeit, mich zu entfalten,

meinen Freundinnen und Freunden,

für euren Glauben an mich und meine Schriftstellerei,

und allen Menschen, die mich auf meinem Weg unterstützt und begleitet haben.

Mögen alle Vögel fliegen.

WER WILL WAHRHEIT

Es ist kalt und stürmisch, in den Straßen riecht es nach Tod. Kadaver verwesen zwischen Ruinen und sondern ätzende Dunstwolken ab. Ein wildes Rudel Überlebender der Unterschicht schart sich um das Aas und streitet um verdauliche Fetzen. Ich schieße ein Foto. Faszinierend: die notinduzierte Rückkehr des Menschen zu seinen Trieben. Erneut sind wir Tiere geworden.

Unterkühlt betrete ich das Restaurant und werde sogleich höflich empfangen. »Guten Abend, der Herr, Ihr Ankommen wird ungeduldig erwartet. Ich darf vorangehen?« Dem Oberkellner genügt mein Nicken. Auf Irrwegen führt er mich durch ein undurchsichtiges Netzwerk von Gängen. Hinter Vorhängen wird geschlungen.

Beim Separee finden wir an der gläsernen Tür einen losen Haftzettel vor.

ZUTRITT VERBOTEN!

Ich beruhige den Oberkellner. »Ein Scherz unter alten Bekannten, seien Sie unbesorgt deswegen. Herta ist gewiss wieder in rätselhafter Gemütsverfassung; ich kenne sie nicht anders. Lassen Sie den Zettel ihr zuliebe kleben.« Oder Ihnen zuliebe, denke ich und rate ihm, auch die Belegschaft darüber zu informieren. Er nickt, öffnet für mich das Separee und empfiehlt sich. Ich hole mehrmals tief Luft, trete ein und begrüße Herta Bruhns und Sepp Goldfisch. Ein störrisches Pärchen, das ich, mehr oder weniger bewusst, eine Weile mied. »Herta Bruhns und Sepp Goldfisch! Nett, euch wiederzusehen. Unter uns: Wie lange ist es her?«

»Lange«, sagt Herta, ohne sich zu regen.

»Deine Lippen versprühen schon wieder diese Kälte, erfüll sie mit Herzlichkeit! Wir sehen uns so lange nicht und du ziehst dasselbe Gesicht wie immer. Harte Zeiten haben für jeden auch etwas Gutes.«

»Dann leben wir in einer Parallelwelt. Mich befällt Panik, wenn ich an diesen Tieren vorbei muss.«

»Es werden außerdem permanent die Quoten auf ihr Untergangsdatum korrigiert!«, gerät Sepp in Rage. »Ich besitze Wettscheine auf den 18. Mai mit der Quote 1:425 und dazu welche für denselben Tag mit 1:1,12. Verstehst du? Derselbe Einsatz. Dasselbe gilt für unzählige Tage. Passiert es nicht bald, ist die Freude dahin.«

»Ihr bringt ja beste Laune mit. Verzeiht mir, dass ich es aufschob, euch zu treffen, es hätte – «

»Bestellen wir lieber.«

Schleunigst hänge ich meinen Mantel auf und nehme Platz. Den Fotoapparat lege ich auf den freien Sessel neben mir. Ein Kellner hastet an unserem Separee vorbei. Er deutet mir: einen kleinen Moment. »Der Kellner ist gleich da, Herta. Bestell dir eine Suppe vor dem Hauptgang. Besser zwei, das Restaurant ist voll.«

»Da, Sie! Hierher, beeilen Sie sich!«

Der Kellner eilt mit Riesenschritten und klopft an.

Sepp lacht. »Keine Angst wegen des Zettels, nur hereinspaziert!«

»Wir nehmen das Huhn!«, befiehlt Herta und Sepp beendet die Bestellung mit einer Handgelenksbewegung. Ich nicke und deute dem Kellner, eine Flasche Wein mitzubringen. Er versteht und verschwindet.

»Sie servieren große Hühner, spar dir die Frage, warum wir nur eines bestellen.«

»Sie sind wirklich groß«, bestätigt Sepp. »Zu dritt schaffen wir nicht einmal ein Bein. Trotzdem muss das Huhn als Ganzes garen. Sonst entfaltet sich nie der volle Geschmack.«

»Der Rest geht immer zurück. Niemand schafft es bis zur Brust.«

Ich kenne das Huhn. Es ist riesig.

»Die Wahrheit ist, es braucht einen größeren Absatz«, sagt Herta und lässt offen, was sie damit meint. »Und mir stinkt, dass die Luft so stickig ist. Draußen ist es eiskalt und hier kann man kaum atmen.«

Sie hat recht. Die Luft steht in den Separees, seit die Belüftungsanlage zubetoniert wurde. Es war eine Hau-Ruck-Aktion, ohne an morgen zu denken.

»Es wäre klüger gewesen, sie hätten die Luftschächte so gelassen und stattdessen Wachen postiert. Dieser Riesenaufwand steht in keinem Verhältnis zum Ergebnis.« Sepp will auf seine Meinung anstoßen und merkt, dass sie keine Getränke geordert haben. »Herta, du hast nur das Huhn bestellt.«

»Red nicht, in deinem Kopf wimmelt es von Wetten! Er hat eine Flasche Wein bestellt. Du wirst auch nach ihrem Untergang nichts erreichen.«

»Königlich werden wir leben«, beteuert Sepp kleinlaut, ohne Herta anzusehen. »Es muss bloß am richtigen Tag geschehen.«

Die Stimmung ist vergnügt. Das Gespräch dreht sich um unsere gemeinsame Vergangenheit. Herta beschwor soeben das Bild herauf, wie sie im letzten Schuljahr fast gestorben wäre, weil der Schnitt in ihrem Finger so tief war.

»Gott behüte!«, ruft Sepp und gestikuliert dazu übertrieben. »Noch ein wenig tiefer und der Finger wäre nicht mehr zu retten gewesen. Und die Keime auf dem Messer hätten eine scheußliche Infektion auslösen können. Stell dir das vor!«

»Bestimmt wärst du tot umgefallen«, sage ich. »Elendig krepiert.«

»Spar dir den Sarkasmus. Mit solchen Schnitten spaßt man nicht.«

Es klopft.

»Hören Sie auf zu klopfen!«, ätzt Sepp und winkt den Kellner herein. »Bringen Sie den Wein und werfen den Zettel weg!«, ruft Herta. »Den kapiert ohnehin keiner.«

Die Tür schwingt auf und der Kellner tritt ein. Seine winzige Dienstbekleidung wirkt ausgestopft. Zurückhaltend serviert er den Wein und verlässt uns. »Fast hätte ich es vergessen«, sagt er, bevor sich hinter ihm die Tür schließt. »Das Huhn kann leider erst in einer Stunde kredenzt werden. Es gab Komplikationen bei der Zubereitung.«

Reflexartig schlägt Herta auf den Tisch. »Dann bringen Sie mir umgehend zwei Teller Tagessuppe! Ich warte nicht eine Stunde mit leerem Magen, mir scheint!«

»Gart das Huhn bereits?«, frage ich den Kellner, weil mich ein ungutes Gefühl beschleicht. »Wissen Sie, was? Ich mache mir selbst ein Bild. Kurz Frischluft schnappen wird mir auf keinen Fall schaden. Sie sollten wegen der Temperaturprobleme Ihren Vorgesetzten in Kenntnis setzen. Spätestens im Sommer besuchen keine Gäste mehr das Restaurant.«

Der Kellner gafft mich misstrauisch an, wirft einen Blick in den Gang und verschwindet.

»Du lässt uns einfach sitzen?«, ärgert sich Herta, während Sepp anscheinend mitgehen möchte. Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn.

»Eine viertel Stunde hältst du aus, du bist ein großes Mädchen. Sepp? Tanken wir frische Luft und schauen, ob wir in der Küche einen Beitrag leisten können.«

Sepp kämpft mit sich und seinem Gewissen. »Nein, Herta! Schoasch und ich sehen nach dem Huhn. Spar dir die Szene.«

»Machen wir uns auf den Weg. Hier stinkt mehr als die Temperatur. Riechst du es nicht?«

»Wir haben die Orientierung verloren«, begreift Sepp und sieht drein, als wolle er sich an mir festhalten. »In diesem Gang waren wir noch nicht.«

»Vergiss die Gänge, wann hast du den letzten Kellner gesehen? Mir kommt vor, als war es vor Stunden.«

»Nein, meine Knie würden rebellieren.« Er demonstriert die Geschmeidigkeit seiner Gelenke, indem er in die Hocke geht und seine Knie kreisen lässt. »Kein Krachen, hörst du? Mir ist schleierhaft, wonach du suchst.«

»Du einfältiger Vogel: nach nichts! Du wirst dir bloß deine Wettscheine bald sonst wo hinschieben können.«

Sepp reagiert intuitiv auf Wettscheine. Eindrucksvoll unterliegt er seiner Gier. »Was? Wie stehen die Quoten?!« Hektisch holt er aus seiner Hosentasche ein Bündel zerknitterter Zettel. Sofort ziehen diese ihn in ihren Bann. Ich schiele auf den obersten Wettschein und lese:

18. MAI

1 : 425

»Darauf also baut dein Leben? Ein Mahnmal stellst du dar.« Sepp wird längere Zeit nicht ansprechbar sein; zu gehen außerstande. »Ich sehe mich um und kehre danach zurück. Gewiss entpuppen sich meine Vorahnungen als Hirngespinste und wir können sorglos das Huhn genießen. Auf jeden Fall vermute ich die Küche da ums Eck.«

Um die Ecke befinde ich mich in einer vom anderen Ende beleuchteten Röhre. Separees sowie Gäste entdecke ich nirgendwo. Trockenheiße Luft bläst mir entgegen, in der meine feine Nase Nuancen von Huhn wahrnimmt. Ein außergewöhnlicher Duft! Vereint völlig unbekannte Noten. Gleich erlebe ich, wie es im Höhlenofen schmort. »Sie, Halt!«, kappt eine schrille Stimme meine Gedanken. »Hier entlang geht es in den Tod!« Eine kalte, knöcherne Hand zerrt mich in einen nebenliegenden Raum, in dem sich das Gros der Belegschaft aufhält. Einige wetzen ihre Werkzeuge. »Sagen Sie, verursacht das Huhn diese arge Hitze? Ihnen werden die Gäste ausbleiben, wenn Sie das Problem nicht in den Griff bekommen. Es wäre peinlich, müsste das Restaurant seine Pforten schließen, weil es den Zuständigen nicht gelingt, ein angenehmes Klima herzustellen. Sind die Herrschaften gesprächsbereit?«

Insektenartig rückt die Belegschaft enger zusammen, als wäre ich ein übermächtiger Gegner, dem nur im Kollektiv beizukommen ist. Ein vielstimmiges Gemurmel setzt ein. Ich blicke mich um und suche den Oberkellner. »Gestatten Sie mir, einen Blick auf das Huhn zu werfen? Ein Traum ginge damit in Erfüllung.«

Der Oberkellner betritt den Raum und sieht das Chaos. »Was – ist – hier – los?!« Mit energischer Stimme hält er das Pack im Zaum. Ob er verantwortlich ist für die prekäre Situation der Frischluftzufuhr im Restaurant? »Dieser Herr will das Huhn sehen«, klärt eine Bedienstete die Lage auf und lenkt seine Aufmerksamkeit auf mich. »Der Herr! Ihnen ist der Zutritt zum Küchenbereich untersagt.«

»Verzeihen Sie, es muss ein Missverständnis vorliegen. Ein Kellner informierte uns über etwaige Komplikationen. Ich vergewissere mich, dass unserem Hauptgang nichts im Wege steht.«

Wie Gas verbreitet sich Skepsis. »Raus mit ihm!«, plärren einige; manche: »Lynchen!« Kaum jemand wirkt überzeugt. Auch den Oberkellner plagen Zweifel, ob er mir den Zugang zum Huhn gewähren soll oder nicht. »Soll a halt! ´s eh scheißegal!«, meint ein Letzter.

»Ich knabbere es nicht an, solange das Huhn nicht durch ist«, verspreche ich dem Oberkellner, in der Hoffnung, auch allen anderen die Entscheidung zu erleichtern.

Meinem Charme sei Dank, erlebe ich es endlich! Zwar überrascht mich die Rotfärbung des Fleisches, ändert jedoch nichts daran, dass ich nun größtmögliche Zufriedenheit empfinde. Die ganze Belegschaft ist berührt von meiner Bewegtheit. Einzig schade, dass der Fotoapparat im Separee liegt. Es ergäbe eine einmalige Fotoserie.

»Sepp, alter Freund, was ich soeben erleben durfte! Vergiss meine Befürchtungen, auch die Mordshitze. Gehen wir zu Herta und warten auf das Huhn. Es wird vorzüglich schmecken.« Vorsichtig berühre ich mit einer Fingerkuppe das Bündel in seinen Händen und prompt erwacht er zum Leben.

»Hände weg von meinen Wettscheinen!«

»Beruhig dich, um deine Wettscheine steht es prächtig. Einer davon wird dein Glücksschein sein.«

Sepps Augen glitzern wie sonst nur Kinderaugen zu Weihnachten. Erleichtert steckt er das Bündel ein.

»Auf zu Herta!«

»Macht, dass ihr reinkommt!«, schallt es uns aus dem Separee entgegen. »Was soll euer Grinsen? Seid ihr lustig? Was ist mit dem verflixten Huhn? Servieren sie es endlich, oder lasst ihr mich sterben vor Hunger? Habt ihr Hunde es ohne mich gegessen?«

Sepp setzt sich rasch neben sie. »Herta, atme durch und hör zu, was die Belegschaft Schoasch erzählt hat!« Er nimmt einen kräftigen Schluck Wein und schließt enthusiastisch: »Das Huhn wird importiert!«

»Ja«, bestätige ich, »Sepp spricht die Wahrheit. Wir importieren das Huhn aus dem Weltall.«

Es fasziniert ihn, dass unsereins in der Lage ist, das Huhn von so weit her zur Erde zu transportieren, ohne dabei je die Kühlkette zu unterbrechen. »Dass wir das schaffen«, nuschelt er, während sein Kopf auf und ab pendelt.

»Also haben wir einen großen Absatz«, stellt Herta kryptisch fest. »Ich wusste nicht, dass es allerorts konsumiert wird. Ich war überzeugt, das Huhn sei ein regionales Produkt. Wie man sich täuschen kann.«

»Sie sind raffiniert«, sage ich und fixiere Sepps Pendelkopf. »Wenn die nicht wollen, dass jemand davon erfährt, erfährt es niemand. Und wenn die nicht wollen, dass wir es kriegen, kriegen wir es nicht. Sie steuern das Huhn auf ganzer Strecke. Mir ist schon vor einiger Zeit klar geworden, wie wenig Einfluss ich überhaupt habe.«

»Darauf hätte man setzen müssen«, wiederholt Sepp einige Male. »Keinen Kummer bräuchten wir mehr an uns heranlassen. Vertrauen wir auf Schoaschs Intuition, dass ein Schein des Bündels unser Glücksschein ist. Dann liefe alles so, wie ich – «

»Ja, du Glücksritter«, unterbricht ihn Herta; »wie du es vorhergesehen hast.«

Die Situation spitzt sich zu. Etliche Gäste haben sich vor dem Separee versammelt, um Zeuge des Huhns zu werden. Der Andrang verwundert mich nicht. Der Preis des Huhns ist horrend. Bedenkt man die Marge und die Löhne der Kellner.

»Allerhöchste Zeit, dass es losgeht«, sagt Herta und trommelt auf dem Tisch. »In zehn Minuten wäre ich verhungert.«

Ein Kellner öffnet das Separee und bittet uns, mit einem Kollegen die Tür aushängen zu dürfen. Das Huhn passe dann exakt durch den Türstock.

»Hängen Sie sie aus, wenn Sie müssen«, gestattet es ihnen Sepp liebenswert. Er scheint bemüht, dass sich die Faszination der Meute nicht in Neid verkehrt, wenn uns das Huhn serviert wird.

»Schauen dürfen Sie ja«, meint Herta, während die Kellner an der Tür hantieren.

Mich drängt es, ein Foto von ihnen zu schießen.

»Voor-sichtig, bitte, Voor-sicht!«, vernehme ich aus der Ferne die energische Stimme des Oberkellners. »Weichen Sie bitte alle an die Wand! Das Huhn rollt an! Berühren Sie es nicht und schießen keine Fotos. Es ist das Mahl dreier ehrenwerter Gäste. Sie, Kellner, machen Sie den Tisch frei! Das Huhn hat ein Mordsgewicht.«

Die Kellner eilen zu uns, um den Tisch auf das Huhn vorzubereiten. Die Gläser stellen sie sicherheitshalber auf ein Regalbrett an der Wand. Die Teller und Bestecke schieben sie näher zu den Tischkanten. Das Tischtuch streifen sie glatt.

Immer lauter dringt das Scheppern des Rollwagens ins Separee. Auch das teils vulgäre Gepolter draußen nimmt zu: »Seht euch das Huhn an!« »Andere verhungern!« »Wo is di Bussi-Gsöschoft, i hau´s deppat!« Und dazu Hertas Getrommel.

Sepp beruhigt sie: »Gleich ist das Huhn da.«

»Der Hunger ist mir vergangen. Seid froh, dass ich noch nicht tot bin.«

»Red keinen Unfug. In Kürze bist du satt und jammerst wieder, dass du so viel gegessen hast.«

Da kommt es! Braun gebrannt wird das Huhn vom Oberkellner auf dem Rollwagen chauffiert. Unmöglich passt es durch den Türstock.

Am Gang bricht ein Tumult aus. Davon unberührt breitet Sepp Herta eine Serviette über die Bluse. »Wir sind keine Tiere«, erinnert er sie an ein offenbar gemeinsames, geheimes Abkommen, und breitet solidarisch auch über seine Brust eine Serviette. »Seht es euch an: Das Huhn ist noch größer als das letzte!«

»Wissen Sie, was?!«, platzt es aus Herta heraus, als habe sie genug von dem Auflauf vor dem Separee, dem Hungern und der Hitze, die das Huhn zusätzlich verströmt. »Reißen Sie die Beine ab und schicken den Rest zurück in die Küche. Unsinnig, es als Ganzes durch die Tür zu stopfen. Tun Sie das gefälligst!«

Totenstille.

Der Oberkellner lugt ungehalten hinter dem Huhn hervor. Ich deute ihm, wegen der Bezahlung keine Bedenken haben zu müssen.

»ALLES IST GUT.«

Zähneknirschend befiehlt er den Kellnern zu handeln. Geknickt betreten diese das Separee, nehmen die Teller vom Tisch und trotten zum Rollwagen. Der Oberkellner zur einen, ein Kellner zur anderen Seite, säbeln sie dem Huhn die Haxen vom Leib und legen sie dem servierenden Kellner auf die Teller.

»Mama!«, ruft am Gang ein Mädchen. »Die Haxen sind winzig im Vergleich zum Rest!«

»Sei still!«, weist dessen Mutter es zu Recht zurecht.

Je eher das Gör dieses Huhn, so wie es ist, als normal betrachtet, desto sorgloser wird sich später sein Leben gestalten.

Weiter so, gnädige Frau.

1

LEKTORATSERÖFFNUNG

»Warte noch«, sage ich leise zu mir und lausche an der Tür. Der Lektor unterhält sich mit jemandem. Sie sprechen über mich.

»Lisa betritt jeden Augenblick das Lektorat«, erkenne ich Alice´ Stimme. Wie schön, dass sie da ist. Ich mag ihre geheimnisvollen Blicke.

»Ich erwarte sie«, antwortet der Lektor und in meinem Innersten wächst die Nervosität. »Es wird sie große Überwindung kosten, meine konstruktive Kritik anzunehmen.«

»Sie hat es geschafft. Wirkungsvoll, dass sie nach dem Tod der Protagonisten keine Perspektivenwechsel vollzieht. Es legt über das Werk eine sagenhafte Aura.«

Alice, du hast die Geschichte gelesen? Ich freue mich über deine Worte.

»Ihren Leserinnen und Lesern anstelle eines Tohuwabohus Blumen zu überreichen ist eine tröstende Geste. Großzügig von ihr; viele Menschen verdienen keine Blumen.«

Überlegst du, was du antworten sollst? Ganz einfach!

»Blumen spiegeln das Leben wider. Sie dienen dieser finsteren Geschichte als Gegenpol. Lisas Sinne gelten dem Handwerk. Es ist geschickt.«

»Das zeichnet sie aus.«

»Sie klopft, Meister. Setzen Sie sich und machen es sich bequem.«

»Wie steht es eigentlich um dich und deine Geschichte? Nimmt sie Gestalt an?«

»Federleicht im Augenblick.«

»Dann munter weiter im Text. Die Lektorin meiner Wahl wird mich würdig vertreten, wenn ich nicht mehr bin.«

»Sie üben auf fiese Weise Druck aus, Meister.«

»Weil es mir schlaflose Nächte bereitet, ob der Vogel nun fliegt. Schreib schneller, damit ich endlich sterben kann.«

»Ich werde mich heute Nacht wieder an den Schreibtisch setzen; mein Wort darauf.«

»Mein Herz hört dir zu und beruhigt sich. Wegen eines Vogels meine Nerven auf die Folter zu spannen! Wie gelingt das der Literatur? Empfangen wir jetzt Lisa.«

»Schön, Sie bei so guter Laune zu sehen. Es ist länger her, dass …«

»Du kennst ihr Manuskript.«

»Ja – in dieser Frau steckt Kraft.«

2

DEN KOPF VOLL

Ich starre auf die Prunktür, die ins Essgemach der Königsfamilie führt. Sie verabscheuen Störungen beim Essen, reagieren gereizt und es kam öfter vor, dass sie mit Besteck und Tellern nach mir warfen. Allen voran ist die Tochter das Problem. Ihre Entbindung war die wahre Tragödie unserer Zeit. Krampfhaft nehme ich Haltung an und klopfe.

»Kommen Sie gefälligst morgen!«, schallt die erwartete Antwort.

»Eure Hoheit! Die außerordentlichen Umstände dulden bedauerlicherweise keinen Aufschub, Sie müssen mich vorlassen!«

Es kommt keine Rückmeldung und doch spüre ich den Unmut der Königsfamilie durch den Türspalt kriechen. Ich warte und fühle einen stechenden Schmerz in meinen Fingerknöcheln. Ich erkenne die Schrammen und – Blut. Das Biest kann kein Blut sehen! Hektisch spucke ich in die Hände, als die Tür aufgerissen wird und ich in die zornigen Augen der Königstochter blicke.

»Was willst du, Bastard?«, begrüßt mich das Biest und mir bleibt die Schmach, es anzulächeln.

»Sprich nicht so grausig mit dem Boten«, tadelt der König sein Töchterchen und erlebt, wie es sich zu ihm umdreht und meint, er sei ebenso ein Bastard. »Von mir hat sie das nicht«, rechtfertigt er sich vor der Königin und erachtet es als unnötig, hinunterzuschlucken, bevor er spricht.

»Eure Hoheit«, setze ich mich über das Biest hinweg und konzentriere mich auf das Königspaar. »Es ist dringend.«

»Dringend, dringend, ich hasse dieses Wort!«, flucht die Königin und schleudert ihren angebissenen Hühnerhaxen in meine Richtung. »Ständig ist alles dringend, was Sie vorzutragen haben. Das Allermeiste, das Sie von sich geben, ist Unsinn. Schatz«, sagt sie und meint das Biest, das sich auf meine Kosten amüsiert, »schließ die Tür, der Bote verlässt uns.«

»Eure Ho – «

»Schatz – Tür zu!«

Und sie ist zu. Perplex starre ich darauf. Klopfe ich erneut, riskiere ich mein Leben. Tu ich es nicht und die Gefangenen brüten mit der Frau etwas aus, geht es mir genauso an den Kragen.

Ich mache kehrt.

Vor den Palastmauern empfängt mich die schwarze, kahle Wüstenlandschaft. Gehetzt besteige ich mein Rennhuhn Karmonon. »Ab zum Theater, ich muss zum Oberkommandoführer!«

Sofort fegt mir Staub ins Gesicht, den Karmonon mit seinen Halsfedern abschwächt. »Du bist mein Held.« Es ist das schnellste Huhn, das existiert, und mein Mobilitätsgarant in dieser Ödnis. Karmonon soll ewig leben.

Das Abschiednehmen von ihm wird grausam.

In den Monaten nach der Machtübernahme scheute sich das Königspaar, oder hielt sich vorsätzlich bedeckt, Informationen zur Umfangreichen Hühnerzucht herauszurücken. Bis dahin kannte die Vor-Herrschaft das Huhn ausschließlich als Delikatesse. Dass wir bald die ersten, erfolgversprechenden Zuchterfolge reiten konnten, als Spür-, Bück- und Schlagbohrhühner gebrauchten, oder uns die Freizeit mit Hühnerpolo vertrieben, hätte niemand zu träumen gewagt.

Dieser Entwicklungsverlauf steigerte unbeachtet unseren Größenwahn.

Karmonon gehört zur Gattung der Raritätenhühner, die noch leibhaftigen Kontakt zum Mutterhuhn hatten. Seine Gefühle könnten ihn überwältigen. Wird er mir überhaupt eine Träne nachweinen, wenn er seine Mutter sieht? Fraglich ist zudem, wie sich das Mutterhuhn verhalten wird, wenn es die Zuchtstation entdeckt.

Es ist fast tiefenentspannend, auf Karmonon zu reiten und den Wind zu fühlen. Das Biest bringt mich um den Verstand. Seit es lebt. Nie habe ich mich hinreißen lassen. Aber heute, wo es keine Mittelschicht mehr gibt, die wir vernichten können, fehlt mir die Gelassenheit, seine Art zu ertragen. In den zurückliegenden Monaten habe ich kaum noch fremdes Leben quälen und beenden dürfen und darum auch Teile meiner leidenden Seele nicht mehr abgetötet. Der Oberkommandoführer wird bestimmt sagen, ich hätte das Königspaar nicht belästigen sollen. Ich ärgere mich über meinen vorschnellen Entschluss. Die Gefangenen brüten inzwischen sicher über den irrwitzigsten Ausbruchsplänen. Könnte ihnen die Flucht gelingen? Wenn ich die Frau töte, ist dann alles wieder beim Alten?

»Alles ist scheiße.«

Karmonon reagiert nicht auf mein Leid. Er gibt mir damit Zeit, nachzudenken und auf so manches allein draufzukommen.

»Ich muss dir etwas beichten.« Ein wenig verkrampft sich seine Rückenmuskulatur. »Heute zelebriert die Königsfamilie das Ende der Welt. Wir werden uns nie wiedersehen. Mich trifft das ebenso, aber dich ins Raumschiff zu schmuggeln, ist ausgeschlossen. Das Mitnehmen von Hühnern ist strengstens untersagt.«

Karmonon hält an, wirft mich ab und verschwindet, ohne sich einmal umzudrehen.

»Ka – Karmonon??? Komm zurück! Du kannst mich nicht dalassen! Sieh dich um – hier ist nichts!«

Er läuft geradewegs in Richtung Zuchtstation. Karmonon kennt dort kein Huhn. Sie werden sofort bemerken, dass er versnobt ist und entsprechend reagieren. Und kein Vor-Herr wird anwesend sein, um die Lage zu kontrollieren. Alle bereiten das Abschlussfest vor. »Pass auf dich auf, wenn du hoffst, da Anschluss zu finden. Sie könnten dich töten.« Ich blicke mich um und sehe überall dieselbe öde Landschaft. Am Horizont erscheint das Morgenlicht der Sonne. Ob sie morgen wieder aufgeht? Wozu?

Wann habe ich zuletzt eine so weite Strecke zu Fuß absolviert? Mir fällt das Atmen schwer. Mein Körper hat sich an das Chauffiert werden gewöhnt und ist überfordert. Wie hat man das früher gemacht? Ich lasse mich in den Wüstensand fallen und erblicke Karmonon direkt vor mir. Er ist zurückgekehrt! Den Kopf geneigt, sieht er mich vertrauensvoll an, bevor sein Kopf kleiner wird, noch kleiner und – Komme mir? I komme mir. Komme mir zu ich? Kopf dröhnt – völl benomm – kann nich – nmöglich – Durcheinander laut – aufhören – bitt aufhören – bin ich? – Wo? – Ich spüre, dass ich erwache; erinnere mich an nichts. Wo bin ich? Ich kann meine Augen nicht öffnen. Ein Adrenalinstoß weckt mich endgültig auf, als ich ertaste, dass meine Lider zugeklebt sind!

Ruhigbleiben.

Woran erinnerst du dich?

Streng dich an.

Das letzte Bild?

Das letzte Bild?!

Kann es schaden, um Hilfe zu rufen?

In meinem Innersten brodelt die Angst vor der Geburt des Kindes. Aus dem Entbindungsgemach dringt das Geschrei der Königin. Spezialisierte Vor-Herren dienen als Hebammen. Die vereinten Gene des Königspaars werden ein Biest erwecken. Ob männlich oder weiblich; sie können nur mutieren. Angespannt laufe ich den Korridor auf und ab und fühle mich zusätzlich erdrückt von der Aura der Skelette an den Wänden und Decken. Fortan also beherbergen die Gemächer dazu ein Biest. Wie viel lieber würde ich die Welt sofort verlassen!

Plötzlich wird es still. Das Biest ist geboren und als würde es auf meine Gedanken antworten, beginnt es zu plärren.

Ich nehme Haltung an, weil mich jeden Moment ein Vor-Herr vom geglückten Geburtsvorgang unterrichten wird. Ich sollte ihn mit Kugeln durchsieben.

Die Tür geht auf und ein blutüberströmter Vor-Herr verlässt das Entbindungsgemach. »Unser letztes Stündlein hat geschlagen!«, sagt er, nachdem er seinen Blick von den Skelettverzierungen nimmt. »Schon sehr bald, werter Bote, hängen wir alle da. Das Mädchen wird zu einem Drachen