Silvia Boadella

Die tragende Haut

Von Geburt und Sterben

Roman

Ich bin aus den ursprünglichen Wassern geboren worden,

bevor es einen Himmel gab, um ihn einzuatmen,

bevor es eine Erde gab, um darauf zu stehen,

bevor es Berge gab am Horizont.

Ich bin geboren worden, bevor es etwas zu bekämpfen gab.
Ich bin geboren worden, bevor es etwas zu fürchten gab.

Aus dem ägyptischen Buch Pert em Hru

(Hervorkommen ins Tageslicht)

Der Ruf

Vorklang

Das Telefon klingelt, ich nehme ab und höre nur ein einziges Wort: „Komm!“ Es ist Monikas Stimme. Sie erreicht mich aus einer entfernten psychiatrischen Klinik in unserem Haus im Alpenvorland.

Soll ich wirklich gehen? Nur weil sie sagte: „Komm!“ und dann den Hörer auflegte? Mein Kopf zögert noch: Ruf in der Klinik an, finde zuerst heraus, was vor sich geht. Sara, unsere Freundin, ist gerade zu Besuch, da ist mein Kind und mein Hund, und nichts ist organisiert für eine Reise. „Geh erst in ein paar Tagen, bereite alles in Ruhe vor“, meint Dennis, mein Mann, beschwichtigend. Doch mein innerster Impuls sagt mir: Geh jetzt! Trotzdem telefoniere ich noch mit der Klinik. Ina, Monikas Krankenschwester, bestätigt mir: „Ihr Zustand ist bedenklich. Sie verweigert seit einigen Tagen das Essen und seit heute Morgen trinkt sie nichts mehr.“

Monika will also sterben. Und sie will es mit mir. Monika ist meine Stiefmutter, lange Zeit hatten wir es schwer miteinander. Komm! Dieses eine Wort von ihr schwingt in mir nach, wie ein Grundton des Vertrauens: Mirjam, ich zähle auf dich, ich brauche dich. Jetzt. Ich rufe sie nochmals an: „Monika, ja, ich komme. Ich fahre morgen zu dir.“ – „Wann bist du da?“ – „Um die Mittagszeit.“ – „Wann genau?“ – „Ich fahre um halb zehn von hier los und treffe dann um elf am Bahnhof bei dir ein. Von dort nehme ich ein Taxi zur Klinik“, erkläre ich ihr, damit sie meinen Weg zu unserer Begegnung kennt. „Um zwanzig nach elf bin ich da.“ – „Gut“, sagt sie. Sie stellt nun ihre innere Uhr auf diese Verabredung ein. Ich packe warme Sachen und etwas zum Übernachten ein. In ihrem Zimmer werde ich mir ein Bett hinstellen lassen und sie in diesem Prozess nicht mehr verlassen. Ich stelle mich auf eine längere Zeitspanne ein. In meine Handtasche stecke ich noch einen dünnen Band mit Gedichten. „Wann bist du wieder zurück?“, bedrängt mich meine Familie. – „Zeitpunkt unbekannt.“ – „Glaubst du wirklich, dass Monika stirbt?“, fragt Dennis. „Ja, ich bin mir sicher.“

Ich wusste nicht, dass Monika schon seit Frühlingsbeginn ins Sterben eingetreten war. Ina erzählte mir später: „Ich musste sie im Rollstuhl oft ans offene Fenster schieben. Da schaute sie dann stundenlang in den Park hinaus. Sie schien heiter dabei.“

Monika sah in den aufblühenden Frühling: ins grüne Gras, in die gelben Primeln, sie nährte ihre Seele mit Blüten. Ich selber hörte seit Frühlingsbeginn Beethovens Frühlingssonate, sie erfüllte mich ebenfalls mit Heiterkeit.

Mitten in der Nacht sinke ich in ein tiefes Vertrauen hinein. Ich liege auf dem Bett und habe gleichzeitig das Gefühl, in etwas wie Luft zu ruhen, von der ich getragen werde. Es kommt mir dabei vor, als würde ich hinübergetragen in eine andere Welt.

Am nächsten Morgen trete ich reisebereit vor das Haus. Ich blicke kurz über die Hügel auf den weiten See hinunter, der am Horizont in den Himmel aufsteigt.

Wie ich im Zug sitze und durch die blühende Landschaft fahre, höre ich Beethovens Musik in mir erklingen und sehe den Frühling in einer unbekannten, strahlenden Kraft. Ich fahre durch ein goldenes Licht hindurch, im Geburtskanal der Ankunft. Ankunft wohin? Ankunft ins Sterben.

Noch nie habe ich ein Sterben miterlebt. Meine Mutter starb, als ich noch fast ein Kind war, und mein Vater hielt mich von ihr fern. Alles, was ich von ihr noch zu Gesicht bekam, war eine versiegelte Urne. Er selber starb später so plötzlich, dass ich auch bei ihm nicht dabei sein konnte.

Einmal erst in meinem bisherigen Leben habe ich einem Toten ins Angesicht gesehen. Es war der Sohn meiner Freundin, der kurz nach der Geburt im Kindbett gestorben war und danach in der Kapelle des Kinderspitals aufgebahrt wurde. Ich spürte eine Distanz zu ihm, er sah für mich wie ein wächsernes Püppchen aus. Ich konnte alles nur von außen wahrnehmen und das schmerzte mich. Damals war ich befremdet. Wie eine Fremde in einem fremden Geschehen.

Mit Monika bin ich nun mittendrin, in diesem gemeinsamen Geschehen, im Gold der Morgensonne. Unterwegs blühen mir die Obstbäume zu und grüßen mich mit ihrem festlichen Glanz.

Einklang

Wie versprochen bin ich mit dem Taxi vorgefahren. Punkt zwanzig nach elf betrete ich das Gebäude. Da ich damit rechne, dass ich von nun an ununterbrochen in Anspruch genommen werde und dass es in dem Schlafzimmer der Klinik mit seinen geöffneten Fenstern kühl sein wird, suche ich noch eine Toilette auf und ziehe mich wärmer und schon so bequem an, dass ich mich in ein Bett neben sie legen kann, um bei ihr zu bleiben. Denn dies werde ich mir von der Klinik erbitten. Ich rechne mit einem Prozess durch Tage und Nächte. In mir ist zeitlich alles offen. Ich gehe durch die Gänge der Klinik auf die gerontologische Abteilung zu. Von fern ist mir bewusst, dass ich als ein anderer Mensch durch diese Gänge zurückkehren werde, als ich sie jetzt durchschreite.

Unterwegs komme ich an einem Warteraum mit einem Getränkeautomaten vorbei. Während ich noch schnell eine Tasse Kaffee zur Erfrischung trinke, holt mich eine schwierige Erinnerung ein.

Kurz nach der Geburt meines Kindes versetzte Monika mir einen Schlag. Unvermittelt erhielt ich auch damals einen Anruf. Das Telefon klingelte, und obwohl etwas in mir zögerte, meldete ich mich. „Du hast ein Kind geboren?“, fragte die Stimme am anderen Ende. Es war Monikas Stimme. Sie erreichte mich schon damals aus dieser psychiatrischen Klinik, wo sie seit einiger Zeit leben musste. Ich war überrumpelt: „Ja“, sagte ich einfach. „Soso“, antwortete sie. Schweigen. Ich versuchte mich aus der Überraschung heraus zu sammeln, doch bevor mir dies gelang, sagte die Stimme in barschem Ton: „Du kannst doch gar nicht mit einem Kind umgehen, du bist doch eine Intellektuelle!“ Und abrupt wurde das Gespräch abgebrochen. Die harsche Stimme verletzte mich. Durch die Nähe mit dem Neugeborenen war ich gerade besonders empfindsam. Ihre Verurteilung traf mich mitten ins Mark in jener Zeit, wo ich mich so sehr bemühte, alles richtig zu machen.

Der Abbruch des Kontaktes war wie ein Schnitt. Es muss auch Monika geschmerzt haben. Was für Verletzungen sind zwischen uns geschehen! Und doch ist eine Liebe zueinander gewachsen.

Ich stelle die leere Kaffeetasse hin, gehe weiter und nähere mich jetzt dem Zimmer 207. Aufgeregt und etwas scheu öffne ich die Türe. Da liegt Monika in ihrem Bett. Neben ihr sitzt die Krankenschwester. Sie atmet auf: „Gut, dass Sie kommen.“ Monika atmet stoßweise, ein langes Ausatmen, ein kurzes Einatmen. Der Rhythmus ist Staccato. Ihre Augen sind geschlossen, nach innen versenkt, sie begrüßen mich nicht mehr. „Sie liegt ja schon im Sterben!“, sage ich. „Wann ist sie in diesen Prozess eingetreten?“ – „Eben erst, vor fünfzehn Minuten“, antwortet Ina. Vor fünfzehn Minuten! Gemäß unserer Vereinbarung in dem Moment, als ich die Klinik betrat. Sie hat es also gespürt: Jetzt ist Mirjam da. Jetzt kann ich zu sterben beginnen. Sie hat ihre innere Uhr auf mich eingestellt, ohne auf eine äußere Uhr zu schauen. Wir haben uns an einem inneren Ort aufeinander zubewegt. Da findet unsere Begegnung statt, und hier arbeitet Präzision. Schwester Ina verlässt den Raum. „Rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen.“

Nun sind wir allein. Die Sonne leuchtet durchs Fenster. Ich setze mich zu deiner Linken an dein Bett. Meine liebe Monika! Wir sind zu zweit in diesem Sterben, in diesem Kanal der Ankunft. Was wird ankommen? Wir wissen es beide nicht. Es ist eine Reise ins Unbekannte. Du wirst etwas weiter reisen als ich. Wie weit kann ich mit?

Du atmest aus und aus. Ich erinnere mich an die Geburt meines Kindes. Atmete ich so in der Austreibungsphase, als sich sein Kopf durch die Enge des Geburtskanals schob? Was schiebt sich durch die Enge deines „Geburtskanals“? Ist er überhaupt eng? Was treibst du aus? Ist es deine Seele? Und was geschieht dabei mit uns beiden, mit meinem Ich, mit deinem Du?

Ich ergreife deine Hand, ich singe dir zu, wie lange weiß ich nicht, das Zeitgefühl hat aufgehört. Du atmest aus und aus. Ich singe dir zu. Ich spüre, dies tut dir gut. Du öffnest deine Augen nicht nach außen. Du schaust nach innen, tief in dich hinein. Hörst du mich? Ich glaube, ja. Manchmal spreche ich Worte der Ermutigung zu dir: „Gut machst du es, gut!“

Es gibt keinen Zweifel, was zu tun ist, ob ich singen soll, ob ich sprechen soll oder schweigen. Ich bin zuinnerst bei dir, in diesem gemeinsamen Geschehen, und handle. Handelt es in mir? Sterbe ich ein Stück weit mit? Werde ich mit gestorben?

Deine Geburtshelferin bin ich, die Hebamme deines Sterbens. Ich lege meinen Kopf nah an dein Herz und schaue deinen Körper hinunter, zum Fenster hinaus, in den Frühling. Draußen hat sich das Licht verändert, es dunkelt schon ein wenig ein. Ich fühle deine Füße unter der Decke. Wie geht es ihnen? Soll ich sie halten? Nein, sie ruhen schon. Sie wollen nicht ins Leben zurückgerufen werden. Ich meine zu spüren, wie all deine Energie hinauf zum Herz steigt und sich dort versammelt. Wie einen Fluss sehe ich sie aufsteigen. Wie Wasser – die Wasser des Lebens. Kurz stehe ich auf und fächle die Luft unterhalb deiner Füße körperaufwärts, dem Herzen zu. Ich habe das Gefühl, dass dies hilft, dass „die Wasser“ so noch besser fließen können, hinauf und hinauf. Ich nenne es „Wasser“, weil es fließt, aber es hat eher die Konsistenz von Luft. Es ist eine Art von fließender Energie. Wieder setze ich mich zu dir und lege meinen Kopf an dein Herz. Es ist ein inniges Gefühl, so bei dir zu liegen. Eine große Ruhe breitet sich aus in diesem gemeinsamen Herzraum.

Ich erinnere mich: Wir zwei. Du bist spät in unser gemeinsames Leben gekommen. Hast nach dem Tod von Mama Papa geheiratet. Zu dieser Zeit erhielten meine Schwester Rosa und ich eine Postkarte von dir. Zwei Rehlein waren darauf abgebildet. „Ich möchte euch Liebe schenken“, stand da. Das war nicht so einfach. Wir waren keine Rehlein, wir waren zwei verlassene Kinder, die Kinder von Mama. Und du die Stiefmutter. Durch viel Schweres sind wir da gegangen, du und ich: Schmerz, Eifersucht, Verrat und vieles mehr. Aber wir wollten doch beide nur das Beste. Und jetzt liege ich, dein Stiefkind, bei dir und begleite dich im Sterben. Du hast dich mir anvertraut. Etwas erfüllt sich.

Oft habe ich dich in dieser Klinik besucht. Ich versuchte dir in deiner Krankheit zu helfen, was sich als schwierig erwies. Du warst gemäß den Begriffen der Fachärzte psychotisch und depressiv. Und du warst wutentbrannt. Du schlugst die anderen Patienten, du beschimpftest alle, auch mich.

„Soll ich dir etwas erzählen?“, fragte ich dich einmal bei einem Besuch. „Ja, erzähl!“ So begann ich meine Geschichte: „Ich habe von dir geträumt. Du warst eine schöne Frau mit einem strahlenden Gesicht, doch ganz allein in einer Wüstenlandschaft. Neben dir standen zwei kleine Kinderschuhe. Ich glaube, dass du damals schon in die Wüste geschickt worden bist. Du vereinsamtest und dein Trauern begann. Aber du bist immer noch die schöne Frau. Und auch wenn du wütest und hässlich bist in deiner Krankheit, sehe ich dies nur als eine Maske. Wie immer du zu mir bist, Monika, spreche ich auch zu dir hinter der Maske, zu der Frau mit dem leuchtenden Gesicht.“

Du hörtest mir damals aufmerksam zu. „Du bist mein Liebstes“, sagtest du mir dann, „nur du verstehst mich.“ Und du vertrautest mir. So hast du mich auch gestern angerufen, zu der Zeit, wo deine Seele schon den Tod gerufen hatte. Du sagtest einfach: „Komm!“ Und ich kam.

Warum erinnere ich mich jetzt gerade an diesen Dialog? War dies das Wichtigste zwischen uns? Und woran erinnerst du dich? Ich weiß nicht, wie lange wir so nebeneinander liegen. Ich singe dir manchmal noch zu. Dein Atem ist ruhiger geworden. Nehme ich ihn noch wahr?

Da bemerke ich den Widerschein eines orangenfarbenen Lichtes. Es ist so stark, dass ich sofort annehme, jemand sei unbemerkt hereingekommen und habe eine Lampe mit einem orangenen Schirm angezündet. Ich setze mich auf, schaue mich um. Da ist gar keine Lampe, doch ich meine ein orangenes Licht um deinen Kopf zu erkennen und auch in der Weite über ihm. Sehe ich richtig? Ich blinzle, ich traue meinen Augen nicht: Ja wirklich, ich empfinde ein Licht um deinen Kopf. Es ist schön, wunderschön!

Ich stehe auf und halte mein Ohr an deinen Mund. Vernehme ich dich noch? Hat mich das Licht gerufen? Ich lausche an dir, zutiefst bewegt, ich höre dein letztes Atmen. Du atmest ein und aus. Ich schaue dich lange an. Dein Gesicht strömt Frieden aus, einen Friedenston.

Blick in den Garten hinaus, gelbe Primeln. Eine Musik erklingt. Sie kommt von innen. Es ist wiederum Beethovens Frühlingssonate, sie verströmt Leichtigkeit und Heiterkeit. Ich weiß nicht, wie lange ich so zuhöre. Hörst du mit, liebe Monika? Regungslos sitze ich da. Tiefe Ruhe, in mir, in dir. Das orangene Licht um deinen Kopf mit seiner unsichtbaren Lichtquelle ist verblasst. Im ganzen Raum begrüßt mich nun eine weiche, honigfarbene Atmosphäre.

Die Tür geht auf und ein junger Arzt kommt herein. Er tritt von der anderen Seite an dein Bett und stellt erstaunt fest: „Frau Graf ist ja schon gestorben! Warum haben Sie mich nicht gerufen? Sie atmet ja nicht mehr, sie ist schon klinisch tot.“ Und er trägt eine Uhrzeit in eine Tabelle ein.

„Bitte lassen Sie mich noch mit ihr allein“, sage ich zu ihm. Und blitzschnell überlege ich eine Begründung, auch wenn sie nicht ganz zutrifft: „Ich stehe dem tibetischen Buddhismus nahe und möchte nach dieser Lehre den Abschied praktizieren. Vielleicht wissen Sie, dass die Tibeter ihre Toten begleiten und mit ihrer Seele sprechen. Genau das möchte ich auch.“ Er ist sehr respektvoll: „Wie lange brauchen Sie dazu?“ – „Solange wie möglich.“ – „Wie lange denn?“ – „Was ist denn die längste Zeit, die Sie mir geben können?“ Er denkt nach: „Die anderen Mitbewohner dieses Zimmers können im Aufenthaltsraum bleiben, bis sie sich zum Schlafen vorbereiten müssen, also bis sieben Uhr abends.“ Ich bin erleichtert. Er verlässt den Raum und unterrichtet draußen seine Mitarbeiter.

Dass das Sterben oft ganz anders vor sich gehen kann, wurde mir erst später im Gespräch mit Ina klar. Sie erzählte mir auch, dass die übrigen Insassen der gerontologischen Abteilung im Aufenthaltsraum saßen und raunten und staunten: So, so, die Frau Graf ist schon gestorben! Und wie sie gestorben ist, so ruhig und friedlich! Sie hat doch sonst immer so gewütet, ja sogar geschlagen, wild um sich geschlagen. Erinnert ihr euch? Sie war doch böse zu uns. Und jetzt hat der liebe Gott sie so friedlich zu sich geholt. Kaum zu glauben!

Während wir draußen das Gesprächsthema des Abends sind, finden wir zu unserer Stille zurück. Zeit gewonnen, Zeit. Du und ich. Zusammen in der Weite der Ankunft. „Klinisch tot“, sagte der Arzt. Ich schaue dich an: Atmest du wirklich nicht mehr? Es ist ruhig in dir. Auch um dich ganz ruhig. Nichts ist vernehmbar. Und doch habe ich das Gefühl, als atme es noch. Als würdest du woanders weiteratmen. Ich bin still, ganz still. Und wieder höre ich diesen Friedenston.

Versunken ruht mein Blick auf dir. Da verströmst du einen Duft, einen unendlich süßen Duft. Ich rieche ihn, atme ihn ein. In seiner Süße vernehme ich ein Grüßen: Hallo, da bin ich, ich bin immer noch da. Ich danke dir für dein Mitsein. Monika spricht mit mir durch die Süße des Duftes, sie spricht! Er strömt zu mir herüber und hüllt mich ein. Tränen fließen in meine Augen: „Ich liebe dich so sehr.“ Ich spreche dir das zu, inniglich.

Nun realisiere ich, dass du „hörst“: Um deine Ohren ist eine lebendige, einströmende, aufnehmende Bewegung, als würdest du die Worte einsaugen, als würdest du sie wie Wasser des Lebens trinken und trinken. Und im Raum erscheint noch immer eine helle, honigfarbene Atmosphäre. Sie grüßt mich mit ihrer Zartheit, ihrer Güte, ihrer Weisheit. Alle meine Sinneskanäle sind weit offen. Ich höre den Ton, rieche den Duft, sehe den Lichtschein und spüre, wie ich in all dem von dir umfangen werde. Und ich berühre dich zurück mit meiner Liebe. Wir sind in einer gemeinsamen Umarmung, zuinnerst.

Es klopft an die Tür. Ich rühre mich nicht. Sie öffnet sich einen Spalt, Ina schaut herein. Sie hält in ihrer Hand drei Rosensträuße: einer weiß, einer gelb, einer rosa. Als wollte sie uns damit gratulieren. Sie kommt auf uns zu, sie ist berührt. „Wie friedlich sie aussieht! Ich habe die Rosen schon in der Mittagpause im Supermarkt gekauft, ich wusste, dass sie sterben wird.“ Sie spricht dich an, bewegt: „Liebe Frau Graf.“ Und stellt die Rosen neben dich in eine Vase. Es ist ihr Abschiedsgeschenk. Ihr letzter Liebesdienst?

Nein, noch nicht. Sie beginnt, mir Anweisungen zu geben: „Wir müssen sie jetzt aus dem Bett herausnehmen und aufbahren. Das ist hier Vorschrift. Sie können mir dabei helfen. Die Bahre steht schon vor der Tür bereit.“ Wir holen sie gemeinsam herein und stellen sie neben das Bett. Ina zieht sehr behutsam die Bettdecke weg und sagt, um Verzeihung bittend: „Entschuldigen Sie, Frau Graf.“ Sie spricht es dir zärtlich zu. Kurz prüft sie nach, ob das Bett genässt worden ist. „Alles ist schön trocken“, sagt sie zu dir, wie zu einem Kind, und doch voller Ehrfurcht. „Wir müssen sie jetzt zur Seite drehen und dann auf die Bahre legen.“

Sie zieht Plastikhandschuhe an und reicht mir welche hinüber. Dann stutzt sie: „Nein. Lassen wir das. Ich kann sie nicht mit Handschuhen berühren. Es ist zwar Vorschrift, aber es erscheint mir jetzt so unnatürlich.“ Sie zieht sie wieder aus. „Entschuldigen Sie, Frau Graf.“ Sie beginnt mit ihren weichen, warmen Händen dich liebevoll zu drehen. Ich helfe mit, ehrfürchtig, wir wollen deinen großen Frieden, von dem Erhabenheit ausgeht, nicht stören. Unsere Bewegungen laufen Hand in Hand, wir sprechen nicht dabei, wir spüren von innen her, was zu tun ist. Und wir wissen beide: Wir können so nichts falsch machen.

Du liegst nun auf der Seite, wie ein Embryo. Du wirkst klein und zierlich. Wir heben dich zusammen auf die Bahre und legen dich wieder auf den Rücken. Wie schmal ist dieser Platz. Das Bett erscheint wie ein großes Nest, das du für immer verlassen hast. Aufgebahrt liegst du da, im weißen Nachthemd der Klinik. „Wie schön sie aussieht“, sagt Ina. Wir decken dich mit einem weißen Laken zu und legen es sorgsam um deine Schultern, Ina von links, ich von rechts. „Ein Engel zur Rechten, ein Engel zur Linken“, sage ich heiter. „Und einer oben und einer unten“, meint Ina. Wir lachen. Eine leichte, heitere Stimmung, die schon vorher im Raum war, hat uns ergriffen.

„Eigentlich müsste ich ihr noch das Kinn hochbinden“, sagt Ina und zeigt mir das weiße Band, das dafür vorgesehen ist. „Das machen wir immer so, aber es ist mir heute zuwider.“ – „Warum denn?“, frage ich. „Damit der Mund geschlossen ist, wenn die Totenstarre eintritt. Nachher kann man ihn dann nicht mehr schließen.“ – „Aber sie sieht doch entspannt aus mit geöffnetem Mund, und so natürlich, sie hat doch ausgeatmet, ganz zuletzt!“ – „Ja, wenn Sie damit einverstanden sind, können wir es auch sein lassen, es verstößt zwar gegen die Vorschriften der Klinik im Umgang mit Toten.“ – „Lassen wir es sein“, sage ich, „es würde ihr Gesicht nur verunstalten.“ Erleichtert legt Ina das Band wieder weg. Wir folgen beide unserem natürlichen Empfinden und dem Gebot der Ehrfurcht. Daraus entsteht unser eigenes Ritual. In ihm sind wir beschützt. Sind wir uns früher je begegnet, Ina und ich? Ich glaube kaum. Wir kannten uns nur aus Monikas Erzählungen. Doch jetzt, eingebunden in dieses Geschehen, handeln wir so, als hätten wir es zusammen seit Urzeiten geübt.

Ina schaut auf die Röslein und dann auf dein Gesicht. Sie nimmt eins heraus und steckt es dir ins Haar. Sie nimmt das nächste. Eins nach dem andern, gelb weiß rosa, rosa weiß gelb, bis dein Gesicht aus den Blumen hervorschaut. Ein paar übrige verteilt sie aufs weiße Leintuch, das deinen Körper bedeckt. Ich höre in mir das Kinderlied wieder, das mir Mama zum Einschlafen oft gesungen hat:

„Guten Abend, gute Nacht,
mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt,…
wirst du wieder geweckt.“

Ich singe es dir leise zu. Danach lauschen wir beide, Ina und ich, in Andacht versunken, und schauen in dein geschmücktes Antlitz. Die Röslein duften und duften. Wir stehen lange da.

Bis die Tür sich öffnet und jemand winkt. Ina eilt hin. Geflüster. Dann kommt sie zurück. Sie wagt kaum die Stille zu durchbrechen. Fast schmerzhaft sind die ersten Worte, sie versucht sie so schonend wie möglich zu sagen: „Es wird Zeit. In einer Viertelstunde müssen die Zimmernachbarn wieder hereinkommen können.“ Was nun? Wir schweigen zusammen. Wie weiter in unserem Ritual? Wir denken beide nach. „Wohin sollen wir denn mit ihr gehen?“, durchbreche ich das Schweigen. „Es gibt einen Extraraum im Untergeschoss“, sagt Ina zögernd. „Ein gekachelter, fensterloser Kellerraum?“, frage ich. Ina nickt. Die Vorstellung, dich darin allein zurückzulassen, widerstrebt mir. „Gibt es keine andere Möglichkeit?“ Ina denkt laut nach: „Es ist schon spät, die Bestattungsfirma holt jetzt keinen mehr, erst morgen früh wieder.“ – „Gibt es keinen anderen Ort als den Keller, wo sie bis dahin bleiben kann?“, frage ich eindringlich. „Doch, da gibt es noch ein kleines Gartenhaus im Park“, meint Ina zögernd, sie ist selbst erstaunt über diesen Einfall. „Es stehen nur ein paar Geräte drin. Der Gärtner hat auch schon Feierabend. Niemand wird sie da stören.“ Dass dies den Klinikvorschriften zuwiderläuft, versteht sich von selbst. Aber kaum ausgesprochen, wissen wir schon: Es entspricht unserem eigenen Gebot. Da werden wir dich hinfahren, zu deiner letzten Nachtruhe, mitten in die Natur hinaus.

Um das praktische Vorgehen zu Ende zu denken, frage ich noch: „Und wie geht es morgen weiter? Was raten Sie mir da?“ – „Ich empfehle Ihnen ein bewährtes Bestattungsinstitut. Es wird von einem Ehepaar geleitet. Die Adresse werde ich Ihnen am Empfangsschalter hinterlegen, Sie können von dort aus anrufen. Sie werden Monika respektvoll waschen und einkleiden. Wie, können Sie bestimmen. Danach wird sie in die Friedhofskapelle gefahren und bis zur Kremation darin aufgebahrt. Vielleicht möchten ein paar Angehörige Monika noch sehen und können in der Kapelle von ihr Abschied nehmen.“ Da mir keine Alternative dazu einfällt, stimme ich diesem Vorschlag zu.

Kurz male ich mir den weiteren Verlauf aus. Bald werde ich für dich zusammen mit unseren Freunden und Verwandten eine Feier organisieren. Gemeinsam werden wir uns an dich erinnern und dein Leben würdigen. Ich spüre in diesem Moment jedoch, dass all dies für mich nicht mehr wichtig sein wird und mehr einem äußeren Rahmen angehört. Der wirkliche Abschied findet hier zwischen uns statt, in einem einzigartigen Zusammenklang, der meine Seele ein ganzes Leben lang bewegen wird. Wieder öffnet sich die Tür und jemand meint dringlich: „Es ist jetzt allerhöchste Zeit für die Patienten, ins Zimmer zurückzukommen.“ Er lässt die Türe offen. Ina zieht das Leintuch über dein Gesicht hoch. Ich werfe einen letzten Blick in den Raum. Da ist das leere Bett mit der zurückgeschlagenen Decke, da steht dein kleiner Tisch mit der leeren Vase, in der Tischschublade mit deinen Habseligkeiten steckt noch ein Schlüssel. „Ich werde Ihnen alles zusammenpacken“, sagt Ina nun in Eile und schaut zur Tür. Wie von unsichtbarer Hand geleitet ergreifen wir die Bahre, Ina von links, ich von rechts. Wir schieben dich aus dem Raum hinaus, durch den Gang der Abteilung, wo uns neugierige Augen folgen, durch die Korridore des Spitals, ins Freie.

So zugedeckt, siehst du wirklich tot aus, und ich kämpfe mit den Tränen. Ina steuert das Gefährt über die verschlungenen Wege des Parks, sie kennt den Bestimmungsort, sie hat es eilig. Wir sind atemlos. Ich habe keine Zeit, die Frühlingsblumen am Weg und die hohen Bäume zu begrüßen. Menschen kommen uns auf dem Weg entgegen. Ihre Blicke streifen erstaunt unser schmales, mit dem weißen Tuch bedecktes Gefährt, unter dem sich die Konturen eines Menschen abzeichnen. „So eine Frechheit“, meint einer von ihnen wütend. „Jetzt schiebt man die Toten noch bei Tageslicht durch den Park! Sind die denn völlig verrückt geworden?“ Wir schweigen und beschleunigen unsere Schritte. Es ist uns beiden klar, dass wir hier ein Tabu brechen: Tote gehören „weggepackt“ und werden so schnell wie möglich aus dem Gesichtsfeld der Lebenden entfernt. Und hier eilen wir mit einer Toten durch den Frühling. Ein Gefühl von Absurdität beschleicht mich, und wenn ich nicht die Befürchtung hätte, dass unsere Mission in diesem öffentlichen, von allen einsehbaren Raum misslingen könnte, würde sich sogar ein kleines Gelächter in mir breit machen.

In der Ferne erblicke ich einen hölzernen Schuppen. Ina navigiert unser Gefährt zielsicher darauf zu. Die alte Holztür klemmt, wir schauen uns schnell um, ob uns niemand gefolgt ist. Die Luft ist rein. Ich öffne die Tür mit einem Ruck, sie gibt quietschend nach, und sofort fahren wir unsere kostbare Ladung in diesen hölzernen Unterschlupf und ziehen die Tür hinter uns zu. Geschafft! Mission gelungen! Wir seufzen vor Erleichterung. Wir schauen uns um. Der Schuppen scheint nicht mehr in Gebrauch zu sein. Spinnweben hängen von den hölzernen Balken, ein paar alte Gartengeräte stehen angelehnt an der Wand, Rechen, Schaufeln, eine Sense, alle mit hölzernen Griffen.

Da, der Abendgesang einer Amsel erklingt im Raum. Rechts oben steht ein kleines Fenster zur Belüftung offen. Weit offen. Ein Seelenfensterchen für dich, geht mir durch den Sinn. Ich erinnere mich an unser altes Bauernhaus, das unter dem Giebel links und rechts zwei kleine quadratische Öffnungen aufweist. „Das sind die Seelenfensterchen“, hatte mir Alice, die Bäuerin, erzählt, „sie wurden früher in jedes Haus eingebaut. Durch sie soll die Seele der Toten, die hier noch zu Hause aufgebahrt wurden, ins Freie fliegen.“ Also genau der richtige Ort für deine letzte Nachtruhe. Während ich so nachdenke, ergreift Ina zärtlich das Ende des Lakens, das über deinem Gesicht liegt, und faltet es sorgfältig über deiner Brust. Dein Gesicht ist wieder frei, mit Röslein besteckt. Wie schön du bist! Du siehst verklärt aus. Wir stehen versunken da. Bis mich Ina leicht auf die Schulter tippt: „Entschuldigen Sie bitte, ich muss jetzt gehen, ich werde im Schlafsaal gebraucht. Wir hören voneinander. Melden Sie sich beim Empfang, wenn Sie gehen, er hat durchgehend geöffnet.“

Ich schaue ihr nach. Dankbarkeit und ein Staunen überkommen mich. Fremd waren Ina und ich uns bis zu diesem Ereignis. Doch was für einen Gleichklang haben wir darin erlebt! Nun bin ich wieder allein mit dir. Ich stehe an deinem Fußende. Was für eine Reise haben wir zusammen gemacht! Der Raum ist angefüllt mit Andacht. Innen und außen: der Innenraum umhüllt den Außenraum. Ein Raum in einer uns gemeinsam tragenden Atmosphäre. Hier sind wir behütet. Dies wird unser Treffpunkt sein, der Ort unserer zukünftigen Begegnungen. „Das ist eine weitere Verabredung“, sage ich lächelnd zu dir, „Ort bekannt, Zeitpunkt noch unbekannt.“ Und du lächelst mir zu, mit einem seligen Lächeln. Die Amsel beginnt wieder zu singen, sie stimmt uns zu, sie trägt uns auf ihrem Gesang empor. Ich schaue in dein Antlitz, die Röslein, die Röslein. Sie duften. Sie duften himmlisch.

Jetzt kann ich gehen. Ich schaue noch einmal in den Raum, auf dich, in dein Gesicht. Mein letzter Blick, ein Abschiedsblick. Er ist trotz allem wehmütig, eine mit Sehnsucht angefüllte Wehmut – die Sehnsucht, dich wieder so sehen zu wollen, die Wehmut, dich nie mehr so sehen zu können.

Die Ablösung muss sein, sie fällt mir schwer. Ich kehre dir den Rücken zu, öffne die Tür, trete hindurch, drehe mich um und schließe sie.

Ich gehe den Weg entlang zurück. Weiter konnte ich nicht mit dir reisen. Ich bleibe hier. Mit dem Gefühl einer Zurückgebliebenen steuere ich auf das Klinikgebäude zu Richtung Empfang. Bin ich traurig, dass ich zurückgeblieben bin? Nein. Auf mich warten zu Hause meine Lieben, mein Kind, mein Mann und die Hündin Patty Gold. Und vielleicht ist auch meine Freundin Sara noch dageblieben. So navigiere ich auf mein weiteres Schicksal zu, auf meiner irdischen Bahn, mit dem Lichtpunkt dieser Erfahrung als Lotsen.