Pinneberg erfährt etwas Neues über Lämmchen und faßt einen großen Entschluß

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Es ist fünf Minuten nach vier. Pinneberg hat das eben festgestellt. Er steht, ein nett aussehender, blonder junger Mann, vor dem Hause Rothenbaumstraße 24 und wartet.

Es ist also fünf Minuten nach vier und auf dreiviertel vier ist Pinneberg mit Lämmchen verabredet. Pinneberg hat die Uhr wieder eingesteckt und sieht erst auf ein Schild, das am Eingang des Hauses Rothenbaumstraße 24 angemacht ist. Er liest:

Dr. Sesam
Frauenarzt
Sprechstunden 9-12 und 4-6

»Eben! Und nun ist es doch wieder fünf Minuten nach vier. Wenn ich mir noch eine Zigarette anbrenne, kommt Lämmchen natürlich sofort um die Ecke. Laß ich es also. Heute wird es schon wieder teuer genug.«

Er sieht von dem Schild fort. Die Rothenbaumstraße hat nur eine Häuserreihe, jenseits des Fahrdamms, jenseits eines Grünstreifens, jenseits des Kais fließt die Strela, hier schon hübsch breit kurz vor ihrer Einmündung in die Ostsee. Ein frischer Wind weht herüber, die Büsche nicken mit ihren Zweigen, die Bäume rauschen ein wenig.

»So müßte man wohnen können«, denkt Pinneberg. »Sicher hat dieser Sesam sieben Zimmer. Muß ein klotziges Geld verdienen. Er wird Miete zahlen ... zweihundert Mark? Dreihundert Mark? Ach was, ich habe keine Ahnung. – Zehn Minuten nach vier!«

Pinneberg greift in die Tasche, holt aus dem Etui eine Zigarette und brennt sie an.

Um die Ecke weht Lämmchen, im plissierten weißen Rock, der Rohseidenbluse, ohne Hut, die blonden Haare verweht. »Tag, Junge. Es ging wirklich nicht eher. Böse?«

»Keine Spur. Nur, wir werden endlos sitzen müssen. Es sind mindestens dreißig Leute reingegangen, seit ich warte.«

»Sie werden ja nicht alle zum Doktor gegangen sein. Und dann sind wir ja angemeldet.«

»Siehst du, daß es richtig war, daß wir uns angemeldet haben!«

»Natürlich war es richtig. Du hast ja immer recht, Junge!« Und auf der Treppe nimmt sie seinen Kopf zwischen die Hände und küßt ihn stürmisch. »Oh Gott, bin ich glücklich, daß ich dich mal wieder habe, Junge. Denke doch, beinahe vierzehn Tage!«

»Ja, Lämmchen«, antwortet er. »Ich bin auch nicht mehr brummig.«

Die Tür geht auf und im halbdunklen Flur steht ein weißer Schemen vor ihnen, bellt: »Die Krankenscheine!«

»Lassen Sie einen doch erst mal rein«, sagt Pinneberg und schiebt Lämmchen vor sich her. »Übrigens sind wir privat. Ich bin angemeldet. Pinneberg ist mein Name.«

Auf das Wort »Privat« hin hebt der Schemen die Hand und schaltet das Licht auf dem Flur ein. »Herr Doktor kommt sofort. Einen Augenblick, bitte. Bitte, dort hinein.«

Sie gehen auf die Tür zu und kommen an einer andern, halb offen stehenden vorbei. Das ist wohl das gewöhnliche Wartezimmer, und in ihm scheinen die dreißig zu sitzen, die Pinneberg an sich vorbeikommen sah. Alles schaut auf die beiden und ein Stimmengewirr erhebt sich:

»So was gibt's nicht!«

»Wir warten schon länger!«

»Wozu zahlen wir unsere Kassenbeiträge?!«

»Die feinen Pinkels sind auch nicht mehr wie wir.«

Die Schwester tritt in die Tür: »Seien Sie man bloß ruhig! Herr Doktor wird ja gestört! Was Sie denken, ist nicht. Das ist der Schwiegersohn von Herrn Doktor mit seiner Frau. Nicht wahr?«

Pinneberg lächelt geschmeichelt, Lämmchen strebt der andern Tür zu. Einen Augenblick ist Stille.

»Nu bloß schnell!«, flüstert die Schwester und schiebt Pinneberg vor sich her. »Diese Kassenpatienten sind zu gewöhnlich. Was die Leute sich einbilden für das bißchen Geld, das die Kasse zahlt ...«

Die Tür fällt zu, der Junge und Lämmchen sind im roten Plüsch.

»Das ist sicher sein Privatsalon«, sagt Pinneberg. »Wie gefällt dir das? Schrecklich altmodisch finde ich.«

»Mir war es gräßlich«, sagt Lämmchen. »Wir sind doch sonst auch Kassenpatienten. Da hört man mal, wie die beim Arzt über uns reden.«

»Warum regst du dich auf?« fragte er. »Das ist doch so. Mit uns kleinen Leuten machen sie, was sie wollen ...«

»Es regt mich aber auf ...«

Die Tür öffnet sich, eine andere Schwester kommt: »Herr und Frau Pinneberg bitte? Herr Doktor läßt um einen Augenblick Geduld bitten. Wenn ich unterdes die Personalien aufnehmen dürfte?«

»Bitte«, sagt Pinneberg und wird gleich gefragt: »Wie alt?«

»Dreiundzwanzig.«

»Vorname: Johannes.«

Nach einem Stocken: »Buchhalter.«

Und glatter: »Immer gesund gewesen. Die üblichen Kinderkrankheiten, sonst nichts. – Soviel ich weiß, beide gesund.«

Wieder stockend: »Ja, die Mutter lebt noch. Der Vater nicht mehr, nein. Kann ich nicht sagen, woran er gestorben ist.« Und Lämmchen ...: »Zweiundzwanzig. – Emma.«

Jetzt zögert sie: »Geborene Mörschel. – Stets gesund. Beide Eltern am Leben. Beide gesund.«

»Also einen Augenblick noch. Herr Doktor ist sofort frei.«

»Wozu das alles nötig ist«, brummte er, nachdem die Tür wieder zufiel. »Wo wir doch nur ...«

»Gerne hast du es nicht gesagt: Buchhalter.«

»Und du nicht das mit der geborenen Mörschel!« Er lacht. »Emma Pinneberg, genannt Lämmchen, geborene Mörschel. Emma Pinne ...«

»Bist du stille! Oh Gott, Junge, ich müßte noch einmal ganz unbedingt. Hast du eine Ahnung, wo das hier ist?«

»Also das ist doch immer dieselbe Geschichte mir dir ...! Statt daß da vorher ...«

»Aber ich bin, Junge. Ich bin wirklich. Noch auf dem Rathausmarkt. Für einen ganzen Groschen. Aber wenn ich aufgeregt bin ...«

»Also Lämmchen, nimm dich doch einen Augenblick zusammen. Wenn du wirklich eben erst ...«

»Junge, ich muß ...«

»Ich bitte«, sagt eine Stimme. In der Tür steht Doktor Sesam, der berühmte Doktor Sesam, von dem die halbe Stadt und die viertel Provinz flüstern, daß er ein weites Herz hat, manche sagen auch, ein gutes Herz. Jedenfalls hat er eine volkstümliche Broschüre über sexuelle Probleme verfaßt, und darum hat Pinneberg den Mut gehabt, ihm zu schreiben und sich und Lämmchen anzumelden.

Dieser Doktor Sesam steht also in der Tür und sagt: »Ich bitte.«

Doktor Sesam sucht auf seinem Schreibtisch nach dem Brief. »Sie haben mir geschrieben, Herr Pinneberg. Sie können noch keine Kinder brauchen, weil das Geld nicht reicht.«

»Ja«, sagt Pinneberg und ist schrecklich verlegen.

»Machen Sie sich immer schon ein bißchen frei«, sagt der Arzt zu Lämmchen und fährt dann fort: »Und nun möchten Sie einen ganz sicheren Schutz wissen. Ja, einen ganz sicheren ...« Er lächelt skeptisch hinter seiner goldenen Brille.

»Ich habe in Ihrem Buch gelesen«, sagt Pinneberg, »diese Pessoirs ...«

»Diese Pessare«, sagt der Arzt, »ja, aber sie passen nicht für jede Frau. Und dann ist es immer etwas umständlich. Ob Ihre Frau das Geschick hat ...«

Er sieht zu ihr hoch. Sie hat sich ein bißchen ausgezogen, nur so angefangen, die Bluse und den Rock. Mit ihren schlanken Beinen steht sie sehr groß da.

»Nun, gehen wir einmal rüber«, sagt der Arzt. »Die Bluse hätten wir nun dazu nicht auszuziehen brauchen, kleine junge Frau.«

Lämmchen wird ganz rot.

»Jetzt lassen Sie sie schon liegen. Kommen Sie. Einen Augenblick, Herr Pinneberg.«

Die beiden gehen in das Nebenzimmer. Pinneberg sieht ihnen nach. Der ganze Doktor Sesam reicht der ›kleinen jungen Frau‹ nicht bis an die Schultern. Pinneberg findet wieder, sie sieht herrlich aus, das beste Mädchen von der Welt, das einzige überhaupt. Er arbeitet in Ducherow und sie hier in Platz, er sieht sie höchstens alle vierzehn Tage und so ist sein Entzücken immer frisch und sein Appetit über alles Begreifen.

Nebenan hört er den Arzt ab und zu halblaut etwas fragen, gegen einen Schalenrand klappert ein Instrument, das Geräusch kennt er vom Zahnarzt, es ist kein angenehmes Geräusch.

Nun fährt er zusammen, diese Stimme von Lämmchen kennt er noch nicht – sie sagt ganz laut, fast schreiend, sehr hell: »Nein, nein, nein!« Und noch einmal: »Nein!« Und dann ganz leise, aber er hört es doch: »Oh Gott!«

Pinneberg macht drei Schritte gegen die Tür – was ist das? Was kann da sein? Man hat schon gehört, daß solche Ärzte schreckliche Wüstlinge sind ... Aber nun spricht Doktor Sesam wieder, nichts zu verstehen, und nun klappert wieder das Instrument.

Und dann lange Stille.

Es ist ein Hochsommertag, etwa Mitte Juli, herrlichster Sonnenschein. Der Himmel draußen ist dunkelblau, ins Fenster reichen ein paar Zweige, sie bewegen sich im Seewind. Da ist ein altes Lied aus Pinnebergs Kinderzeit, es fällt ihm eben ein:

Wehe-Wind, Puste-Wind,
Nimm den Hut nicht meinem Kind!
Sei gelind zu meinem Kind,
Wehe-Wind, Puste-Wind!

Die im Wartezimmer reden. Denen wird die Zeit auch lang. Eure Sorgen möcht ich haben. Eure Sorgen ...

Die beiden kommen wieder. Pinneberg wirft einen ängstlichen Blick auf Lämmchen, sie hat so große Augen, wie von einem Schreck erweitert. Sie ist blaß, aber nun lächelt sie ihm zu, kümmerlich erst, und dann breitet sich das Lächeln voll aus über das ganze Gesicht und wird immer stärker und blüht auf ... Der Arzt steht in der Ecke, er wäscht sich die Hände. Schräg schaut er hinüber zu Pinneberg. Dann sagt er eilig: »Ein bißchen zu spät, Herr Pinneberg, mit der Verhütung. Die Tür ist zu. Ich denke Anfang des zweiten Monats.«

Pinneberg ist ohne Atem. Das war wie ein Schlag. Dann sagt er hastig: »Herr Doktor, es ist doch unmöglich! Wir haben so aufgepaßt! Ganz unmöglich ist das. Sag doch selbst, Lämmchen ...«

»Junge!« sagt sie. »Junge ...«

»Es ist so«, sagte der Arzt. »Irrtum ausgeschlossen. Und glauben Sie mir, Herr Pinneberg, ein Kind ist für jede Ehe gut.«

»Herr Doktor«, sagt Pinneberg und seine Lippe zittert. »Herr Doktor, ich verdiene im Monat hundertachtzig Mark! Ich bitte Sie, Herr Doktor!«

Doktor Sesam sieht schrecklich müde aus. Was jetzt kommt, das kennt er, das hört er an jedem Tage dreißigmal.

»Nein«, sagt er. »Nein. Bitten Sie mich gar nicht erst darum. Kommt überhaupt nicht in Frage Sie sind beide gesund. Und Ihr Einkommen ist gar nicht schlecht. Gar – nicht – schlecht.«

»Herr Doktor!« sagt Pinneberg fieberhaft.

Hinter ihm steht Lämmchen und streicht ihm über die Haare: »Laß, Junge, laß! Es wird schon gehen.«

»Aber es ist ganz unmöglich ...«, bricht Pinneberg aus – und wird still. Die Schwester ist hereingekommen.

»Herr Doktor werden am Apparat verlangt.«

»Sie sehen«, sagt der Arzt. »Passen Sie auf, Sie freuen sich noch. Und wenn das Kind da ist, kommen Sie sofort zu mir. Dann machen wir das mit der Verhütung. Verlassen Sie sich nicht auf's Nähren. Also denn ... Mut, junge Frau!«

Er schüttelt Lämmchen die Hand.

»Ich möchte gleich ...«, sagt Pinneberg und zieht sein Portemonnaie.

»Ach ja«, sagt der Arzt, schon in der Tür, und sieht die beiden noch einmal an, schätzend. »Na, fünfzehn Mark, Schwester.« »Fünfzehn ...«, sagt Pinneberg gedehnt und sieht die Tür an. Doktor Sesam ist schon fort. Er holt umständlich einen Zwanzigmarkschein hervor, schaut mit gerunzelter Stirn zu, wie die Quittung ausgeschrieben wird, und nimmt sie in Empfang.

Seine Stirn hellt sich etwas auf: »Ich bekomme das von der Krankenkasse wieder, nicht wahr?«

Die Schwester sieht ihn an, dann Lämmchen. »Schwangerschaftsdiagnose, nicht wahr?« Sie wartet gar nicht erst auf die Antwort. »Doch nicht. Das ersetzen die Kassen nicht.«

»Komm, Lämmchen!« sagt er.

Sie steigen langsam die Treppe hinunter. Auf einem Absatz bleibt Lämmchen stehen und nimmt seine Hand zwischen die ihren. »Sei nicht so traurig! Bitte nicht! Es wird schon gehen.«

»Ja, ja«, sagt er, tief in Gedanken.

Sie gehen ein Stück Rothenbaumstraße, dann biegen sie in die Mainzer Straße ein. Hier sind hohe Häuser und viele Menschen, Autos fahren in Rudeln, die Abendzeitungen sind schon da, niemand achtet auf die beiden.

»Gar kein schlechtes Einkommen, sagt der, und nimmt mir fünfzehn Mark ab von meinen hundertachtzig, solch Räuber!« »Ich schaffe es schon«, sagt Lämmchen. »Ich schaffe es schon.« »Ach du!« sagt er.

Von der Mainzer Straße kommen sie in den Krümperweg, still ist das plötzlich hier.

Lämmchen sagt: »Jetzt versteh ich manches.«

»Wieso?« fragt er.

»Ach nichts, nur daß mir morgens immer schlecht ist. Und es war überhaupt so komisch ...«

»Aber du mußt es doch gemerkt haben?«

»Ich hab doch immer gedacht, es kommt noch. Wer denkt denn gleich an so was?«

»Vielleicht hat er sich geirrt!«

»Nein. Das glaube ich nicht. Es stimmt schon.«

»Aber möglich ist es doch, daß er sich geirrt hat?«

»Nein, ich glaube ...«

»Bitte! Höre doch einmal zu, was ich sage! Möglich ist es doch!?«

»Möglich –? Möglich ist alles!«

»Also vielleicht kommt morgen schon die Regel. Dann schreib ich dem aber einen Brief –!« Er versinkt in Gedanken, er schreibt einen Brief.

Auf den Krümperweg folgt die Hebbelstraße, die beiden gehen fein bedachtsam durch den Sommernachmittag, in dieser Straße stehen schöne Ulmen.

»Meine fünfzehn Mark verlange ich dann aber auch zurück«, sagt Pinneberg plötzlich.

Lämmchen antwortet nicht. Sie tritt vorsichtig auf mit der ganzen Breite des Schuhs und sie sieht genau, wohin sie tritt, es ist alles so anders.

»Wohin gehen wir eigentlich?« fragt er plötzlich.

»Ich muß noch mal nach Haus«, sagt Lämmchen. »Ich habe Mutter nichts gesagt, daß ich wegbleibe.«

»Auch das noch!« sagt er.

»Schimpf nicht, Junge«, bittet sie. »Aber ich will sehen, daß ich um halb neun noch mal runterkommen kann. Mit welchem Zug willst du fahren?«

»Um halb zehn.«

»Dann bring ich dich zur Bahn.«

»Und sonst nichts«, sagt er. »Sonst wieder mal nichts. Ein Leben ist das.«

Die Lütjenstraße ist eine richtige Arbeiterstraße, immer wimmelt es von Kindern da, man kann keinen richtigen Abschied nehmen.

»Nimm es nicht so schwer, Junge«, sagt sie und gibt ihm die Hand. »Ich schaff es schon.«

»Ja, ja«, sagt er und versucht zu lächeln. »Du bist Trumpfas, Lämmchen, und stichst alles.«

»Und um halb neun bin ich unten. Bestimmt.«

»Und keinen Kuß jetzt?«

»Es geht wirklich nicht, es wird gleich weiter getratscht. Tapfer. Tapfer!«

»Also gut, Lämmchen«, sagt er. »Nimm du es auch nicht so schwer. Irgendwie wird es ja werden.«

»Natürlich«, sagt sie. »Ich verlier den Mut schon nicht. Tjüs derweile.«

Sie huscht schnell die dunkle Treppe hinauf, ihr Stadtköfferchen schlägt gegen das Geländer: klapp – klapp – klapp.

Pinneberg sieht den hellen Beinen nach. Hunderttausendmal ist ihm Lämmchen schon diese gottverdammte Treppe hinauf entschwunden.

»Lämmchen!« brüllt er. »Lämmchen!«

»Ja?« fragt sie von oben und sieht über das Geländer.

»Einen Augenblick!« ruft er. Er stürmt die Treppe hinauf, er steht atemlos vor ihr, er faßt sie bei den Schultern. »Lämmchen!« sagt er und keucht vor Aufregung und Atemnot. »Emma Mörschel! Wie wär's, wenn wir uns heiraten würden –?«

Erbsensuppe wird angesetzt und ein Brief geschrieben, aber das Wasser ist zu dünn

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Zuerst am Morgen hat Lämmchen eingekauft, nur schnell die Betten zum Lüften ins Fenster gelegt, und ist Einkaufen gegangen. Warum hat er ihr nicht gesagt, was es zum Mittagessen geben soll? Sie weiß es doch nicht! Und sie ahnt nicht, was er gerne ißt.

Die Möglichkeiten verringern sich beim Nachdenken, schließlich bleibt Lämmchens planender Geist an einer Erbsensuppe hängen. Das ist einfach und billig, das kann man zwei Mittage hintereinander essen.

»Oh Gott, haben's die Mädchen gut, die richtige Kochstunde gehabt haben! Mich hat Mutter immer vom Herd weggejagt. Weg mit dir, Ungeschickt läßt grüßen!«

Was braucht sie? Wasser ist da. Ein Topf ist da. Erbsen, wie viel? Ein halbes Pfund reicht sicher für zwei Personen, Erbsen geben viel aus. Salz?Suppengrün? Bißchen Fett? Na, vielleicht für alle Fälle. Wieviel Fleisch? Was für Fleisch erst mal? Rind, natürlich Rind. Ein halbes Pfund muß genug sein. Erbsen sind sehr nahrhaft und das viele Fleischessen ist ungesund. Und dann natürlich Kartoffeln.

Lämmchen geht einkaufen. Herrlich, an einem richtigen Alltagsvormittag, wenn alles in den Büros sitzt, über die Straße zu bummeln, die Luft ist noch frisch, trotzdem die Sonne schon kräftig scheint.

Über den Marktplatz tutet langsam ein großes, gelbes Postauto. Dort hinter den Fenstern sitzt vielleicht ihr Junge. Aber er sitzt nicht dort, sondern zehn Minuten später fragt er sie über die Schulter, was es mittags zu präpeln gibt. Die Schlächterfrau hat sicher was gemerkt, sie ist so komisch, und für Suppenknochen verlangt sie dreißig Pfennig das Pfund, so was muß sie doch eigentlich zugeben, bloße blanke Knochen, ohne ein Fitzelchen Fleisch. Sie wird Mutter schreiben und fragen, ob das richtig ist. Nein, lieber nicht, lieber allein fertig werden. Aber an seine Mutter muß sie schreiben. Und sie fängt auf dem Heimweg an, den Brief aufzusetzen.

Die Scharrenhöfer scheint nur ein Nachtgespenst zu sein, in der Küche, als Lämmchen Wasser holt, sieht sie keine Spur, daß dort etwas gekocht ist oder wird, alles blank, kalt, und aus dem Zimmer dahinter dringt kein Laut. Sie setzt ihre Erbsen auf, ob man das Salz gleich reintut? Besser, sie wartet bis zum Schluß, dann trifft man es richtiger.

Und nun das Reinmachen. Es ist hart, es ist noch viel härter, als Lämmchen je gedacht hat, oh, diese ollen Papierrosen, diese Girlanden, halb verblaßt und halb giftgrün, diese verschossenen Polstermöbel, diese Winkel, diese Ecken, diese Knäufe, diese Balustraden! Bis halb zwölf muß sie fertig sein, dann den Brief schreiben. Der Junge, der von zwölf bis zwei Mittagspause hat, wird kaum vor dreiviertel eins hier sein, er muß erst aufs Rathaus zur Anmeldung.

Um dreiviertel zwölf sitzt sie an einem kleinen Nußbaumschreibtisch, ihr gelbes Briefpapier aus der Mädchenzeit vor sich.

Erst die Adresse: »Frau Marie Pinneberg – Berlin NW 40 – Spenerstraße 92 II.«

Seiner Mutter muß man schreiben, seiner Mutter muß man mitteilen, wenn man heiratet, zumal als einziger Sohn, als einziges Kind sogar. Wenn man auch nicht einverstanden mit ihr ist, weil man nämlich mit ihrem Lebenswandel nicht einverstanden ist, als Sohn.

»Mutter sollte sich was schämen«, hat Pinneberg erklärt.

»Aber, Jungchen, wenn sie doch nun schon zwanzig Jahre Witwe ist!«

»Egal! Und es ist nicht einmal immer derselbe gewesen.«

»Hannes, du hast doch auch schon mehr Mädchen als mich gehabt.«

»Das ist ganz was anderes.«

»Was soll denn der Murkel sagen, wenn er sich mal ausrechnet, wann er geboren ist und wann wir geheiratet haben?«

»Das ist noch gar nicht raus, wann der Murkel geboren wird.«

»Doch. Anfang März.«

»Aber wieso denn?«

»Laß schon, Jungchen, ich weiß. Und an deine Mutter schreib' ich, das gehört sich so.«

»Tu, was du willst, aber ich mag nichts mehr davon hören.«

»›Sehr geehrte gnädige Frau‹ – furchtbar dumm; nicht wahr? So schreibt man doch nicht. ›Liebe Frau Pinneberg‹ – aber das bin ich doch selbst, und gut klingt es auch nicht. Der Junge liest sicher den Brief.«

»Ach was«, denkt Lämmchen, »entweder ist sie so, wie der Junge denkt, und dann ist es ganz egal, was ich schreibe, oder sie ist 'ne richtige nette Frau, und da schreibe ich lieber so, wie ich möchte. Also –:

»Liebe Mutter! Ich bin Ihre neue Schwiegertochter Emma, genannt Lämmchen, und Hannes und ich haben vorgestern geheiratet, am Sonnabend. Wir sind glücklich und zufrieden, und würden ganz glücklich sein, wenn Sie sich mit uns freuen würden. Es geht uns gut, nur hat leider der Hannes die Konfektion aufgeben müssen und arbeitet in einem Düngemittelgeschäft, was uns nicht so gefällt. Es grüßen Sie

Ihre Lämmchen ...«

Sie läßt den Raum frei. »Und du schreibst doch deinen Namen hin, mein Junge!«

Und weil nun noch eine halbe Stunde Zeit ist, kriegt sie ihr Buch, vor vierzehn Tagen gekauft, beim Wickel: ›Das heilige Wunder der Mutterschaft‹.

Sie liest mit gerunzelter Stirne: »Ja, die glücklichen, sonnigen Tage sind da, wenn das Kindchen kommt. Das ist der Ausgleich, den die gottgewollte Natur den menschlichen Unvollkommenheiten schafft.«

Sie versucht, dies zu verstehen, aber es entwischt ihr immer, es scheint ihr schrecklich schwierig, und direkt auf den Murkel bezieht es sich wohl auch nicht. Aber nun kommen ein paar Verse, sie liest sie langsam, ein paar Male:

»O du Kindermund, o du Kindermund,
Unbewußter Weisheit froh,
Vogelsprache kund, Vogelsprache kund
Wie Salomo.«

Auch das versteht Lämmchen nicht ganz. Aber es ist so fröhlich, sie lehnt sich ganz zurück, es gibt jetzt Minuten, in denen sie ihren Schoß so schwer fühlt, reich, und sie wiederholt es in sich mit geschlossenen Augen: »Vogelsprache kund, Vogelsprache kund wie Salomo.«

»Es muß ungefähr das Fröhlichste sein, was es gibt«, fühlt sie. »Fröhlich soll er sein, der Murkel! Vogelsprache kund ...«

»Mittagessen!« ruft der Junge, schon draußen auf dem Flur.

Sie muß ein wenig geschlafen haben, manchmal ist sie jetzt so müde.

»Mein Mittagessen«, denkt sie und steht langsam auf.

»Noch nicht gedeckt?« fragt er.

»Einen Augenblick, Jungchen, gleich«, sagt sie und läuft zur Küche. »Darf ich den Topf auf den Tisch bringen? Aber ich nehme auch gerne die Terrine!«

»Was gibt's denn?«

»Erbsensuppe.«

»Fein. Na bring schon den Topf. Ich decke unterdessen.«

Lämmchen füllt auf. Sie sieht etwas ängstlich aus. »Scheint etwas dünn?« fragt sie besorgt.

»Wird schon so richtig sein«, sagt er und schneidet das Fleisch auf dem Tellerchen.

Sie probiert. »Oh Gott, wie dünn!« sage sie unwillkürlich. Und es folgt: »Oh Gott, das Salz!«

Auch er läßt den Löffel sinken, über dem Tisch, über den Tellern, über dem dicken braunen Emailletopf begegnen sich beider Blicke.

»Und sie müßte so gut sein«, klagt Lämmchen. »Ich hab alles richtig genommen: ein halbes Pfund Erbsen, ein halbes Pfund Fleisch, ein ganzes Pfund Knochen, das müßte eine gute Suppe sein!«

Er ist aufgestanden und bewegt nachdenklich den großen Auffüllöffel aus Emaille in der Suppe. »Ab und an begegnet man 'ner Schluse? Wieviel Wasser hast du denn genommen, Lämmchen?«

»Es muß an den Erbsen liegen! Die Erbsen geben rein gar nichts aus!«

»Wieviel Wasser?« wiederholte er.

»Nun, den Topf voll.«

»Fünf Liter – und ein halbes Pfund Erbsen. Ich glaube, Lämmchen«, sagt er geheimnisvoll, »es liegt an dem Wasser. Das Wasser ist zu dünn.«

»Meinst du«, fragt sie betrübt. »Hab ich zu viel genommen? Fünf Liter. Es sollte aber für zwei Tage reichen.«

»Fünf Liter – ich glaube, es ist zu viel für zwei Tage.« Er probiert noch mal. »Nee, entschuldige, Lämmchen, es ist wirklich nur heißes Wasser.«

»Ach, mein armer Junge, hast du schrecklichen Hunger? Was mache ich nun? Soll ich ganz schnell ein paar Eier raufholen und uns Bratkartoffeln und Spiegeleier machen? Spiegeleier und Bratkartoffeln kann ich bestimmt.«

»Also los!« sagt er. »Ich lauf selbst nach den Eiern.« Und ist fort.

Als er dann zu ihr in die Küche kommt, laufen ihre Augen nicht von der Zwiebel, die sie für die Bratkartoffeln geschnitten hat. »Aber Lämmchen«, sagt er, »es ist doch keine Tragödie!«

Sie wirft beide Arme um seinen Hals. »Jungchen, wenn ich nun eine untüchtige Hausfrau bin! Ich möchte es gerne alles so nett für dich machen. Und wenn der Murkel kein richtiges Essen kriegt, kommt er auch nicht vorwärts!«

»Meinst du jetzt oder nachher?« fragt er lachend. »Glaubst du, du lernst es nie?«

»Siehst du, du veräppelst mich auch noch.«

»Mit der Suppe, das habe ich mir eben schon auf der Treppe überlegt. Der Suppe fehlt doch gar nichts, nur zu viel Wasser. Wenn du sie noch mal aufsetzt und ganz lange richtig kochen läßt, daß alles Wasser richtig auskocht, was zuviel ist, dann haben wir doch 'ne richtige gute Erbsensuppe.«

»Fein!« sagt sie strahlend. »Da hast du recht. Mach ich gleich heute nachmittag, dann essen wir noch einen Teller zum Abendessen.«

Sie ziehen mit ihren Bratkartoffeln plus je zwei Spiegeleiern ins Zimmer. »Schmeckt es? Schmeckt es ganz richtig, wie du es gewöhnt bist? Ist es auch nicht zu spät für dich? Kannst du dich nicht noch einen Augenblick hinlegen? Du siehst so müde aus, Jungchen.«

»Nee. Nicht weil es zu spät ist, nein, ich kann heute doch nicht schlafen. Dieser Kleinholz ...«

Er hat sich lange überlegt, ob er es ihr überhaupt erzählen soll.

Aber jedenfalls haben sie in der Sonnabendnacht verabredet, es soll keine Geheimnisse mehr geben. Und darum erzählt er ihr. Und dann tut es so gut, wenn man sich aussprechen kann! »Und was mach ich nun?« fragt er. »Wenn ich ihm nichts sage, kündigt er mir doch bestimmt am Ersten. Wenn ich ihm einfach die Wahrheit sagte? Wenn ich ihm sagte, daß ich verheiratet bin, daß er mich nicht auf die Straße setzen soll?«

Aber darin ist Lämmchen ganz die Tochter ihres Vaters: von einem Arbeitgeber hat ein Angestellter nichts zu erwarten. »Das ist ja dem so piepe«, sagt sie empört. »Früher, ja vielleicht, da gab's noch ab und an ein paar anständige ... Aber heute ... wo so viele arbeitslos sind und durchkommen müssen, kann's auf meine Leute auch nicht ankommen, denken die!«

»Schlecht ist der Kleinholz eigentlich nicht«, sagt Pinneberg. »Nur so gedankenlos. Man müßte es ihm richtig auseinandersetzen. Daß wir den Murkel erwarten und so ...«

Lämmchen ist empört: »Das willst du dem erzählen! Dem, der dich erpressen will? Nein, Junge. Das tust und tust du nicht.«

»Aber was soll ich denn tun? Ich muß ihm doch was sagen.«

»Ich«, sagte Lämmchen nachdenklich, »ich spräch mal mit meinen Kollegen. Vielleicht hat er denen auch so gedroht wie dir. Und wenn ihr dann alle zusammenhaltet, allen dreien wird er ja nicht kündigen.«

»Das mag angehen«, sagte er. »Wenn sie einen nur nicht reinlegen. Lauterbach betrügt nicht, der ist schon viel zu doof dazu, aber Schulz ...«

Lämmchen glaubt an die Solidarität aller Arbeitenden: »Deine Kollegen werden dich doch nicht reinreißen! Nein, Jungchen, es wird schon werden. Ich glaub immer, es kann uns gar nicht schlecht gehen. Warum denn eigentlich? Fleißig sind wir, sparsam sind wir, schlechte Menschen sind wir auch nicht, den Murkel wollen wir auch, und gerne wollen wir ihn – warum soll es uns da eigentlich schlecht gehen? Das hat doch gar keinen Sinn!«

Kleinholz stänkert, Kube stänkert und die Angestellten kneifen. Erbsen gibt es noch immer nicht

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Der Weizenboden der Firma Emil Kleinholz ist eine olle verwinkelte Geschichte. Nicht einmal eine richtige Absackvorrichtung ist vorhanden. Alles muß noch auf Dezimalwaagen abgewogen werden, und aus einer Dachluke auf einer Rutsche läßt man die Säcke hinuntersausen in das Lastauto.

Sechzehnhundert Zentner sacken an einem Nachmittag, das ist wieder mal das richtige Kleinholz-Theater. Keine Arbeitseinteilung, keine Disposition. Der Weizen liegt schon eine Woche, schon zwei Wochen auf dem Boden, hätte man längst mit Absacken anfangen können, aber nein, an einem Nachmittag!

Es wimmelt von Menschen auf dem Boden, alles, was Kleinholz in der Eile hat auftreiben können, hilft mit. Ein paar Weiber kehren den Weizen wieder an die Haufen heran, drei Waagen sind in Tätigkeit, Schulz an der ersten, Lauterbach an der zweiten, Pinneberg an der dritten.

Emil rennt rum, Emil noch schlechterer Laune als am Vormittag, denn Emilie hat ihn völlig trocken gelegt, darum sind sie und Marie auch nicht auf den Boden gelassen. Über alle väterlichen Versorgungsgefühle hat die Wut des Tyrannisierten gesiegt. »Nicht riechen mag ich euch Biester.«

»Haben Sie Sackgewicht drauf, richtiges Sackgewicht, Herr Lauterbach? So ein Idiot! Ein Zweizentnersack wiegt drei Pfund, keine zwei Pfund! Genau zwei Zentner und drei Pfund werden gesackt, meine Herren. Und daß mir keiner ein Übergewicht gibt. Ich habe nischt zu verschenken. Ich wiege nach, mein schöner Schulz.«

Zwei Mann rutschen einen Sack zur Schurre. Der Sack geht auf, eine Flut rotbraunen Weizens prasselt auf den Boden.

»Wer hat den Sack zugebunden? Sie, Schmidten? Gottverdammich, Sie sollten doch mit Säcken umgehen können! Sie sind doch auch keine Jungfer mehr. Glotzen Sie nicht, Pinneberg, Ihre Waage hat Ausschlag! Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie Trottel, wir geben keinen Ausschlag?«

Nun glotzt Pinneberg wirklich, und zwar sehr böse auf seinen Chef.

»Kucken Sie nicht so dämlich! Wenn Ihnen hier was nicht paßt, bitte, Sie können gehen. – Schulz, Sie Bock, lassen Sie sofort die Marheinecke los. Will der Kerl auf meinem Weizenboden mit den Weibern loslegen.«

Schulz murmelt was.

»Halten Sie's Maul! Sie haben die Marheinecke in den Hintern gekniffen. Wieviel Sack haben Sie jetzt?«

»Dreiundzwanzig.«

»Nicht vorwärts geht das. Nicht vorwärts! Aber das sage ich euch, keiner kommt mir vom Boden runter, bis die achthundert Sack fertig sind! Vesper gibt's nicht. Und wenn ihr um elf Uhr nachts hier noch steht, das will ich doch mal sehen ...«

Es ist drückend heiß unter den Dachpfannen, auf die mit aller Gewalt die Augustsonne niederprallt. Die Männer haben nur noch Hemd und Hose an und die Weiber auch kaum mehr. Es riecht nach trockenem Staub, nach Schweiß, nach Heu, nach der frischen, glänzenden Jute der Weizensäcke, aber vor allem nach Schweiß, Schweiß, Schweiß. Ein dicker Brodem von Körperlichkeit, ein Gestank nach schofelster Sinnlichkeit macht sich immer breiter. Und dazwischen gellt ununterbrochen wie ein dröhnender Gong die Stimme von Kleinholz:

»Lederer, fassen Sie gefälligst die Schippe vernünftig an! Mensch, faßt man so 'ne Schippe an?! Halt den Sack ordentlich auf, du Fettsau, 'ne Schnauze muß er haben. So macht man das ...«

Pinneberg bedient seine Waage. Ganz mechanisch läßt er die Sperre runter: »Noch ein bißchen, Frau Friebe. Noch eine Kleinigkeit. So, nun ist es wieder zu viel. Noch 'ne Handvoll raus. Ab dafür! Der nächste! Halten Sie sich ran, Hinrichsen, Sie sind jetzt dran. Sonst stehen wir noch um Mitternacht hier.«

Und im Gehirn geht es dabei, in Bruchstücken: »Lämmchen hat's gut. Frische Luft ... die weißen Vorhänge wehen. – Halt die Schnauze, verfluchter Hund! Ewig muß er kläffen. – Und um so was zittert man nun! So was will man um keinen Preis verlieren. Na, danke schön.«

Und wieder der dröhnende Gong: »Los mit Ihnen, Kube! Was haben Sie rausgewogen aus dem Haufen? Achtundneunzig Zentner? Hundert waren's. Das ist der Weizen aus Nickelshof. Hundert Zentner waren das. Wo haben Sie die zwei Zentner gelassen, Schulz? Ich wiege nach. Los, wieder rauf mit dem Sack auf die Waage.«

»Ist zusammengeschnurrt in der Hitze, der Weizen«, läßt sich der alte Speicherarbeiter Kube vernehmen. »War höllisch zach, als er von Nickelshof kam.«

»Kauf ich zachen Weizen? Halt du die Schnauze, du! Will hier reden. Hast ihn nach Haus getragen zu Muttern, was? Zusammengeschnurrt, wenn ich das höre! Geklaut ist er, hier mausen doch alle.«

»Das ha 'ck nich nödig, Herre«, sagt Kube, »daß Sie mir hier was von Klauen sagen. Ick meld das dem Verband. Das ha 'ck nich nödig, das wollen wir mal sehen.«

Er kiekt über seinen grauweißen Schnauzbart dem Chef grell in die Visage.

»Oh Gott, ist das schön«, jubiliert Pinneberg innerlich. »Verband! Wenn man das auch so könnte! Aber bei uns? Neese.«

Kleinholz ist gar nicht sprachlos, Kleinholz ist so was gewöhnt. »Hab ich was gesagt, daß du 'nen geklaut hast? Keinen Ton hab ich gesagt. Mäuse klauen auch, Mäusefraß haben wir immer. Müssen wir mal wieder Meerzwiebeln legen oder Diphtherie impfen, Kube.«

»Sie haben gesagt, Herr Kleinholz, ich hab hier Weizen geklaut. Da sind se alle Zeuge für auf dem Boden. Ich geh zum Verband. Ich zeig Sie an, Herr Kleinholz.«

»Nichts hab ich gesagt. Kein Wort hab ich zu Ihnen gesagt. Heh, Herr Schulz, habe ich was zu Kube gesagt von Klauen?«

»Habe nichts gehört, Herr Kleinholz.«

»Siehst du, Kube. Und Sie, Herr Pinneberg, haben Sie was gehört?«

»Nein. Nichts«, sagt Pinneberg zögernd und weint innen blutige Tränen.

»Na also«, sagt Kleinholz. »Ewig du mit deinen Stänkereien, Kube. Das will 'nen Betriebsrat sein.«

»Machen Se's sachte, Herr Kleinholz«, warnt Kube. »Sie fangen schon wieder an. Sie wissen doch von wegen. Dreimal sind Sie mit dem ollen Kube schon reingefallen vors Gericht. Ich geh auch viertens. Ich hab keine Bange, Herr Kleinholz.«

»Quasseln tust du«, sagt Kleinholz wütend, »du bist ja alt, Kube, du weißt ja nicht mehr, was du redest. So ein Mitleid hab ich mit dir!«

Aber Kleinholz hat es dicke. Außerdem ist es wirklich zu heiß hier oben, wenn man ununterbrochen hin und her läuft und brüllt. Er geht runter und macht Vesper.

»Ich geh mal auf's Büro, Pinneberg. Passen Sie hier auf, daß weiter gemacht wird. Vesper gibt's nicht, verstanden? Sie stehen mir dafür, Pinneberg!«

Er verschwindet die Bodentreppe abwärts, und sofort setzt allgemeine lebhafte Unterhaltung ein. Stoffmangel herrscht nicht, dafür hat Kleinholz gesorgt.

»Na, warum der heute so aus der Tüt ist, das weiß man ja.«

»Soll man einen auf die Lampe gießen, dann wird ihm schon anders.«

»Vesper!« brüllt der olle Kube, »Vesper!«

Emil kann noch nicht über den Hof sein.

»Ich bitte Sie, Kube«, sagt der dreiundzwanzigjährige Pinneberg zum dreiundsechzigjährigen Kube, »ich bitte Sie, Kube, machen Sie doch keine Geschichten, wo es Herr Kleinholz ausdrücklich verboten hat!«

»Is Tarif, Herr Pinneberg«, sagt Kube mit dem Walroßbart. »Vesper is Tarif. Das kann uns der Alte nicht nehmen.«

»Aber ich krieg den schlimmsten Krach ...«

»Was geht mir das an!« Kube schnauft. »Wo Se nicht mal gehört haben, daß er mir Mausehaken geschimpft hat –!«

»Wenn Sie in meiner Lage wären, Kube ...«

»Weeß ich. Weeß ich. Wenn alle so dächten wie Sie, junger Mann, dann dürften wir wohl wegen der Herren Arbeitgeber in Ketten schuften und für jedes Stück Brot 'nen Psalm singen. Na, Sie sind noch jung, Sie haben was vor sich, Sie werden ja auch noch erleben, wie weit Sie mit der Kriecherei kommen. – Also Vesper!«

Aber alles vespert längst. Die drei Angestellten stehen vereinsamt.

»Können ja weiter sacken, die Herren«, sagt ein Arbeiter.

»Sich 'nen weißen Fuß machen bei Emil!« der andere. »Dann läßt er sie vielleicht mal am Kognak riechen.«

»Nee, an Mariechen riechen!«

»Alle dreie?« Brüllendes Gelächter.

»Die nimmt alle drei, die is nich so.«

Einer fängt an zu singen: »Mariechen, mein süßes Viehchen.« Und schon singen die meisten.

»Wenn das gut geht!« sagt Pinneberg.

»Ich mach das nicht länger mit«, sagt Schulz. »Hab ich es nötig, mich hier vor allen Bock schimpfen zu lassen?! – Oder ich mach der Marie ein Kind und laß sie sitzen.« Er grinst schadenfroh und düster.

Und der starke Lauterbach: »Man müßte ihm mal auflauern, wenn er sich nachts besoffen hat, und ihn im Dunkeln gehörig vertrimmen. Das hilft.«

»Und tun tut keiner was von uns«, sagt Pinneberg. »Die Arbeiter haben ganz recht. Wir haben ewig Schiß.«

»Wenn du hast. Ich hab keinen«, sagt Lauterbach.

»Ich auch nicht«, sagt Schulz. »Ich hab überhaupt den ganzen Laden hier dicke.«

»Na, denn tun wir doch was«, schlägt Pinneberg vor. »Hat er denn mit euch nicht gesprochen heute früh?«

Die drei sehen sich an, prüfend, mißtrauisch, befangen.

»Ich will euch was sagen«, erklärt Pinneberg. Denn nun kommt es ja doch nicht mehr darauf an. »Mir hat er heute früh erst von der Marie was vorgequasselt, was sie für ein tüchtiges Mädchen ist. und dann, daß ich mich zum Ersten erklären soll, was, weiß ich eigentlich nicht, ob ich mich freiwillig abbauen lassen will, weil ich doch der Jüngste bin, also die Marie.«

»Bei mir war's auch so. Weil ich Nazi bin, davon hat er solche Unannehmlichkeiten.«

»Und bei mir, weil ich mal mit 'nem Mädchen ausgehe.«

Pinneberg holt tief Atem: »Na, und?«

»Wieso und?«

»Was wollt ihr denn zum Ersten sagen?«

»Was sagen?«

»Ob ihr die Marie wollt?«

»Ganz ausgeschlossen!«

»Eher stempeln gehen!«

»Na also!«

»Was na also?«

»Dann können wir doch auch was verabreden.«

»Aber was denn?«

»Zum Beispiel: wir geben unser Ehrenwort darauf, daß wir zu der Marie alle drei Nein sagen.«

»Von der wird er schon nicht reden, so dumm ist Emil nicht.«

»Marie ist kein Kündigungsgrund.«

»Also dann, daß wir ausmachen, wenn er einen von uns kündigt, kündigen die beiden andern auch. Ehrenwörtlich ausmachen.«

Die beiden sehen bedenklich drein, jeder erwägt seine Chancen, gekündigt zu werden, ob sich das Ehrenwort für ihn lohnt.

»Alle drei läßt er uns sicher nicht gehen«, drängt Pinneberg.

»Da hat Pinneberg recht«, bestätigt Lauterbach. »Das tut er jetzt nicht. Ich geb mein Ehrenwort.«

»Ich auch«, sagt Pinneberg. »Und du, Schulz?«

»Meinetwegen, ich mach mit.«

»Vesper vorbei!« brüllt Kube. »Wenn die Herren Beamten sich bemühen wollen!«

»Also es ist fest?«

»Ehrenwort!«

»Ehrenwort!«

»Gott, wie wird sich Lämmchen freuen«, denkt der Junge.

»Wieder für einen Monat Sicherheit.«

Sie gehen an ihre Waagen.

Es ist gegen elf, als Pinneberg nach Haus kommt. In der Sofaecke zusammengekuschelt, findet er schlafend Lämmchen. Sie hat ein Gesicht wie ein verweintes Kind, die Lider sind noch feucht.

»Oh Gott, bist du endlich da? Ich hatte solche Angst!«

»Aber warum denn Angst? Was soll mir denn passieren? Überarbeiten habe ich müssen, das Vergnügen habe ich alle drei Tage.«

»Und ich habe solche Angst gehabt! Hast du sehr Hunger?«

»Hunger noch und noch. Aber weißt du, es riecht so komisch bei uns.«

»Komisch, wieso?« Lämmchen schnuppert. »Meine Erbsensuppe!«

Sie stürzen gemeinsam in die Küche. Ein stinkender Qualm schlägt ihnen entgegen.

»Fenster auf! Rasch alle Fenster auf! Durchzug machen!«

»Sieh, daß du den Gashahn findest. Stell erst mal das Gas ab.«

Schließlich, etwas reinere Luft atmend, sehen die beiden in den großen Kochpott.

»Meine schöne Erbsensuppe«, flüstert Lämmchen.

»Irgendwas wie Kohlen.«

»Das schöne Fleisch!«

Sie starren in den Topf, dessen Boden und Wände von einer schwärzlichen stinkenden, klebrigen Masse bedeckt sind.

»Ich hab ihn um fünf aufgesetzt«, berichtet Lämmchen. »Ich dachte, du kämst um sieben. Damit das viele Wasser unterdes verkocht. Und dann kamst du nicht und ich kriegte solche Angst, und ich hab gar nicht mehr an den ollen dummen Pott gedacht!«

»Der ist auch hin«, sagt Pinneberg betrübt.

»Vielleicht kriege ich es wieder raus«, meint Lämmchen bedenklich. »Es gibt so Kupferbürsten.«

»Kostet alles Geld«, sagt Pinneberg kurz. »Wenn ich denke, was wir diese Tage schon für Geld veraast haben. Und nun alle diese Töpfe und Kupferbürsten und das Mittagessen – dafür hätte ich drei Wochen am Mittagstisch essen können. – Ja, nun weinst du, wo es doch wahr ist ...«

Sie schluchzt sehr: »Und ich gebe mir ja solche Mühe, mein Junge! Nur wenn ich solche Angst um dich habe, kann ich doch nicht an das Essen denken. Und hättest du nicht eine einzige halbe Stunde früher kommen können? Dann hätten wir den Gashahn noch rechtzeitig zugedreht.«

»Na ja«, sagt Pinneberg und packt den Deckel auf den Topf.

»Lehrgeld. Ich« ... er entschließt sich heldenhaft ... »ich mach auch manchmal Fehler. Darum brauchst du nicht zu weinen. – Und nun gib mir was zu essen. Ich hab so 'nen Hunger!«

Pinneberg hat ja doch nichts vor, macht aber einen Ausflug, auf dem Augen gemacht werden

Inhaltsverzeichnis

Der Sonnabend, dieser schicksalhafte Sonnabend, dieser dreißigste August, entsteigt strahlend mit tiefer Bläue der Nacht. Beim Kaffee hat Lämmchen noch einmal wiederholt: »Also morgen bist du bestimmt frei. Morgen fahren wir nach Maxfelde mit der Bimmelbahn.«

»Morgen hat Lauterbach Stalldienst«, erklärt Pinneberg. »Morgen fahren wir los. Das versprech ich dir.«

»Und dann nehmen wir uns ein Ruderboot und rudern über den Maxensee, die Maxe hinauf.« Sie lacht. »Gott, Junge, was für Namen? Ich denke immer noch, du nimmst mich auf den Arm!«

»Tät ich gern. Aber ich muß los ins Geschäft. Tjüs, Frau!«

»Tjüs, Mann!«

Dann kam Lauterbach zu Pinneberg. »Du hör mal, Pinneberg, wir haben morgen Werbemarsch und mein Gruf hat mir gesagt, ich darf bestimmt nicht fehlen. Mach du mal für mich Futterausgabe.«

»Tut mir schrecklich leid, Lauterbach, morgen kann ich unter keinen Umständen! Sonst immer gerne.«

»Tu mir doch den Gefallen, Mensch!«

»Nein, wirklich nicht. Du weißt, sonst immer gerne, aber diesmal ausgeschlossen! Vielleicht Schulz?«

»Nee, Schulz kann auch nicht. Der hat was mit 'nem Mädchen, wegen Alimente. Also sei so gut.«

»Diesmal nicht.«

»Aber du hast doch nie was vor.«

»Und diesmal habe ich eben was vor.«

»Solche Ungefälligkeit – wo du sicher nichts vorhast!«

»Diesmal doch!«

»Ich mach zwei Sonntage für dich Dienst, Pinneberg.«

»Nein, ich will gar nicht. Und nun halt den Mund davon. Ich tu's nicht.«

»Bitte, wenn du so bist. Wo es mein Gruf extra befohlen hat!« Lauterbach ist wahnsinnig beleidigt.

Damit fing es an. Damit ging es weiter.

Zwei Stunden später sind Kleinholz und Pinneberg allein auf dem Büro. Die Fliegen summen und burren schön sommerlich. Der Chef ist heftig gerötet, sicher hat er heute schon ein paar gekippt und ist darum guter Laune.

Er sagt auch ganz friedlich: »Machen Sie mal morgen Stalldienst für Lauterbach, Pinneberg. Er hat mich um Urlaub gebeten.«

Pinneberg sieht hoch: »Tut mir schrecklich leid, Herr Kleinholz. Morgen kann ich nicht. Ich hab das Lauterbach auch schon gesagt.«

»Das wird sich bei Ihnen ja verschieben lassen. Sie haben ja noch nie was Wichtiges vorgehabt.«

»Diesmal leider doch, Herr Kleinholz.«

Herr Kleinholz sieht seinen Buchhalter sehr genau an: »Hören Sie, Pinneberg, machen Sie keine Geschichten. Ich hab dem Lauterbach Urlaub gegeben, ich kann es nicht wieder ruckgängig machen.«

Pinneberg antwortet nicht.

»Sehen Sie, Pinneberg«, erklärt Emil Kleinholz den Fall ganz menschlich, »der Lauterbach ist ja 'ne doofe Nuß. Aber er ist nun mal Nazi und sein Gruppenunterführer ist der Müller Rothsprack. Mit dem möchte ich es auch nicht verderben, der hilft uns immer mal aus, wenn wir schnell was zu mahlen haben.«

»Aber ich kann wirklich nicht, Herr Kleinholz«, beteuert Pinneberg.

»Nun könnte ja mal der Schulz einspringen«, klamüsert Emil nachdenklich den Fall auseinander, »aber der kann auch nicht. Der hat morgen ein Familienbegräbnis, wo er was erben will. Da muß er hin, das sehen Sie ein, sonst nehmen die andern Verwandten sich doch alles.«

›So ein Aas!‹ denkt Pinneberg. ›Seine Weibergeschichten.‹

»Ja, Herr Kleinholz ...«, fängt er an.

Aber Kleinholz ist aufgezogen. »Und was mich angeht, Herr Pinneberg, ich würde ja gerne Dienst machen, ich bin nicht so, das wissen Sie ...«

Pinneberg bestätigt es: »Sie sind nicht so, Herr Kleinholz.«

»Aber wissen Sie, Pinneberg, morgen kann ich auch nicht. Morgen muß ich nun wirklich über Land und sehen, daß wir Kleebestellungen reinkriegen. Wir haben dies Jahr noch gar nichts verkauft.«

Er sieht Pinneberg erwartungsvoll an.

»Sonntags muß ich fahren, Pinneberg, sonntags treffe ich die Bauern zu Haus.«

Pinneberg nickt: »Und wenn der olle Kube mal das Futter rausgibt, Herr Kleinholz?«

Kleinholz ist entsetzt. »Der olle Kube?! Dem soll ich die Bodenschlüssel in die Hand geben? Der Kube ist schon seit Vatern da, aber den Bodenschlüssel hat er noch nie in die Hand bekommen. Nee, nee, Herr Pinneberg, Sie sehen's ja jetzt ein, Sie sind der Mann an der Spritze. Sie machen morgen Dienst.«

»Aber ich kann nicht, Herr Kleinholz!«

Kleinholz ist aus allen Wolken gefallen: »Aber wo ich Ihnen eben erst auseinandergesetzt habe, Herr Pinneberg, daß keiner Zeit hat wie Sie.«

»Aber ich habe keine Zeit, Herr Kleinholz!«

»Herr Pinneberg, Sie werden doch nicht verlangen, daß ich morgen für Sie Dienst mache, bloß weil Sie Launen haben. Was haben Sie denn morgen vor?«

»Ich habe ...«, fängt Pinneberg an. »Ich muß ...«, sagt er weiter. Und ist still, denn es fällt ihm in der Eile nichts ein. »Na also! Sehen Sie! Ich kann mir doch mein Kleegeschäft nicht verbuttern, bloß weil Sie nicht wollen, Herr Pinneberg! Seien Sie vernünftig.«

»Ich bin vernünftig, Herr Kleinholz. Aber ich kann bestimmt nicht.«

Herr Kleinholz erhebt sich, er geht rückwärts bis zur Tür und läßt kein betrübtes Auge von seinem Buchhalter. »Ich hab mich schwer in Ihnen getäuscht, Herr Pinneberg«, sagt er. »Schwer getäuscht.«

Und schrammt die Tür zu. –

Lämmchen ist natürlich völlig der Ansicht ihres Jungen.

»Wie kommst du dazu? Und überhaupt finde ich es schrecklich gemein von den andern, dich so reinzulegen. Ich an deiner Stelle hätte es dem Chef gesagt, daß der Schulz mit seinem Begräbnis gesohlt hat.«

»So was tut man doch nicht unter Kollegen, Lämmchen.«

Sie ist reuig: »Nein, natürlich nicht, du hast ganz recht. Aber dem Schulz würde ich es gründlich sagen. Ganz gründlich.«

»Tu ich auch noch, Lämmchen, tu ich noch.«

 

Und nun sitzen die beiden in der Kleinbahn nach Maxfelde. Der Zug ist proppenvoll, trotzdem es der Zug ist, der schon um sechs Uhr in Ducherow abfährt. Und auch Maxfelde mit dem Maxsee und der Maxe ist eine Enttäuschung. Alles ist laut und voll und staubig. Von Platz sind Tausende gekommen, ihre Autos und Zelte stehen zu Hunderten am Strand. Und an ein Ruderboot ist gar nicht zu denken, die paar Ruderboote sind längst vergeben.

Pinneberg und seine Emma sind jung verheiratet, ihr Herz dürstet nach Einsamkeit. Sie finden den Trubel schrecklich.

»Also marschieren wir los«, schlägt Pinneberg vor. »Hier gibt's ja überall Wald und Wasser und Berge ...«

»Aber wohin?«

»Ist ja ganz egal. Nur weg von hier. Wir finden schon was.«

Und sie finden etwas. Zuerst ist der Waldweg noch ziemlich breit und eine ganze Menge Leute sind auf ihm unterwegs, aber dann behauptet Lämmchen, daß es hier unter den Buchen nach Pilzen riecht, und sie lockt ihn wegab und sie laufen immer tiefer in das Grüne, und plötzlich sind sie zwischen zwei Waldhängen auf einer Wiese. Sie klettern auf der anderen Seite, sich bei den Händen haltend, hinauf, und als sie oben sind, stoßen sie auf eine Schneise, die sich welteneinsam immer tiefer, hügelauf, hügelab, in den Wald hineinzieht, und schlendern so weiter.

Über ihnen stieg die Sonne, langsam und allmählich, und manchmal warf sich der Seewind, weit, weit drüben von der Ostsee her, in die Buchenkronen, dann rauschten sie herrlich auf. Der Seewind war auch in Platz gewesen, wo Lämmchen früher zu Hause war, lang, lang ist's her, und sie erzählte ihrem Jungen von der einzigen Sommerreise ihres Lebens: neun Tage in Oberbayern, vier Mädels.

Und er wurde auch gesprächig, und sprach davon, daß er immer allein gewesen sei, und daß er seine Mutter nicht möge, und sie hätte sich nie um ihn gekümmert, und er sei ihr bei ihren Liebhabern stets im Wege gewesen. Und sie habe einen schrecklichen Beruf, sie sei ... Nun, es dauerte eine ganze Weile, bis er mit dem Geständnis herausrückte, daß sie eine Bardame sei.

Da wurde Lämmchen nun wieder nachdenklich und bereute fast ihren Brief, denn eine Bardame ist doch eigentlich etwas ganz anderes, trotzdem sich Lämmchen über die Funktionen dieser Damen gar nicht recht im klaren war, denn sie war noch nie in einer Bar gewesen, und was sie bisher von solchen Damen gehört hatte, schien wieder nicht zu dem Alter von ihres Jungen Mutter zu stimmen. Und kurz und gut, sicher wäre die Anrede »Verehrte gnädige Frau« besser gewesen. Aber mit Pinneberg jetzt darüber zu sprechen, war natürlich nicht möglich.

So gingen sie eine ganze Weile schweigend Hand in Hand. Aber gerade als dies Schweigen bedenklich wurde und sie voneinander zu entfernen schien, sagte Lämmchen: »Mein Jungchen, was sind wir glücklich!« und hielt ihm den Mund hin. –

Plötzlich wurde der Wald ganz hell vor ihnen, und als sie hinaustraten in die strahlende Sonne, standen sie auf einem ungeheuren Kahlschlag. Grade gegenüber lag ein hoher sandiger Hügel. Auf seiner Spitze hantierte ein Haufe Menschen mit einem komischen Gerät herum. Plötzlich hob sich das Gerät und segelte durch die Luft.

»Ein Segelflieger!« schrie Pinneberg. »Lämmchen, ein Segelflieger!«

Er war mächtig aufgeregt und versuchte ihr zu erklären, wieso dies Ding ohne Motor immer höher und höher kam. Aber da es ihm auch nicht ganz klar war, verstand Lämmchen es erst recht nicht, aber sie sagte folgsam: »Ja« und »Natürlich«.