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Priscilla und Thomas Metscher

Am Vorabend der Oktoberrevolution

James Connolly – sein Marxismus und der irische Osteraufstand 1916

Inhalt

Vorwort:
Ein irischer Sozialist in der Epoche sozialer Revolution###

Thomas Metscher:
James Connolly und der Marxismus

Einführende Bemerkungen

Kapitel 1: Die Prinzipien des Marxismus

Die Philosophie der Praxis

Marxismus als Materialismus

»Sinnlich menschliche Tätigkeit«

Die Geschichte und der menschliche Akteur

Klasse

Kultur

Dialektik

Kritische Theorie und experimentelles Denken

Die Ethik der Befreiung

Radikaler Humanismus und das Konzept des gesellschaftlichen Individuums

Kapitel 2: Integrativer Marxismus

Der Marxismus und die Kraft der Synthese

Kritik des reduktiven Marxismus

Kapitel 3: Der Marxismus James Connollys

Historischer Materialismus und historisches Denken

Klasse als ein Schlüsselkonzept von gesellschaftlicher Formation und historischem Fortschritt

Marxismus als radikaler Humanismus: Die Ethik der Befreiung und das Konzept des Sozialismus

Die Arbeiterklasse als das Subjekt der Geschichte

Die Theorie der zwei Kulturen

Marxismus und Demokratie

Marxismus und Aufklärung: Die Gesellschaft der Vereinigten Iren

Die sexuelle Frage: Die Emanzipation der Frauen und die Gleichheit der Geschlechter

Die nationale Frage, der Antikolonialismus und die Idee einer freien Nation

Das Bündniskonzept

Marxismus und religiöse Überzeugung: Ein pragmatisches Modell

Kapitalismus, Kolonialismus und Krieg

Kapitel 4: Connollys historische Stellung – ein zusammenfassender Ausblick

Priscilla Metscher:
James Connolly und die erweiterte Klassenpolitik des Jahres 1916

Sozialistischer Republikanismus

Sozialismus und Krieg

Arbeitskämpfe und Klassenkonflikt im Vorfeld des Osteraufstandes

Der Osteraufstand

Eine Epoche der sozialen Revolution

Fazit

Anhang:
James Connolly im O-Ton

Sozialismus und Nationalismus

Der südafrikanische Krieg

Arbeit, Nationalität und Religion

Die Frau

Vorwort: Ein irischer Sozialist in der Epoche sozialer Revolution

James Connolly ist in aller Munde – zumindest in seiner Heimat. Ein Jahrhundert nach dem Osteraufstand, in dem die Iren versuchten, die britische Herrschaft abzuschütteln, und wenige Monate nach dem Wahlerfolg der linkssozialdemokratischen Partei Sinn Féin und anderer fortschrittlicher Kräfte, wird der Geist der 1916 gescheiterten Erhebung der grünen Insel, in der Connolly eine zentrale Rolle spielte, wieder beschworen. »Der Osteraufstand inspiriert« behauptet Sinn Féin auf ihrer Website. Auch die den Konservativen nahestehende irische Tageszeitung Irish Examiner titelte jüngst: »1916 lebt«. Doch auch in seiner Heimat wird derzeit in der Regel nur dem halben Connolly die Reverenz erwiesen: gegenüber dem von den Briten hingerichteten Vorkämpfer der 1921/22 errungenen nationalen Befreiung gerät der marxistische Sozialist, Gewerkschafter, Internationalist und Revolutionär Connolly, dessen Name der kommunistische Jugendverband des Landes nicht zufällig trägt, in den Hintergrund. Im deutschsprachigen Raum ist James Connolly, egal ob als Sozialist oder als nationaler Freiheitskämpfer, außerhalb irlandaffiner Kreise und außerhalb von Expertennetzwerken, die sich auf die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung des frühen 20. Jahr­­hunderts spezialisiert haben, jedoch wenig bekannt. Nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen und bevorstehenden großen Jahrestage der russischen Oktoberrevolution von 1917 oder der deutschen Novemberrevolution von 1918/19 ist die Beschäftigung mit dem politischen Denken und Handeln eines der Anführer des Osteraufstandes von bleibendem Wert.

James Connolly wurde am 5. Juni 1868 in einem Slum der schottischen Hauptstadt Edinburgh geboren.[1] Seine Eltern waren irische Arbeiter, die nach Schottland ausgewandert waren. Mit zehn Jahren trat der junge James selbst ins Berufsleben ein und verdingte sich als Arbeiter in einer Druckerei, einer Bäckerei und einer Mosaik­fliesenfabrik. 1882 ließ er sich vom 1. Bataillon des König­lichen Liverpooler Regiments rekrutieren. Durch eine Stationierung auf der Nachbarinsel kam der Soldat Connolly erstmals in das Land seiner Eltern. Dies und die Tatsache, dass in seinem Regiment Aktivisten der irischen Geheimorganisation der Fenier wirkten, dürften Connollys Nationalbewusstsein geprägt haben. Gleichzeitig dürfen jedoch auch die Quellen und Ursprünge seines Klassenbewusstseins nicht übersehen werden. Ende der 1880er Jahre schied Connolly aus der Armee aus. Seine soziale Herkunft und sein Kontakt mit dem schottischen Dichter John Leslie, der Connolly mit dem Marxismus vertraut machte, führten ihn in die Sozialistische Liga beziehungsweise die Schottische Sozialistische Föderation (SSF), der sein Bruder John als Sekretär vorstand. Später sollte Connolly als Marxist der Arbeiterklasse den dialektischen und historischen Materialismus selber für andere in populärer Form aufbereiten, wie ein im Anhang dieses Buches dokumentierter Text (»Arbeit, Nationalität und Religion«) zeigt.

In den frühen 1890er Jahren – Connolly hatte inzwischen die Nachfolge seines Bruders als SSF-Sekretär angetreten – nahm seine Tätigkeit als politischer Autor ihren Anfang: der Autodidakt schrieb für die Zeitschrift Justice der Sozialdemokratischen Föderation und für den Labour Leader. 1896 führte ihn sein Weg nach Dublin, als er eine Vollzeitstelle als Organisator des Dubliner Socialist Society antrat. Ausschlaggebend war hierfür sicherlich nicht nur die politische Motivation, als Sozialist in Irland, das heißt in der Heimat für die Klasse wirken zu können, sondern auch ein handfestes materielles Interesse: die Ernährung seiner mit seiner Frau Lillie gegründeten Großfamilie. Kurz nach seiner Ankunft in Dublin gründete Connolly die Irische Sozialistische Republikanische Partei (ISRP), die 1900 erstmals auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Paris vertreten sein sollte. 1898 hob er die ISRP-Zeitung Workers‘ Republic aus der Taufe, in der ein Großteil von Connollys Texten in den nächsten Jahren erscheinen sollte, so unter anderem auch seine ebenfalls im Anhang enthaltene Analyse des Zweiten Burenkriegs (»Der südafrikanische Krieg«). Gegen Imperialismus und Krieg zog Connolly jedoch nicht nur mit der Feder ins Feld. Die Organisation von Antikriegskundgebungen im Jahre 1899 brachte ihn kurzzeitig ins Gefängnis. Im Vorjahr hatte die Polizei eine Festnahme Connollys am Rande von ISRP-Protesten gegen Feierlichkeiten zu Ehren von Königin Victoria genutzt, um das Parteibüro in der Zeit seiner Inhaftierung zu demolieren und die für die politische Arbeit so wichtige Druckerpresse zu zerstören.

Aber auch den Hass des in Irland so mächtigen katholischen Klerus zog Connolly auf sich. Der Grund hierfür dürfte nicht nur in Connollys Gegenkritik an antisozialistischen Jesuitenpredigten liegen, wie eine solche ­auszugsweise in diesem Buch erstmals in deutscher Sprache vorliegt, sondern auch in seinem Versuch, eine Übereinstimmung zwischen bestimmten Ethiken des Christentums und den Positionen des Sozialismus herauszustellen. Für die Kirchenoberen war er deshalb ein »Antichrist« und potentiellen Unterstützern und Wählern – Connolly kandidierte 1901 für den Dubliner Stadtrat – wurde die Exkommunizierung angedroht. 1903 emigrierte Connolly, wie so viele seiner Landsleute, in die USA. Connolly setzte sich sehr für den Erhalt der gälischen Sprache ein, worauf der Text »Sozialismus und Nationalismus« hinweist, gleichzeitig war er sehr weltoffen und eignete sich Fremdsprachen wie Deutsch und Französische an. In Amerika lernte er auch Italienisch, die Sprache der anderen großen europäischen Auswanderernation, und übersetzte Texte italienischer Sozialisten ins Englische. Außerdem unterstützte er die Wahlkampagne des legendären Arbeiterführers Eugen Debs für das Amt des US-Präsidenten und war in der nordamerikanischen Gewerkschaftsbewegung aktiv. Viele seiner dort gesammelten Erfahrungen sollten später für die Arbeiterbewegung auf den britischen Inseln von großer Wichtigkeit sein. Sein gesamtes, sich hierin beispielhaft äußerndes, internationalistisches Wirken ist eine Widerlegung des vor allem in den 1970er Jahren virulenten Versuchs seitens neurechter Ideologen[2] James Connolly zu einem bornierten »Nationalsyndikalisten« zu küren (und damit letztlich zum Gewährsmann der faschistischen Sozialdemagogie zu verfälschen).

1910 kehrte James Connolly nach Irland zurück – in der Zwischenzeit hatte die irische Arbeiterbewegung wichtige Kampferfahrungen gemacht. Die repressive Antwort des britischen Staates auf die gewerkschaftliche Streitmacht brachte unter anderem eine Haftstrafe für James Larkin, der große Erfolge bei der Organisation und Durchführung von Arbeitskämpfen vorweisen konnte. Eine von Connollys ersten Handlungen in seinem letzten halben Lebensjahrzehnt in Irland war eine erfolgreiche Kampagne zugunsten von Larkins Freilassung. In der 1908 von Larkin gegründeten Irischen Transport- und Allgemeinen Arbeitergewerkschaft (ITGWU) übernahm Connolly in den folgenden Jahren wichtige Funktionen, was ihm die Anerkennung eines großen Teils der arbeitenden Menschen, aber auch die Abneigung der Obrigkeit einbrachte. Als ein herausragendes Beispiel für die Klassenkämpfe dieser Jahre muss sicherlich der große Dubliner Streik und die Aussperrung des Jahres 1913 gelten. Lenin bemerkte dazu im August des Jahres: »In Dublin […] hat sich der Klassenkampf, der das gesamte Leben jeder kapitalistischen Gesellschaft erfüllt, bis zum Klassenkrieg zugespitzt.«[3] Bereits im Oktober 1911 organisierte Connolly den Streik der Belfaster Textilarbei­terinnen und gründete im November eine eigene Textilgewerkschaft. Dass Connolly dem Schicksal der Frauen und ihrer von extremer Ausbeutung und Unterdrückung gekennzeichnete Lage im Kapitalismus besondere Aufmerksamkeit schenkte, zeigt ein ausführlicher Auszug aus seinem 1915 veröffentlichten Werk »The Re-Reconquest of Ireland« unter dem Titel »Die Frau«.

Vor dem Hintergrund der blutigen staatlichen Repressionen nicht nur, aber auch während der Ereignisse in Dublin[4] gründete Connolly gemeinsam mit anderen 1913 zur Selbstverteidigung der Arbeiterklasse die Irische Bürgerarmee. Ab 1914 bestanden enge Beziehungen zu den ebenfalls im Vorjahr gegründeten Irischen Freiwilligen, die mit der Irischen Republikanischen Bruderschaft verbunden waren. Alle genannten Organisationen sollten später beim Osteraufstand auf der Seite der Revolutionäre eine wichtige militärische Rolle spielen, worin sich auch Connollys Erfolg bei der Herstellung einer Grundlage gemeinsamer Aktionen von proletarischen Kämpfern für Irlands Freiheit mit solchen Anhängern der irischen Unabhängigkeit, die nicht (primär) auf den Sozialismus orientierten, zeigt.

Zuvor musste Connolly jedoch eine empfindliche Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung hinnehmen. Seine eindringlichen Beschreibungen der grausamen Folgen der Unfähigkeit der wichtigsten sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien des europäischen Kontinents, dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 den zuvor vereinbarten internationalen Widerstand entgegenzusetzen, und das Überlaufen wichtiger sozialdemokratischer Führer ins Lager der offenen Kriegsbefürworter gehören sicherlich zu den tiefschürfendsten Ausführungen über den Bankrott der II. Internationale und können im Text »Eine kontinentale Revolution« nachgelesen werden. Connollys Haltung lässt die These plausibel erscheinen, dass er sich – wäre ihm ein längeres Leben vergönnt gewesen – der Partei Lenins innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung angeschlossen hätte. Zugleich war Connolly überzeugt, dass der militärische Zusammenprall der imperialistischen Widersprüche nicht nur eine Gelegenheit für die Iren bot, das britische Joch abzuschütteln, sondern auch ein Schlag gegen den Imperialismus (und damit auch gegen den Krieg) insgesamt sein könnte. 1915 begannen die Vorbereitungen des Aufstandes. Am Ostermontag, den 23. April 1916, schlugen die Revolutionäre los. Die ausgerufene irische Republik, zu deren provisorischer Regierung James Connolly als Vizepräsident gehörte, währte nur wenige Tage: Am 29. April hatten die britischen Truppen Dublin wieder unter ihrer Kontrolle und der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Der in den Kämpfen schwer verwundete Connolly wurde wegen seiner Beteiligung am Aufstand – ebenso wie andere irische Revolutionäre – zum Tode verurteilt. James Connolly, ein irischer Sozialist in der »Epoche sozialer Revolution«[5], wurde am 12. Mai 1916 von einem Erschießungskommando hingerichtet. Lenins Verständnis für die fehlgeschlagene Erhebung am Vorabend der Oktoberrevolution stach unter den Stellungnahmen europäischer Linker zu den Dubliner Aprilereignissen hervor und unterstreicht die hier unterstellte Nähe Lenins und Connollys. Andere Linke hatten zumeist Schwierigkeiten, die wahre Bedeutung des Ereignisses zu erfassen. Der russische Revolutionär hingegen verteidigte den irischen Versuch gegenüber dem Vorwurf des Putschismus und hielt fest: »Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen.«[6] Hierzu zählte der Führer der Bolschewiki auch die vom britischen Imperialismus Unterdrückten in Irland.

Seit langer Zeit befassen sich der Literaturwissenschaftler Thomas Metscher und die Historikerin Priscilla Metscher mit dem Leben, Denken und Wirken James Connollys. Die in diesem Buch zusammengefassten, erstmals vollständig auf Deutsch vorliegenden Beiträge der beiden Autoren[7] sind ein Ergebnis dieser Studien. Thomas Metschers Darstellung und Analyse des Marxismus des James Connolly sowie die Darlegung seines eigenen, zur Diskussion einladenden, Konzepts eines integrativen Marxismus basiert auf Vorträgen, die der Autor auf einer internationalen Konferenz im April 2001 in Dublin über die Relevanz von James Connolly für das 21. Jahrhundert, auf der Internationalen Gramsci-Tagung in Havanna im November desselben Jahres sowie im Juni 2002 auf einer Veranstaltung der Kommunistischen Partei Irlands gehalten hat. In gedruckter Form wurden sie in englischer Sprache erstmals 2015 in einer von der irischen KP herausgegebenen Broschüre veröffentlicht. Priscilla Metschers Text über Connollys politische Strategie und seine Bündnispolitik erschien 2016 zeitgleich in den Marxistischen Blättern und in englischer Sprache auch in Theory & Struggle, der Zeitschrift der Londoner Marx Memorial Library.

Wir danken Autor und Autorin für ihre Beiträge. Danken möchten wir an dieser Stelle auch der DKP-Bezirksorganisation Südbayern, dem DKP-Kreisvorstand Recklinghausen und dem Verein »Marxistische Linke«, die mit einer Spen­de die Herausgabe dieses Buches unterstützt haben.

Essen, im Mai 2016

Anmerkungen

[1] Vgl. zur Biographie im Folgenden Peter Berresford Ellis: Connolly: His Life and Work, in: James Connolly: Selected Writings, Hamondsworth 1973, S. 7–53.

[2] Vgl. Henning Eichberg: Nationale Identität. Entfremdung und nationale Frage in der Industriegesellschaft, München/Wien 1978, S. 134f. und 138f.

[3] LW Band 19, S. 322. LW = Wladimir Iljitsch Lenin: Werke. Band 1–40, 2 Ergänzungsbände, Berlin 1956–1972.

[4] Lenin beschrieb den staatlichen Gewaltexzess folgendermaßen: »Die Polizei ist geradezu rasend geworden, betrunkene Polizisten knüppeln friedliche Arbeiter nieder, dringen in die Häuser ein, mißhandeln Greise, Frauen und Kinder. Hunderte verwundete (über 400) und zwei ermordete Arbeiter sind die Opfer dieses Krieges. Alle namhaften Arbeiterführer sind verhaftet. Wegen der harmlosesten Rede wird man ins Gefängnis geworfen. Die Stadt gleicht einem Kriegslager.« (ebenda)

[5] MEW Band 13, S. 9. MEW = Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Band 1–39, 4 Ergänzungsbände 1956–1990.

[6] LW Band 22, S. 364.

[7] Gekürzte Fassungen beziehungsweise kürzere Auszüge aus den Texten erschienen in den Heften 2_2016 und 3_2016 der Marxistischen Blätter.

Thomas Metscher: James Connolly und der Marxismus

Einführende Bemerkungen

Nach dem Zusammenbruch dessen, was man einst die sozialistische Welt nannte, wurde der Marxismus offiziell für tot erklärt und dieser Tod wurde von den Mächten, die den Kalten Krieg gewonnen hatten und sich selbst als Sieger der Geschichte wähnten, triumphierend gefeiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (die führende deutsche Tageszeitung und ein Sprachrohr prokapitalistischer Ideologie mit internationalem Ruf und Einfluss) sprach mit einer Anspielung auf Samuel Beckett von den »Endspielen« des Marxismus und veröffentlichte eine Reihe von Artikeln aus der Hand von Autoren, die einst als Marxisten galten, sich aber im hellen Licht der letzten Ereignisse einen neuen Mantel umgehängt hatten und bereitwillig dabei helfen wollten, den Leichnam zu begraben. In dem kurzen geschichtlichen Zeitraum jedoch, der seit den Tagen dieser kapitalistischen Rückeroberung verstrichen ist, haben sich die triumphierenden Stimmen spürbar gelegt. Der Leichnam, anstatt zu verrotten und für immer in den Gedärmen der Geschichte zu verschwinden, fängt an »auszuschlagen« (um T.S. Eliots fesselnde Metapher zu verwenden). Marx’ Gespenst ist in recht vielen Plätzen dieser großen weiten Welt wieder aufgetaucht.

Einer der Gründe, in Wahrheit der Hauptgrund für die Wiederauferstehung des Marxismus ist die offensichtliche Unfähigkeit des Kapitalismus, auch nur eines der drängendsten Probleme dieser Welt – egal ob ökonomisch, politisch, kulturell oder mit Bezug auf die Umwelt – zu lösen; tatsächlich ist die dem Kapitalismus angeborene Barbarei seit dem Zusammenbruch des Sozialismus unzweifelhaft zum Vorschein gekommen. Der Kapitalismus – nun frei, seine Masken abzulegen – offenbart sich in dem, was er seinem Wesen nach ist: als Gesellschaft, aufgebaut auf den Trieben von Gier und Besitz, beherrscht vom Profitmotiv als seiner zentralen anthropologischen Substanz. Den zukünftigen Generationen wird er eine von Krieg, Hunger und Krankheiten geplagte und durch eine mögliche Umweltkatastrophe bedrohte Welt hinterlassen – »die verkehrte Welt«, charakterisiert durch die »Verwechslung und Vertauschung aller menschlichen und natürlichen Qualitäten«,[1] in der das Geld »die sichtbare Gottheit, […] die allgemeine Hure« und »das entäußerte Vermögen der Menschheit«[2] ist, wo die »Arbeit […] Wunderwerke für die Reichen, aber […] Entblößung für den Arbeiter«, »Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter«, »Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter«, »Geist, aber […] Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter« produziert,[3] wo der Mensch, als Arbeiter, auf »seine[…] tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen« reduziert wird. »Das Tierische wird das Menschliche und das Menschliche das Tierische.«[4]

Trotz seiner enormen Veränderungen hat sich, was das essentielle Wesen des Kapitalismus angeht, nichts Substanzielles geändert seit Marx diese Zeilen schrieb. Die Extreme der materiellen Deprivation mögen den Schauplatz gewechselt haben und von den Metropolen in die sogenannte »Dritte Welt« gewandert sein, die geistige und psychische Deprivation aber hat sich im Zeitalter der Konsumentenideologie und der medialen Massenmanipulation intensiviert. Im Rahmen dieses Beitrages beabsichtige ich, einen bestimmten Standpunkt mit Hinblick auf den Ideenkorpus, der gemeinhin »Marxismus« bezeichnet wird (dialektischer und historischer Materialismus, um genauer zu sein), darzulegen – ein Ideenkorpus, der den Namen eines einzelnen Mannes trägt, in Wahrheit aber das Ergebnis und die kontinuierliche Arbeit von vielen Menschen ist. Ich werde diesen Standpunkt in drei Schritten präsentieren:

1.) Zunächst möchte ich einen kurzen Umriss dessen bieten, was der Marxismus in meinen Augen im Wesentlichen ist und was seine Grundprinzipien sind.

2.) Sodann werde ich versuchen, die Art des Marxismus zu beschreiben, von dem ich glaube, dass sie der einzige Marxismus ist, dem eine Zukunft verhießen ist. Ich schlage hierfür den Begriff »integrativer Marxismus« vor und werde versuchen zu erklären, was dies ist.

3.) In letzten Abschnitt beabsichtige ich nachzuweisen, dass der vom irischen Gewerkschafter und Sozialisten James Connolly vertretene Marxismus im Wesentlichen mit dem übereinstimmt, was ich »integrativen Marxismus« nenne. Ich werde Connollys Beitrag untersuchen. Ich bin der Überzeugung, dass sein Beitrag wichtig ist und in einer Reihe von Punkten eine bemerkenswerte substanzielle Aktualität besitzt.

Von Anfang an möchte ich klarstellen, dass ich mit der Einführung des Begriffs des »integrativen Marxismus« nicht beabsichtige, einen neuen Typus des Marxismus zu kreieren (es gibt bereits zu viele Marxismussorten in dieser Welt), vielmehr möchte ich herausarbeiten, was nach meinem Dafürhalten eine inhärente Qualität des klassischen Marxismus ist – also des Denkens von Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Gramsci und einer Reihe anderer, zu denen auch James Connolly gehört. Der Marxismus ist mehr als eine bloße ökonomische und politische Theorie. Er ist eine Weltanschauung mit philosophischem Fundament, das verstanden werden muss, will man seine ökonomischen und politischen Seiten begreifen. Jeder Versuch also, diese Theorie im Ganzen wie im Einzelnen zu erklären, muss ihre Grundlagen erläutern. Sich mit ihnen zu befassen, ist auch deswegen politisch essentiell, weil so viel Unsinn zur Frage im Umlauf ist, was Marxismus ist und was er nicht ist.

Anmerkungen

[1] MEW Ergänzungsband. Schriften bis 1844. Erster Teil, S. 566.

[2] Ebenda, S. 565.

[3] Ebenda, S. 513.

[4] Ebenda, S. 514f.