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5. Der Österreicher oder Komplexe sind treu

Helmut ist Österreicher, Anfang fünfzig, privat-diplomierter Healthcare-Fachwirt, heute jedoch, über Jahrzehnte hinweg erstritten, Head of Public Affairs jener Linzer Tierschutz-Stiftung, in der er mit 23 Jahren zu arbeiten begonnen hat, als Verwaltungs- und Sozialkraft und „im Geiste des erwachenden Sozialismus’“, was immer das bedeuten mag.

Helmut ist Hysteriker mit großem cholerischen Potential, extrem komplexbehaftet, fast immer etwas zu laut, in manchen Augenblicken charmant, in vielen unerträglich selbstgerecht, gereizt, oder, was häufig der Fall ist, Opfer spontaner Schmerzattacken. Sein vierter Lendenwirbel scheint defekt, sein Nacken ewig verspannt und sein Metabolismus ein trauriges Abbild jener bösen Krankheit zu sein, die sich nie verliert und viele befällt, schreiten sie über den Rubikon des 50. Lebensjahres: Frustration, totale Ernüchterung und Ermüdung.

Seine Schwester, eine stadtbekannte Psychoanalytikerin, ist Prodekan an der Universität, zudem reich und ohne Latenz, sich zu profilieren. Helmuts Schwester kennt ihre Stellung und ihren Platz, der unter jenen Menschen zu finden ist, wo Ansehen keine Bedeutung besitzt, da keiner etwas entbehrt und jeder alles besitzt.

Beneidet Helmut seine Schwester? Ich denke, das tut er, in erheblichem Maße, doch schmückt er sich auch mit ihren Erfolgen, als könne der Lorbeer seiner Schwester ihm jene akademischen Würden verleihen, wonach er sich seit jeher verzehrt. Für Helmut war das Abitur – die Matura – die letzte Hürde, die er mit kurzen Beinen zu nehmen vermochte.

Wenn wir telefonieren und seine erste Reserviertheit sich verloren hat, kennt er keine Zurückhaltung mehr. Zu Beginn unserer Gespräche jedoch presst er seinen Namen zischend hervor, kurz angebunden, um sein Gegenüber darauf einzustimmen, wie sehr er beschäftigt ist. Auch bei mir macht er keine Ausnahme. Seit sechs Wochen telefonieren wir regelmäßig und obgleich er meine Telefonnummer kennt und über das Display sieht, wenn ich anrufe, ändert das nichts an seinem Verhalten. So bleibt mir wenig anderes, als immer wieder das gleiche Sprüchlein aufzusagen, fröhlich und heiter, als verspürte ich großen Genuss dabei, mich dieser Demütigung auszusetzen: „Servus Helmut, hier ist Clemens. Hast du ein klein wenig Zeit für mich, oder störe ich?“ Meist höre ich dann erst ein langgedehntes Schnaufen, ehe seine Stimme, nasalierend, im Habsburger Singsang und leicht ironisch antwortet: „Ja, so was, der Clemens ruft an. Na, wie geht es dir, mein Freund?“ Wenn ich etwas über unser südöstliches Bruderland gelernt habe, dann, dass seine skikundigen Einwohner, tatsächlich in allem, nur ein „zu viel“ oder „zu wenig“ kennen. Wie sie das Skifahren als nationale Übung kultivieren und maßlos lieben, so misstrauen sie uns, ihren deutschen Nachbarn, nicht minder bedingungslos.

Mit Leidenschaft Ski zu fahren, bedeutet dem Geist der 1930er-Jahre sehr nahe zu kommen. Als lebendigem Relikt jener athletisch verblödeten Zeit kommt dem Skifahren in Österreich eine beispiellose Bedeutung zu. In dieser Disziplin, so denkt sich der brave Österreicher, werden wir die arroganten Preußen immer schlagen, in dieser Disziplin sind wir besser, größer und unüberwindbar. Fast ließe sich diese Haltung verstehen. Allein die geographische Größe Deutschlands belästigt die Österreicher, schürt zahlreiche Ängste und ein Gefühl von Unterlegenheit, das sich nie ganz verlieren kann, denn der Deutschen sind ihrer viele, der Österreicher aber sind nur wenige – und ihre Sprache und Dialekte, das fühlen die Österreicher selbst, sind lächerlich.

Umso größer ist ihre Armee, die neben Generalen kaum Soldaten kennt, die einen niederen Dienstgrad besitzen. Ein Detail, das daran erinnert, wie sehr die Österreicher darunter leiden, dass die Verfassung ihrer Republik es ihren Blaublütern verbietet, sich mit aristokratischen Ornamenten und Titeln, wie Baron, Graf, Fürst oder Hoheit zu schmücken. Selbst die Habsburger Sprösslinge, legitime Nachfolger illegal handelnder Majestäten, sind nicht länger Habsburger, sondern nur mehr „die Habsburgs“. Diese Degradierung des Adels auf bürgerliches Maß ist jedoch zahlreichen Österreichern nicht willkommen. Das gehobene Bürgertum wünscht nichts mehr, als den Adel wieder in seine alten Rechte einzusetzen. Der Österreicher liebt seinen Adel wie er seine Titel liebt. Viele Beamte, gleichviel ob subaltern oder wichtig, schmücken grandiose Titel wie Hofrat, Titularrat, Honorarkonsul oder Postoberoffizial. Der Professorentitel unterteilt sich in fünf Kategorien, wobei nur einem Bedeutung zukommt: dem o. Univ.-Prof., dem ordentlichen Universitätsprofessor. Hierarchisch zwar nachgeordnet, aber immer noch ernst zu nehmen, ist der a. o. Univ.-Prof., der außerordentliche Universitätsprofessor, der, wie der o. Univ.-Prof. auch, die Venia legendi auf redliche Weise, d. h. über Promotion und anschließende Habilitation erworben hat, jedoch ohne danach in den Genuss einer Festanstellung zu kommen. Der Honorarprofessor hingegen unterrichtet auf Honorarbasis, in einer Fachrichtung, die seiner ausgeübten Profession nahekommt. Einer meiner österreichischen Freunde – ein charmanter Mann, sehr kultiviert, klug, eloquent und beeindruckend herzlich – ist promovierter Jurist und Verfassungsrichter und damit prädestiniert, Rechtsreferendare mit einschlägigen Inhalten vertraut zu machen, und das ist aller Ehren wert. Doch selbst Gymnasiallehrer besitzen in Österreich das Privileg, sich Professor zu nennen.

In der letzten und untersten Stufe der österreichischen Professorenskala aber tummeln sich tausende von Personen, die aus beliebigen Gründen von der Republik Österreich mit dem Titel Professor geehrt wurden.

Peter Alexander, Udo Jürgens und fast alle Abkömmlinge des Hörbiger-Clans trugen und tragen diese Auszeichnung, und das mit Stolz. Der Dr. h. c. hingegen wird selten verliehen und scheint weder beliebt noch glamourös genug zu sein, nach ihm zu gieren. Helmut jedoch ersehnt ihn seit Jahren. Als langjähriger Dozent einer Oberfachhochschule – Oberfachhochschule ein Komparativ, den nur Habsburg ersinnen konnte – erhofft Helmut mit jedem Jahr neu, es könne sich eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens finden, die sich für ihn verwendet und ihm diesen Titel verschafft, egal auf welchem Weg.

Helmut zögert immer, wenn ihn jemand fragt, welchen Abschluss er gemacht habe, in jungen Jahren, an der Universität. In solchen Augenblicken weiten sich seine Augen in jäher, schwer gezügelter Panik, derweil sein Gesicht in zwei Hälften zerfällt, als habe ein unerbittlich geführter Spatenschlag es in ein oben und unten zerteilt. Mühsam öffnet sich dann sein Mund, quälend langsam, als gäbe eine verrostete Arretierung nach und setzte, begleitet von Wellen atonaler, glucksender Lacher, einen lange gehemmten Mechanismus wieder in Gang. Diese Augenblicke fürchten wir alle. Sie nötigen uns zu Fremdscham oder zwingen uns, wehrlos die tristen Aspekte eines Menschen zur Gänze kennenzulernen. „Nein, nein“, antwortet dann Helmut stets mit geheuchelter Larmoyanz, „universitär bin ich unberührt, und das mit Lust.“ Lust fühle ich in solchen Momenten nur, ihn für seine Koketterie zu bestrafen. Nicht, dass er keinen universitären Abschluss besitzt, ist für mich ein Indikator fragwürdiger Intelligenz. Was mich stört, ist der selbstgerechte, immer leicht gekränkte Sarkasmus eines minderbegabten Empfängers unglaublich hoher Gelder; sein Gehalt ist exorbitant und wird durch Drittmittel finanziert.

Anekdotisch gibt er, auch gerne in größerer Runde, zum Besten, dass er gleich zu Beginn seiner Tätigkeit für die Stiftung eine Lektion erhalten habe, die ihn, den damals einundzwanzigjährigen Absolventen der Social Healthcare-Privatakademie, maßlos aufgeregt habe. Der Direktor selbst habe ihn, nachdem er Helmut ein leidenschaftliches Plädoyer für die alternativlose Gründung marxistisch-zionistischer Männer-Wohngruppen anstimmen hörte, darauf hingewiesen, dass auch im Tierschutzmetier ein gewisser IQ hilfreich sei, um größeren Schaden von Tieren und Menschen fernzuhalten. Der Direktor, ein nüchterner, reflektierter Mann, der mit Umsicht und großem Erfolg über viele Jahre hinweg die Geschicke der Stiftung geleitet habe, habe ihm allen Ernstes gesagt, für Trottel wie ihn, also Helmut, die glaubten, der Marxismus sei nur zionistischen Veganern verständlich, finde sich nie eine geeignete Verwendung. Man könne nur dafür sorgen, dass sie einen Arbeitsplatz erhielten, an dem sie wenig zu tun und noch weniger zu entscheiden hätten.

Helmut wurde damals in die Administration der Stiftung gesteckt. Er sollte nur einfache Briefe verfassen, frankieren und versenden. Es war ihm jedoch explizit verboten, mit Außenstehenden persönlich Kontakt aufzunehmen. Um ihn ruhigzustellen und seinen Ehrgeiz zu beschwichtigen, erhielt er die klangvolle Berufsbezeichnung Public Correspondence Consultant. Niemand konnte damals ahnen, dass ihm durch die Verleihung dieses Berufstitels einmal die Pforte geöffnet würde, um zu höheren Weihen zu gelangen.

Tatsächlich avancierte Helmut, zehn Jahre später, zum Head of Public Affairs, weil der Nachfolger des alten, mittlerweile pensionierten Direktors, sich hatte blenden und verleiten lassen, Helmut zu befördern. Das erschien dem neuen Direktor umso naheliegender, als Helmut über lange Zeit hinweg eine ähnlich klingende Funktion offiziell ausgeübt hatte. Helmut hat sich diese unverhoffte Beute niemals mehr entreißen lassen, und die sechs Mitarbeiterinnen, welche ihn seit über 20 Jahren davon befreien, selbst zu denken und zu arbeiten, sind – obgleich spröde in ihrem Auftritt – Engel an Geduld und Nachsicht. Es sind fast immer die vierzig- bis fünfzigjährigen Assistentinnen, die größere Pleiten verhindern, indem sie diskret, professionell und fleißig ihre Arbeit im Nebenzimmer verrichten. Sie sind es, die mit trotziger Loyalität ihre Chefs vor Sturz und Schande bewahren, ohne dass es ihnen ihre Chefs je danken würden. Meist verstehen ihre arroganten Vorgesetzten nicht, wie viel Unterstützung sie erfahren, und wenn, so steigert dies nur ihren Widerwillen und ihre Blasiertheit.

Helmut kennt keinen Dank, und das aus Prinzip. Er ist über 50 Jahre, mit sich und der Welt in stetem Konflikt und nahezu immer verstimmt oder krank. Helmut verfettet mit einer Rasanz, die seine Frau selbst vor radikalen Methoden nicht mehr zurückschrecken lässt.

Über seinem Gürtel wölbt sich ein Bauch in Boulléeschen Dimensionen. Fast 130 Kilo ruhen auf den Beinen einer verquasten Existenz, die zu viele Privilegien genießt, als dass sie noch eine Vorstellung davon besitzen könnte, wie es wäre, sich mit weniger begnügen zu müssen.

Helmuts Frau Marion ist, wie ihr Mann, beherrscht von egozentrischen Launen. Ihre Egozentrik verführt sie jedoch nicht dazu, die Außenwelt zu vergessen oder fortwährend neue Krankheiten bei sich zu entdecken. Dennoch leidet auch sie an notorischer Ignoranz und agiert gerne entgegen aller Logik. So hat sie die Fettleibigkeit ihres Mannes, der sich an den Wochenenden in einem idyllischen Ferienhäuschen am Attersee mit Süßigkeiten und opulenten Mehlspeisen mästet, nicht etwa dazu gebracht, ihm strenge Diät oder eine gesündere Lebensweise zu verordnen. Ihre Antwort auf das Problem war vielmehr so abwegig wie brachial, aber auch bezeichnend für ein Paar, dessen Körper sich nicht bedingen.

Marion buchte einen vierwöchigen Aufenthalt in einer Ayurveda-Klinik in Vietnam, „weit weg von allem psychischen Ballast, der unsere Seelen verseucht“, so Helmut. „Du wirst es nicht glauben, aber in dieser Klinik nehmen die Leute nicht nur ab“, beteuerte Helmut, „nein, sie befreien sich und finden zu neuer Lebens- und Beziehungsqualität.“ Helmut atmete hektisch am anderen Ende der Leitung, als er mir zum ersten Mal von Marions Plänen erzählte. Ich wusste, er erwartete eine Frage, einen Kommentar oder auch nur ein kleines Zeichen der Zustimmung. Mein Schweigen schien ihn zu provozieren. „Und, was denkst du?“, drängte er ungeduldig auf eine Antwort. „Ich frage mich, warum du den Kontinent wechseln musst, um abzunehmen“, erwiderte ich leichthin, wissend, dass er wusste, wie wenig ich darauf gab, sich in fernöstlicher Esoterik der Gewichtsabnahme zu widmen. „Sag, Helmut“, lenkte ich ab, „welche Behandlung erwartet dich dort?“ Er seufzte, räusperte sich und sagte, fast beiläufig, als beträfe es ihn nicht: „Ich bekomme dreimal täglich ein Klistier“, hier machte er eine längere Pause, „der Dreck muss raus.“ „Ja, der Dreck muss raus“, heuchelte ich Verständnis, und tat alles, um ein hysterisches Gelächter zu unterdrücken. „Das hilft enorm und ich bekomme mehr Gefühl für mein Innen“, gab mir Helmut mit Verschwörerstimme zu verstehen. Er sprach mit solchem Ernst von seinem Innen, dass ich ein lautes Niesen fingierte, um das hektische Kichern zu übertönen, das ich mühevoll niederrang. Doch wenig später verlor ich jede Beherrschung und begann zu lachen, schamlos laut, wenn auch ohne Häme, denn ich war viel zu erstaunt, um Helmut verspotten zu können. Helmuts Gesicht changiert jetzt bestimmt in allen Farben cholerischer Entrüstung, dachte ich frei von Spott und erlebte einen Moment seltener Klarheit. Nie zuvor war mir ähnlich bewusst gewesen, dass Männer nichts mehr verletzt, als zu glauben, andere Männer könnten denken, sie hätten ihren Glauben an sich selbst verloren.

Marion würde Helmut mit großer Behutsamkeit auf den Pfad ayurvedischer Heilserfahrung führen müssen. Helmut durfte nicht einen Augenblick zweifeln, dass ihm damit ungeahnte Wege und Chancen offen stünden, sich ganz neu zu erfahren.

„Lieber Helmut“, versuchte ich ihn zu besänftigen, „es wird dir ganz gewiss in Vietnam gefallen. 30 Tage in traumhafter Atmosphäre, ohne jede Verpflichtung und frei zu tun, was immer du wünschst, kann nur schön sein. Danach wirst du dich ganz gewiss besser fühlen.“ Da ich keine Antwort erhielt, lauschte ich seinen Atemzügen und wartete geduldig. Er seufzte, räusperte sich, wie immer viel zu laut, und sagte mit belegter Stimme: „Ich hoff’s, mein Lieber, ich hoff’s. Prinzipiell halte ich nicht viel von asiatischen Heilpraktiken, aber Marion meinte, es täte auch unserer Beziehung gut.“

Eure Beziehung, wollte ich sagen, ist ein trostloses Silo längst kompostierter Träume und Sehnsüchte, doch ich hielt mich bedeckt und schwieg. Einer Ehe über die täglich gemeinsam verrichtete Reinigung der Darmflora einen erotischen Stimulus geben zu wollen, ist eher ein Akt der Verzweiflung als des Einvernehmens. „Ehen kitten mit Klistieren“ klingt nicht wirklich vielversprechend; doch wann fände das Scheitern verbrauchter Ehen jemals klangvolle Namen?

Was Helmut fehlt, ist nicht etwa der Körper seiner Jugend oder ein Titel, um im Land ständig titulierender Titelträger diskursfähig zu sein. Was ihm fehlt, sind nicht allein Galanterie oder Charme – das alles ließe sich kompensieren. Was Helmut tatsächlich fehlt, sind Zuversicht, Enthusiasmus und jene unersetzbare Suggestivkraft, ohne die kein Mann je eine Frau dazu gebracht hätte, sich mit ihm zu vereinen. Marion war noch nie so empfänglich für jede kleine Geste der Zärtlichkeit, Marion war noch nie so willens, Helmut zu lieben für ein bescheidenes Bakschisch freundlicher Zuwendung. Doch wenn es um Verständnis für andere geht, ist Helmut taub, blind und stumm. Die Wünsche und Sehnsüchte seiner Frau wird er nie erfüllen können, da er sie nie gekannt hat, noch erkennen wollte.

Die gemeinsame Reise würde scheitern, würde scheitern müssen, denn Helmut ging in der resignierten Haltung des Nazareners, der in Gethsemane seine letzte Schreckensnacht vor der Kreuzigung erwartet und weiß, er und kein anderer ist es, der sich opfern muss.

Seine Rückkehr, so wusste ich bereits lange vor seiner Abreise, würde keine gewöhnliche sein. Helmut würde furchtbare Schläge erlitten haben und sein Jammer würde unendlich sein. Und tatsächlich, wenige Tage nach seiner Heimkehr gab er mir einen detaillierten Bericht über die vietnamesische Oper, die er inszeniert hatte. Er rief mich an, vorgeblich, um über ein Forschungsprojekt zu sprechen, das stagnierte, weil niemand bereit war, alles für ihn zu erledigen. Das Projekt beschäftigte ihn jedoch nur von ungefähr. Nach zwei, drei Sätzen geheuchelten Interesses für die Arbeit ging er in medias res und gab mir seinen Vietnam-Report.

„Eine Woche, hörst du, eine Woche, war ich dort“, hier schnaubte er wild, „und dann konnte ich nicht mehr atmen. Zu, alles zu, verstopft und verschleimt“, lamentierte er mit der Stimme eines fernöstlichen Klagemönchs. „Meine Bronchien waren am Ende und in den Nächten hatte ich Angst, zu ersticken.“ Helmut enttäuschte mich nicht. Seine Schilderungen waren wie immer überzeichnet und einem Jammer-Jargon verpflichtet, der jedes Wort mit Verzweiflung kolorierte. Er setzte stimmlich Akzente des Elends, die unnachahmlich waren. „Das klingt ja furchtbar. Und dann, was geschah dann?“, lockte ich ihn, ohne Notwendigkeit, aus der Reserve. Es war nicht erforderlich zu fragen. Er würde ohnedies alles erzählen, ohne Erbarmen und mit dramaturgisch geschickt verzögerter Ausführlichkeit. „Die Heiler der Ayurveda-Klinik waren absolut desinteressiert. Sie meinten, mein Infekt ginge auf falsche Ernährung zurück“, empörte er sich künstlich hustend. „Das klingt nicht gut“, erwiderte ich kurz und lakonisch, weil ich wusste, dass jedes Wort zu viel nur dazu führen würde, seine Erzählung zu verlängern. „Nicht gut“, schrie er auf, „nicht gut ist ein schöner Begriff dafür, dass ich fast gestorben wäre. Mein Fieber lag im 43er-Bereich“, klagte er trotzig. „Normale Menschen überleben das nicht.“ Da war sie wieder, die Sehnsucht des talentfreien Mittfünfzigers, mehr zu sein als die Norm, mehr zu können, mehr zu ertragen, mehr zu erdulden als jeder andere.

Helmut überschattete grundsätzlich eine Wolke aus krampfhaft gezügelter Wut, ergänzt um eine Note heimlicher Hoffnung, einmal Teil des Ganzen zu sein, das ihn umgab. Das jedoch, so wusste ich längst, würde für ihn immer illusorisch bleiben. So sehr er sich darauf verstand, kenntnisreich über die Vorzüge seines Audi A8 mit hydraulisch verstellbarer Rückenlehne oder die Degeneration seiner Nacken- und Lendenwirbel zu berichten – „der Fünfer ist so porös, der bringt mich um“ –, so wenig konnte er sich selbst davon überzeugen, wichtig zu sein. Erst dieses Detail machte ihn unerträglich für jeden, der nicht an Helmuts Heldenlegende arbeiten wollte. Mit Helmut befreundet zu sein, bedeutete, Helmut unablässig zu affirmieren.

Einer seiner Freunde, ein blutjunger, geltungssüchtiger Hamburger Journalist mit schlechten Umgangsformen und einer unerträglichen Art, seine Vorzüge anzupreisen, hofiert ihn so süßlich, dass die blutlüsternen Avancen eines Vampirs dagegen spröde und anständig wirken. Beide können sich nicht oft genug daran erinnern, dass sie beträchtlichen Anteil daran besaßen, mit einem Tierschutzbeitrag jenes unselige Bauernkind ins Fernsehen zu bringen, das viele Jahre, einsam und ohne Hoffnung auf menschliche Nähe oder Erlösung, in einem abgeschiedenen Linzer Gehöft eine Kaspar Hauser-Existenz führen musste und danach nicht wusste, wie ihm geschah, als es sich in den Medien wiederfand. Insbesondere der sich empathisch gebärdende Journalist erklimmt alle Sprossen der Obszönität. So hält er sich viel darauf zugute, selbst in Internierungslagern, bei Interviews mit Kandidaten, die ihrer Hinrichtung entgegensehen, menschlich zu bleiben. Davon erzählt auch sein Buch „Ich schaue hin, nicht weg“, das sein gebräuntes, von langen Haaren gerahmtes Konterfei nicht allein auf dem Titel, sondern auf jeder weiteren Seite präsentiert, als könne ein Buch nur bestehen, wenn jedes geschriebene Wort auch ein feixendes Gesicht als Illustration erhält. „Ulf Kammer besucht Mohammed C. im Todestrakt. Links von ihm steht Caroline S., die den Autor von Hamburg in den Sudan begleitet hat.“ Oder: „Ulf Kammer im Interview mit Scheich N’Adimme, der dem Autor die Technik der Klitorisbeschneidung nahebringt.“ Solche und ähnliche Bildunterschriften sind allgegenwärtig. Gleichgültig, welche Seite aufgeschlagen wird, der schmierige Journalist zahnt dem Leser penetrant entgegen. Von besorgter Neugier getrieben, kündet der Klappentext, verstehe und begreife Ulf Kammer sich und sein journalistisches Handwerk als Übersetzer gesellschaftlicher Probleme.

Jeder, der Kammer länger als fünf Minuten kennenlernen darf, weiß, dass er selbst seine Genitalien verkaufen würde, wenn die Zuschauerzahl seiner zwanghaft-investigativen TV- und Online-Beiträge nicht länger bei wenigen Tausend verharrte. Da das jedoch niemals geschehen wird, behandelt er seine devoten Assistentinnen mit der zynischen Freundlichkeit eines Zuhälters, um seine Frustration zumindest ein wenig zu ventilieren. Die beiden assistierenden Mädchen dienen ihm, das ist unschwer erkennbar, wie alle Menschen und Dinge, allein zur Befriedigung seiner Triebe.

Wer Helmut und Ulf Kammer gemeinsam essen sieht, wer ihnen lauscht, wenn sie einander zu überbieten suchen, mit unmäßigen Komplimenten, wünscht sich einen geistigen Radiergummi, um diese Szene für immer auszulöschen. Nichts ist widerwärtiger als zwei postpubertierende Radikal-Narzissten, die, könnten sie, wie sie wollten, gerne Klistier im Anus des anderen wären. Marion hingegen ist niemand, der mit Helmuts Charme und Verständnis rechnen dürfte. Ihre intimen Augenblicke mit Helmut finden immer dann statt, wenn sie seine Probleme beseitigt.

So blieb es in Vietnam Marion vorbehalten, einen Facharzt zu finden, der Helmuts Fieberattacken bekämpfte. „Bis nach Cà Mau musste Marion reisen, um einen Arzt zu finden, der das dringend benötigte Antibiotikum verschreiben konnte“, lamentierte Helmut, als habe er selbst die Reise machen müssen. „Bis Marion endlich wieder zurück war, lag ich fast in Agonie“, berichtete Helmut und setzte gekonnt eine Kunstpause, ehe er mit bebender Stimme fortfuhr zu klagen: „Ich lag in einem Raum nicht größer als mein Büro und“, hier stockte er erneut, rang um Fassung, ehe er unter Tränen wiederholte, „und ich lag fast in Agonie.“ Vermutlich ist Helmut der einzige Mensch auf Erden, dem es gelang, fast in Agonie zu liegen. Es war so typisch für Helmut, der heimlich Fleisch aß, um Marion, die sich vegan ernährte, nicht zu verärgern, dass er auch bei Geschichten wie diesen nicht begreifen wollte, was tatsächlich belastend für andere wirkte.

Weder profitierte Marion davon, dass ihr fettleibiger Mann darauf verzichtete, vor ihren Augen Fleisch zu verzehren, noch beglückte es sie, einen Tag lang für ihn auf Reisen gegangen zu sein, um Antibiotika zu besorgen, die er nicht benötigte. Seine Lungenentzündung war wenig mehr als ein leichter Infekt, seine Atemnot nichts weiter als ein Symptom ohne Krankheit. Helmuts einzige Krankheit war seine Egozentrik. Es war ihm gleichgültig, welche Wege Marion absolvieren musste und wie sie diese absolvierte. Was er wollte, war allein den Nachweis anzutreten, dass sein Opfer, mit Marion auf Reisen gegangen zu sein, nicht größer hätte sein können.

Helmut wusste, Marion würde sich wegen seiner Erkrankung Vorwürfe machen, was er jedoch nicht wusste war, dass Marion einmal genug haben würde, erpresst zu werden. Demütigungen gar zu lange pflichtschuldig zu erdulden, führt zwangsläufig zu Eklats und unversöhnlichem Streit.

Marion hatte mir bei einem meiner immer seltener werdenden Linz-Besuche erzählt, Helmut habe, als ein Sturm den Attersee über die Ufer treten ließ und ihr Häuschen und den angegliederten Garten mit Schlamm und Schmutz überschwemmte, geglaubt, sie hätte ihre Rosenbüsche, Blüte um Blüte, gereinigt, weil sie sentimental geworden sei, ein sanftes, kindliches Herz besäße und nicht ertragen könne, was den Pflanzen widerfahren sei. Sie habe jedoch die Blüten nur gereinigt, weil sie wusste, sie würden sich wieder erholen. Allein Pragmatismus und botanischer Sachverstand habe den Anstoß gegeben, sich den Rosen und keiner anderen Pflanze zu widmen und sich so zu verhalten, wie sie sich eben verhalten habe. Helmut aber sehe oft Dinge mit Emotion, weil es ihm an Sachkenntnis fehle. Das sei auch immer wieder Anlass für sie, mit ihm zu streiten. Sie streite mit ihm nicht etwa, weil sie Gefallen daran finde, sondern weil sie es manchmal nicht ertragen könne, wie wenig er von ihren Dingen verstehe. „Ich würde gerne sagen, unsere Ehe habe mir Glück gebracht und unsere Kinder seien der Jugend entwachsen und selbständig. Doch ich kann es leider nicht sagen, da mein einziges Kind nie seine Pubertät verlässt, dafür aber altert und verfettet, und das mit jedem Tag rapider. Welche Frau“, fragte mich Marion, „möchte schon die Unterhosen ihres Mannes waschen, bügeln, falten und verstauen, und mit Angst daran denken, wie viel Zeit wohl noch bleibt, bis die ersten Einlagen gegen die Inkontinenz notwendig werden?“

Keine, hätte ich gerne entgegnet, doch ich hielt mich zurück und ließ sie selbst ihre Frage beantworten: „Wahrscheinlich keine, ausgenommen vielleicht seine Mutter“, höhnte sie leise. „Seine Mutter, die ihren ödipalen Sohn dazu erzogen hat, sich in Selbstmitleid zu suhlen und jede Krankheit an sich zu reißen, die in seine Nähe kommt. Glaub’ mir, Clemens“, sagte sie traurig, „Helmut wusste nie mehr als ihm angenehm war und das ist wirklich nicht viel.“ Erbittert fuhr sie fort: „Ich lebe mit einem ödipalen, hypochondrischen, geschlechtslosen Menschen zusammen, der keine Ambition erkennen lässt, mich anders als eine Stiefmutter zu behandeln.“ Marion hielt kurz inne, als lausche sie einer Stimme, die ihre ganze Konzentration erforderte. „Ich glaube, Helmut kann sich nicht ändern. Ich hingegen schon. Ob zu meinem Glück oder Unglück, wird sich weisen.“ Marion lächelte resigniert, gab sich einen Ruck und blickte mich an. „Die zentrale Frage ist jedoch, ob ich mich immer ändern möchte?“ Ihre Stimme klang jetzt weit selbstbewusster, fast trotzig und so, als habe sie längst entschieden, sich nur noch zu ändern, wenn es ihr helfen würde, selbst besser zu leben.

Marions Eheerfahrung gab wenig Anlass zu Optimismus. Ihr dicker Gatte würde weiter essen, verfetten und schließlich zu einem amorphen Körper verkommen. Immer wieder würde er neue Ansprüche stellen, die alle nur das Ziel kannten, auf angenehme Weise versorgt zu sein. Wie ein narzisstisches, ewig nörgelndes Kind, das jede Kritik an sich als bos- und krankhafte Übertreibung versteht, würde Helmut Marion nicht nur jede Lebensfreude nehmen, sondern auch jedes Mittel nutzen, ihre Unterdrückung im Alltag zu zementieren.

Ein einziges Mal hatte Marion versucht, sich aus den Tentakeln ihrer männlichen Hydra zu lösen und war gescheitert. Ich erinnere mich noch gut an Helmuts Gejammer, als Marion zu einer Reise nach Bali aufgebrochen war, ohne Helmut, befreit von seiner steten Überwachung und dankbar, ihre Nanny-Schürze für kurze Zeit an den Nagel zu hängen.

Sie hatte ihre Reise von langer Hand akribisch geplant, jede Eventualität bedacht und nichts dem Zufall überlassen. Helmut wusste, sie würde für vier Wochen Yoga-Kurse besuchen, meditieren und versuchen, wieder zu Kräften und in Balance zu kommen. Helmut wusste, sie würde telefonisch nur an manchen Tagen und dann nur kurz erreichbar sein. Helmut wusste, es würde klug sein, nichts davon zu hinterfragen, und einmal, nur einziges Mal, seine eigenen Wünsche zurückzustellen. Und wirklich nahm sich Helmut ernsthaft vor, alles zu unterlassen, was Marions Reise gefährden könnte.

So hatte sich Helmut, als der Abreisetag kam, noch couragiert und tapfer gegeben, Scherze gemacht und darauf hingewiesen, wie sehr ihm daran gelegen sei, dass Marion ihre Reise genieße und wisse, dass es keinen Grund gebe, sich um ihn zu sorgen. „Marion, du weißt, wie viel mir an deiner Gesundheit liegt. Bitte, sorge dich nicht um mich. Freu’ dich auf die Zeit in Bali und vergiss nicht: Ich halte meine Versprechen“, so hatte er beschwichtigend auf Marion eingeredet, die, wie er sehr wohl wusste, ein schlechtes Gewissen plagte, und das obwohl sie es furchtbar fand, ständig kontrolliert und gegängelt zu werden. Meist haben jene Menschen ein schlechtes Gewissen, die geknechtet werden und nicht jene, die knechten. Moralische Habituierungen sind immer weit wirkungsmächtiger als Logik und Vernunft und so gestaltet sich unser Leben selten gerecht oder gar vernunftgemäß.

Eine Lasur zarter Rottöne legte sich über ihr Dekolleté, bedeckte ihren Hals, stieg auf in Wangen und Stirn, verjüngte ihr Gesicht – ihre ganze Präsenz – und ließ Marion strahlen. Marion wusste nicht, dass im selben Augenblick Helmut in seinem Audi A8 einen hysterischen Weinkrampf erlitt und seinen Kopf, wieder und immer wieder, gegen sein Lenkrad schlug, bis er, benommen vor Unglück und Scham, das Handy ergriff und Marions Nummer wählte. Sie hatten verabredet, kurz vor dem Boarding noch einmal einander Adieu zu sagen. Der Klingelton verriet Marion noch nicht, was geschehen war. Noch lebte sie in der gnädigen Vorstellung, es würde keine Komplikationen geben. Alle Hochgefühle und Illusionen wurden jedoch getilgt, als sie Helmuts gepresst schluchzende Stimme hörte, die immer wieder denselben Satz sagte, und das mit einer Intensität und Eindringlichkeit, die sie frösteln ließ: „Bitte, bitte, lass’ mich nicht allein, bitte, bitte, geh’ nicht weg.“ Die fünf Minuten Würde haben sich verbraucht, dachte Marion traurig. Marion kannte ihren Mann und wusste, dass ihre Reise hier und jetzt endete. Helmut musste nicht alle Register ziehen. Es genügte der implizite Hinweis, es finde sich auch für das größte Problem immer eine Lösung, denn der Tod weise niemanden zurück. Dieser Satz verfolgte Marion seit dem Tag, als sie Helmut dabei ertappt hatte, wie er weinend auf dem Dachboden alte Kartons durchwühlte, um Bilder von seiner Mutter zu finden, die ihm alles bedeutet hatte.

Der kleine Helmut konnte nie verwinden, dass seine Mutter ihm wenig Beachtung schenkte und seine Intelligenz als belanglos einstufte. Ihr raues Wildkatzen-Lachen hatte den Jungen schon früh jeder Lebensfreude beraubt – den minderbegabten Jungen, dessen Schwester zu talentiert war, als dass sie jemals wie Helmut die Qualen durchleben musste, die Rückgabe von Klausuren schweißgebadet zu erwarten. Helmut hatte oft gepatzt und seine Matura beim zweiten Mal nur bestanden, weil sein Vater Helmuts Schuldirektor noch aus Studientagen kannte.

Die Fragen waren ihm zwei Tage vor den Prüfungen zugegangen, was ihm die Möglichkeit gegeben hatte, sich gezielt vorzubereiten. Sein Vater, ein stolzer, beherrschter Mann, belesen, weltläufig und als Dirigent des Linzer Ensembles keine unbekannte Größe in der Stadt, hatte sie ihm ausgehändigt, erbittert und indigniert, dass es seinem Sprössling unmöglich schien, auf normalem Weg eine anständige Zensur zu erreichen. „Du bist für mich eine Enttäuschung, Helmut“, stellte er sachlich und emotionslos fest. „Deine Dummheit kränkt mich mehr, als mir lieb ist.“ Er mied jeden Augenkontakt mit seinem Sohn, massierte seine Schläfen mit kurzen, präzisen Bewegungen und ergänzte, fast beiläufig: „Hoffen wir, dass deine begrenzten Talente einen zahlenden Abnehmer finden. Streng dich an, Hohlkopf“, grollte er leise, doch gut verständlich, als er die Aufgaben auf Helmuts Schreibtischplatte hinterlegte und den Kopf dabei unmerklich schüttelte, als wolle er einem gar zu lästigen Gedanken den Zutritt in sein Bewusstsein verwehren. Helmut starrte seinen Vater verzweifelt an, doch dieser hatte bereits jedes Interesse an ihm verloren und ging, wortlos und ohne ihm zum Abschied die Hand gereicht zu haben.

Helmut hatte diesen Augenblick nie verwunden. Noch Jahrzehnte später erbleichte er vor Scham, wenn er sich daran erinnerte, zerbiss seine Lippen in Hass und Wut auf sich, seinen Vater und jene schreckliche Welt, die ihm keine Anerkennung schenken wollte. Wenn er sich nicht verbieten konnte, die Szene erneut zu beschwören, hoffte er immer, es ließe sich mit dem Déjà-vu vielleicht der finstere Dämon verjagen, der seine Seele seit über 30 Jahren zerfraß. Die Erinnerung an das unbarmherzige Urteil seine Vaters hatte ihn unwiderruflich in einen Mann verwandelt, der seinen Selbstekel nur ertragen konnte, indem er andere zwang, seine Launen, seine Hypochondrie und hysterische Egozentrik zu ertragen. Er hatte es nie verwunden, ein unzulänglicher, peinlicher Sohn zu sein, der augenscheinlich von seinem Vater als Dummkopf gehandelt und für immer in die Kaste unzulänglicher Kreaturen verwiesen wurde.

Helmut gefiel sich, je älter er wurde, zunehmend mehr in der Rolle des Ab- und Zurückgewiesenen. Es bereitete ihm eine perverse Lust, seine erlittenen Demütigungen aufzuzählen: „Für meinen Vater war ich ein Idiot und meine Mutter hasste mich bereits, ehe ich zur Welt kam. Sie war psychotisch und Trauma-Patientin“, ergänzte er wichtigtuerisch und stolz, zwei Fachtermini zu kennen, die sein profundes Wissen – seine Wissenschaftlichkeit – belegen sollten. „Meine Mutter war krank, wirklich krank“, teilte er häufig Menschen mit, die ihm, gleichgültig wo, begegneten. Es gab kein Entrinnen, für keinen von uns.

Helmut bestimmte die Themen und Regeln der Konversation. Seine Penetranz ließ keinen Raum für mehr als sich selbst und das scheint charakteristisch zu sein für das große Heer fünfzigjähriger Männer, die es nicht verwinden können, am Leben zu sein, ohne zu wissen wofür und für wen.

In den Augen jener, deren Liebe sie am meisten ersehnt haben, ist nur Enttäuschung, und in den Augen jener, die ihnen ernsthaft Liebe entgegenbrachten, lauert, nach Jahrzehnten psychischer Fron und Unterdrückung, nur noch die Sehnsucht, endlich von ihnen befreit zu sein.

Helmuts Kindheit wäre bedeutungslos, hätte er je erkannt, dass die Liebe seiner Frau und nicht der Hochmut seiner Eltern ein brillanter Kompass gewesen wäre, den Kurs seines Lebens zu bestimmen. Doch Helmut ist über fünfzig und, wie sein boshafter Vater, Opfer jener Chimären, die er einst selbst erschaffen hat, ohne zu wissen, dass sie seine Persönlichkeit zersetzen würden.