Impressum

2. veränderte Auflage

Copyright 2017 © Verlag Elke Straube

Schriftsatz & Gestaltung: Elke Straube

Fotos S. →+→: Sensei Kampfsport e.V. Berlin

Coverfotos: privat

Covergestaltung: Steffen Hartmann

Herstellung: Books on Demand GmbH

ISBN: 978-3-937699-65-3

Er trug weiße Kampfhandschuhe und gepolsterte Schuhe der gleichen Farbe. Sein braungebrannter, nur sechzig Kilo schwerer Körper wurde von fast unnatürlich stark hervortretenden Muskelsträngen durchzogen, die die enorme Kraft des 1 Meter 72 großen deutschen Karatekämpfers demonstrierten. Ansonsten war er nur noch mit einer slipähnlichen schwarzen Dreieckshose bekleidet. Der nicht sichtbare Plastikprotektor sollte ihn vor Tritten in den Unterleib schützen. Seine sonst nach hinten gekämmten halblangen blonden Haare fielen nun in die vom Kampf erhitzte Stirn. Da stand er, ein paar tausend Kilometer von zu Hause entfernt und kämpfte. Er, Stefan Tent, 25 Jahre, Karatelehrer aus München.

Wenn man von seinem in über zwölf Jahren unmenschlich harten Karatetraining auf Höchstform gebrachten Körper absah, erweckte der junge Deutsche einen eher harmlosen, ungefährlichen Eindruck. Schuld daran war sein Gesicht. Ein Gesicht, von dem Mädchen träumten. Zwei hellblaue, fast sentimental blickende Augen lagen unter einer hohen, intelligenten Stirn. Die sanft gebogene Nase erzeugte ein nahezu griechisches Profil, und der stets zu einem Lachen bereite Mund, der eine Perlenreihe weißer Zähne zeigte, ließ in so mancher seiner Schülerinnen ganz andere Gedanken aufkommen als an Karate oder Aikido, das Stefan Tent ebenfalls hervorragend beherrschte und auch lehrte. „Das Leben eines Kämpfers ist der Kampf“, hatte sein alter japanischer Lehrer Komasu einmal zu ihm gesagt, und Stefan war ein Kämpfer. Das sollte Jamashita Tashimuro beim Endausscheid der Allkampfmeisterschaften in der Kampfhalle in Tokio zu spüren bekommen. Für einen Asiaten war er sehr groß, über 1 Meter 90, und wog gute hundert Kilo. Und eine ganze Anzahl der über 2000 Zuschauer sahen den ehemaligen Sumo-Kämpfer Jamashita als klaren Sieger dieses optisch so ungleichen Kampfes. Ein deutscher David gegen einen japanischen Goliath. Der Japaner, der seine schwarzen Haare zu einem kurzen Zopf nach hinten gebunden hatte, unterschied sich von einem Sumo-Ringer jedoch dadurch, dass sein Körper nicht ein Gramm Fett zuviel aufwies. Das waren hundert Kilo Muskeln, Sehnen und Knochen, die jetzt als lebende Kampfmaschine auf den um vieles kleineren und leichteren Deutschen zusprangen. Jamashita sprang allerdings ins Leere. Der Deutsche hatte diese Form des Angriffs bei einem derart schweren Mann nicht erwartet, konnte aber gerade noch ausweichen. Der Japaner orientierte sich neu und ließ einen zweiten, noch schnelleren Angriff folgen. Aus dem Stand stieß sein linker Fuß nach vorne, um den Deutschen zu einem Block zu verleiten. Eine Zehntelsekunde später folgte mit der gleichen Wucht eine gerade Rechte in Richtung auf den Kopf des Gegners. Stefan Tent hatte einige Mühe, vor allem dem Fauststoß zu entgehen. Es blieb ihm nicht einmal mehr Zeit, auszuweichen, denn kaum hatte er den angreifenden Fuß des Japaners abgeblockt, sauste auch schon die Faust auf ihn zu. So behielt der Deutsche die Grundposition bei und führte einen starken Unterarmblock nach oben seitlich aus, um die angreifende Faust Jamashitas vom Ziel abzulenken. Man hörte den klatschenden Aufprall der beiden Arme, und um Millimeter rasten die eisenharten Knöchel des Japaners an Stefans Schläfe vorbei. Der Block schmerzt meist denjenigen, der geblockt wird, und so war es auch hier. Für einen Moment verzog der Sumo-Kämpfer das Gesicht. Jetzt blickte er gar nicht mehr so gemütlich. Eine steile Falte des Zorns lag zwischen zwei böse blitzenden dunklen Schlitzaugen. Der blonde Deutsche war überrascht und froh zugleich, diese Reaktion bereits jetzt zu sehen.

„Du hasst mich, deshalb verlierst du“, sagte er auf englisch und gerade so laut, dass Jamashita ihn hören konnte. Der Japaner musste ihn verstanden haben, denn mit einem wütenden Aufschrei sprang er nach vorn und versuchte einen Kopfstoß anzubringen. Der deutsche Karatekämpfer ließ beide Fäuste unten und drehte sich seitlich weg. Er wechselte praktisch ungedeckt seine Grundposition. Der Japaner lief leer, und Stefan Tent startete von unterhalb der Hüfte einen rechten Handrückenschlag gegen die Schläfe des Gegners. Der lange Weg, den die Faust dabei zurücklegte, verlieh ihr, verbunden mit einer schnellen Technik, eine gewaltige Schlagkraft.

In diesem Endausscheid wurde nach K.O.-System gekämpft, und als der gepolsterte Faustrücken die Schläfe des Sumo-Kämpfers hart und weithin hörbar traf, erwartete Stefan Tent, dass der Muskelberg vor ihm nun zu Boden gehen würde. Nichts dergleichen geschah. Er taumelte einige Schritte zurück, um Distanz und Zeit zu gewinnen. Der in einen weißen Karategi gekleidete Kampfrichter trat zu Jamashita und zählte ihn an. Doch der machte eine abweisende Bewegung mit der Hand und ging erneut in Kampfstellung. Sein um einen Kopf kleinerer Gegner wollte ihm aber keine Ruhepause gönnen und setzte sofort nach. Weil er in diesem Moment seiner Sache zu sicher schien oder einfach zu leichtsinnig war, vernachlässigte der Deutsche im Vorwärtsgleiten die Deckung und lief in einen Seitwärtsfußstoß des Japaners hinein. Es lag zwar nicht mehr die volle Kraft dahinter, aber der Stoß reichte aus, um Stefan für ein paar Sekunden die Luft zu nehmen. Er sah, wie Jamashita jetzt alles auf eine Karte setzte und seinen schweren Körper mit einem gepressten Kampfschrei abermals in ein wuchtiges Geschoss verwandelte. Es handelte sich wieder um einen Seitwärtsfußstoß, aber diesmal gesprungen und dadurch doppelt gefährlich. Diesen Treffer hätte der Deutsche nicht überstanden. Anstatt auszuweichen oder zurückzugehen, riskierte er einen weiteren schnellen Schritt nach vorne. Er ging praktisch in den Sprung hinein, um das Timing seines bisher gefährlichsten Gegners in diesem Wettkampf zu stören. Damit hatte Jamashita Tashimuro allerdings nicht gerechnet, und noch während er eine Zehntelsekunde lang in der Luft schwebte, änderte er seine Taktik und versuchte, das angezogene rechte Bein früher als geplant zum Stoß durchzustrecken. Aber Stefan Tent war schneller. Er stoppte den Fuß mit der Linken und riss den Mann aus der Luft zu Boden. Stefan Tent deutete einen Fußstoß auf die Kehle des nun auf dem Rücken Liegenden an und setzte die Faust nach. Beide Techniken stoppte er Millimeter vor dem Körper des Japaners. Der Schiedsrichter unterbrach sofort den Kampf, ließ die beiden Männer rechts und links von sich Aufstellung nehmen und erklärte Stefan Tent zum Sieger.

Der Applaus des fachmännischen Publikums umbrandete den Deutschen. Jamashita reichte ihm die Hand: „Gratuliere, Mister Tent, ich dachte nicht, dass Sie in den Sprung hineingehen würden. Wenn ich Sie erwischt hätte ...“, „dann wäre ich jetzt immer noch k.o.“, vollendete Stefan trocken den Satz. „Übrigens, Ihr Englisch ist ebenso hervorragend wie ihr Karate.“

Jamashita wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. „Sie werden es nicht glauben, aber meine Freundin ist Englischlehrerin. Sie hat mich praktisch dazu gezwungen, die Sprache zu erlernen.“ Er verzog sein Gesicht in gespielter Hilflosigkeit. „Da hilft auch kein Karate.“

Beide Männer lachten.

„Warum haben sie mich nicht ausgeknockt?“, wollte der Japaner wissen. „Wenn ich verliere, dann will ich auch richtig verlieren.“

„Da hätte ich es wohl mit ihrer energischen Freundin zu tun bekommen“, konterte Stefan trocken, „und das wollte ich unbedingt vermeiden.“

„Jetzt kommt die Belohnung für die vierzehn Tage, die wir gekämpft haben“, meinte Jamashita und wies auf einen kleinen Japaner, der auf Stefan zutrat und ihm 5000 Dollar in Form eines Schecks überreichte.

„So viel ist das nun auch wieder nicht“, entgegnete Stefan, „wenn man bedenkt, was man dafür alles riskiert. Aber für meine Schule wird es eine gute Werbung sein, dass ich hier mitgemacht habe.“

Die beiden Karatekas verließen mit den anderen Kämpfern die Halle. Stefan wurde von allen Seiten beglückwünscht, und Jamashita meinte etwas ironisch: „So ist das nun einmal, nur der Sieg zählt.“

„Obwohl doch gerade ihre Grundeinstellung zum Karate dieser Überzeugung widerspricht“, antwortete Stefan und gab einem kleinen Jungen die Hand, der bewundernd zu ihm hochblickte.

„Wir haben eben“, konterte Jamashita, „schon zuviel vom glorreichen Westen angenommen.“ Bevor Stefan etwas erwidern konnte, legte ihm Jamashita freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Das sollte nur ein Scherz sein, Mister Tent. Ich möchte Sie heute Abend in mein Haus zum Essen einladen.“

Stefan lächelte. „Wenn die Einladung auch für morgen gilt, nehme ich gern an. Heute habe ich leider schon etwas vor.“

Das breitflächige Gesicht des Japaners zeigte keine Regung. „Also gut, bis morgen. Ich stelle Ihnen dann auch meine Freundin vor. Sie ist die schönste Japanerin, die Sie wohl je gesehen haben und braucht sich hinter ihren westlichen Geschlechtsgenossinnen nicht zu verbergen.“

„Haben Sie etwa einen Westtick?“, frotzelte Stefan und ging in Richtung Umkleidekabine. „Also dann bis morgen, Jamashita!“

Der Japaner schaute nachdenklich hinterher. „Bis morgen, Fremder“, murmelte er.

„Wenn du in Tokio bist, musst du unbedingt die Ginza sehen.“ Das hatte man ihm in München gesagt, und Stefan nahm sich vor, heute Abend diesen Ratschlag zu befolgen. Mit Jeans und einem weißen T-Shirt bekleidet machte er sich von seinem Hotel aus auf den Weg. Die Ginza liegt östlich des riesigen Zentralbahnhofs und ist die größte Geschäfts- und Vergnügungsstraße Tokios. Nachtbars, Diskotheken, Restaurants und Büros lösten sich in ununterbrochener Reihenfolge ab, und unzählige Lichtreklamen ließen die heiße, schwüle Augustnacht zum Tag werden. Diese Straße war nichts für Leute mit Platzangst. Auf jeden Quadratmeter kamen mindestens zwei Menschen, und Stefan fühlte, wie viele neugierige Blicke aus unergründlich lächelnden Mandelaugen ihn streiften. Zwei hübsche japanische Teenager überholten ihn kichernd und drehten sich ein paar Mal um. Wenn man so gut aussah wie er, mit blonden Haaren und blauen Augen, dann musste man selbst in diesem Gewühl auffallen. Stefan Tent wurde es allerdings gar nicht bewusst, wie sehr man ihn bestaunte. Zuviel Neues war in den zwei Wochen, die er hier in Tokio verbracht hatte, auf ihn eingestürmt. Das musste erst einmal alles verarbeitet werden. Hinzu waren täglich fünf Kämpfe gegen Gegner verschiedenster Hautfarbe und Nationalität gekommen, die alle nur ein Ziel vor Augen hatten, nämlich einen der vom Veranstalter ausgesetzten Geldpreise zu gewinnen. Fünftausend Dollar für den ersten Platz, dreitausend für den zweiten und eintausend für den dritten Platz. Stefan Tent dachte an seinen 5000-Dollar-Scheck, den er morgen auf der Bank einlösen wollte. Damit ließ sich in Deutschland schon einiges anfangen.

Die Regenzeit war zu Ende gegangen, und das erdrückend schwüle Klima der Sommermonate lastete auf der abgasverseuchten Luft der Zwölfmillionen-Metropole. Stefan fühlte sich inmitten des Lärms und des bunten Treibens des Tokioter Nachtlebens mit einem Mal sehr einsam. Die Menschen eilten an ihm vorüber, und das gleichmütige Lächeln schien keine Sekunde aus ihren Gesichtern zu verschwinden. Da war ihm Deutschland eigentlich lieber. Dort konnte man die Regungen der Menschen wenigstens auf ihren Gesichtern erkennen. Aber die Mauer des Lächelns, vor der er hier stand, verwirrte ihn. Und überdies gab es nichts Schlimmeres, als gegen einen Asiaten zu kämpfen. Die Angriffe kamen meist ohne optische Vorankündigung. Nur wenn man sie empfindlich traf, wie er im Endkampf Jamashita getroffen hatte, ließen sie für Sekunden ihre Maske fallen.

An der Straßenecke kaufte er sich bei einer alten Frau ein paar Nüsse. Er ging einfach geradeaus weiter, ließ sich treiben. Die Lichtreklamen zuckten wie Blitze auf ihn nieder. Er wurde aus dem Japaner nicht so recht schlau. Gut, er hatte ihn besiegt, aber in einem ernsten Kampf wäre es ihm nicht so leicht gefallen wie heute beim Endausscheid. Jamashita hatte ihm gratuliert, aber Stefan hatte sich eines unangenehmen Gefühls nicht erwehren können, als er in das breitflächige, von Schweißperlen übersäte Gesicht des Japaners geblickt hatte. Ach was, die Kämpfe waren vorbei, und in drei Tagen ging sein Flugzeug nach Deutschland, wo er um fünftausend Dollar reicher wieder ankommen würde. Ein Duft, ähnlich dem von gebratenem Fisch, drang durch die Hitze der Nacht. Er kam von einem kleinen Stand auf der anderen Seite der Straße. Dass bei diesem Verkehr nicht mehr Unfälle passierten, war dem Deutschen ein Rätsel. Er wich mit Mühe den Autos aus, die nur geringfügig ihre Fahrt verringerten. Die Verkehrsampeln standen auf grün, und eigentlich hätte jetzt ein verärgertes Hupkonzert einsetzen müssen, aber das entsprach nicht der japanischen Mentalität.

Eine kleine Gruppe Menschen hatte sich um den Grill versammelt, hinter dem ein älterer Japaner im Schweiße seines Angesichts immer neue Stücke brutzelte.

„Schieb mal 'ne Gräte rüber“, meinte Stefan.

Der Japaner, mit einer nicht mehr ganz so sauberen Schürze um den Bauch, schien auch diese Sprache zu verstehen. Oder war es nur der Geldschein, der verheißungsvoll in Stefans Hand wedelte? Beinahe schneller als das Auge folgen konnte, warf der im Bratendunst schwitzende Mann die Fischstückchen in das kochende Öl, wartete ein paar Sekunden und spießte sie dann auf ein Holzstäbchen, so dass es wie Schaschlik aussah. Stefan schnappte sich das Ganze und spazierte gemütlich von dannen, ohne das Wechselgeld mitzunehmen. Er dachte an den Scheck, den er morgen einlösen würde, und dass er dem Mann hinter dem Grill mit seinem fürstlichen Trinkgeld sicher eine Freude gemacht hatte. Der Fisch schmeckte vorzüglich, und überhaupt, Stefan fühlte sich rundherum wohl. Er schlenderte weiter und summte eine Melodie vor sich hin. So merkte er gar nicht, dass er plötzlich in eine kleine Seitenstraße geraten war. Es war hier viel dunkler und nahezu menschenleer. Doch der in Gedanken versunkene Deutsche hatte das, wie gesagt, gar nicht so richtig mitbekommen, bis die Fische durch die Luft flogen.

Fliegende Fische – das hatte er eigentlich nicht bestellt. Und Ellenbogen in den Bauch auch nicht. Die gab es jetzt aber, als Dessert sozusagen. Der Appetit war ihm gründlich vergangen. Nun sah er auch, warum. Zwei Kerle zogen an der Handtasche eines jungen Mädchens, und der Dritte hatte dem harmlos daherspazierenden Deutschen ein Ding verpasst, weil er meinte, es würde sich vielleicht um einen Störenfried handeln, womit er nun freilich Recht bekam. Am meisten ärgerte sich Stefan wegen der verpassten Fischmahlzeit und darum versetzte er dem gelben Freund eine seiner gefürchteten Backhands, sprich Handrückenschlag, ausgeführt mit der geballten Faust – wieder ganz von unten kommend, kurz, trocken, aber ungemein wirkungsvoll. Und für ein paar Minuten vertauschte der Rowdy die Wirklichkeit mit einem japanischen Traum. Darin kam aber bestimmt keine Geisha vor. Die beiden anderen ließen von dem jungen Mädchen oder vielmehr von ihrer Handtasche ab und widmeten sich gezwungenermaßen ihrem neuen Gegner.

Es geht ein Märchen um, dass jedes gelbe Schlitzauge Karate kann. Hier stimmte es wirklich. Die beiden waren flink wie die Wiesel und hart wie Backsteine. Vor allem der etwas kleinere. Er landete einen halbkreisförmig abgeschossenen Fußstoß, der Stefans uneingeschränkte Bewunderung fand. Der Deutsche war indes immer noch ungehalten über die fliegenden Fische, und deshalb packte er den Fuß des Rüpels mit eisenhartem Griff und brach ihm das Schienenbein mit einem fürchterlichen Unterarmblock. Da schreit man schon mal auf. Bevor Stefan diesem Schrei länger lauschen konnte, knallte ihn ein gekonnter Fußfeger aufs Pflaster. Ihm fiel eben ein, dass zwischen Straße und Übungsraum doch ein gewisser Unterschied bestand, als durch die Nacht schon eine Faust auf seinen Kopf zuraste, um alles zu beenden, was gerade so schön begonnen hatte. Doch der junge Deutsche war clever. Auch im fremden Land. Und deshalb bewegte er seinen Kopf zur Seite. Gerade schnell genug, um der herannahenden Faust Platz zu machen, die nun voll aufs Pflaster krachte. Und so gut war unser japanischer Amateurkämpfer auch wieder nicht, um dies schmerzlos zu verkraften. Damit er noch mehr Grund zum Jammern fand, knallte ihm Stefan Tent, am Boden liegend, die Faust so fürchterlich aufs Ohr, dass der japanische Nachwuchs-Al-Capone für einige Zeit wohl nur noch mono hören konnte.

Jetzt wurde der Deutsche ernsthaft wütend. Er sprang auf und schrie: „Verschwindet, aber schnell!“, was die drei dann auch taten, indem sie mit schmerzverzerrten Gesichtern davon humpelten. Die ganze Zeit hatte das Mädchen dagestanden, unfähig sich zu rühren oder etwas zu sagen, so sehr schien ihr der Schreck in die Glieder gefahren zu sein. Stefan Tent nahm sie fürsorglich bei den Schultern und führte sie etwas näher in den schwachen Lichtkreis einer Bogenlaterne. „So, schöne Maid, jetzt kann ich dich viel besser sehen“, grinste er fröhlich. Für die nächsten Sekunden fiel ihm jedoch nichts Passendes mehr ein, und seine sonst sprichwörtliche Forschheit war plötzlich wie vom Winde verweht. Denn was hier vor ihm stand, war doch sicherlich nur ein Traum.

Hätte irgend jemand gesagt, dieses Mädchen sei bildschön, so hätte er einfach unverschämt untertrieben. Nein, er, Stefan Tent aus Deutschland, neuer Allkampfchampion, stand hier vor - vor einem Engel in Menschengestalt, vor einem japanischen zwar, aber vor einem Engel. So sah sie aus, ohne Zweifel. Wie eine überirdisch schöne Erscheinung. Vergessen waren die fliegenden Fische. Die gab’s an jeder Ecke. Aber einem Mädchen wie diesem begegnete man wohl nur einmal im Leben. Vor ihm stand eine bezaubernde Mischung aus Mädchen und Frau, gekleidet in einen schlichten, aber sehr eleganten hellen Kimono. Ein kleiner Mund mit vollen, rot geschminkten Lippen lächelte den Deutschen dankbar an. Die Flügel ihres kleinen Näschens bebten, und in den großen, kirschschwarzen Augen, die im Dunkel schimmerten, lag immer noch so etwas wie Furcht. Das volle, seidenglänzende Haar war kunstvoll zu einem schweren Knoten nach hinten gebunden. Sie sah wie eine Geisha aus dem Bilderbuch aus, nur noch viel hübscher. Vielleicht lag es auch daran, dass ihr Gesicht, vor allem ihre großen, mit langen Wimpern überdeckten Augen, einen europäischen Einschlag hatten. Irgendwo hatte da ein Nichtjapaner seine Hand im Spiel gehabt, schoss es Stefan vorwitzig durch den Kopf.

Ihre Handtasche lag immer noch auf der Straße. Stefan bückte sich, hob sie auf und gab sie dem Mädchen. Jetzt lächelte sie – und „nachts schien die Sonne“.

„Sprechen Sie Englisch?“ fragte sie.

Stefan nickte. Ihre glockenhelle Stimme drang zu ihm wie aus einer anderen Welt.

„Vielen Dank, Sie kamen wirklich im allerletzten Augenblick. Wer weiß, was die Burschen noch alles angestellt hätten.“

Stefan räusperte sich. „Man kann nie wissen...“ Es sollte scherzhaft klingen, hörte sich doch etwas gezwungen an. Die japanische Schönheit ging auf ihn zu und nahm ihn einfach bei der Hand. „Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?“

Stefan hatte sich gerade ein wenig von der ersten Überraschung erholt, da kam schon der nächste Schock. Sollte sie etwa...?

Sie lächelte immer noch. Diesmal amüsierter. „Was Sie gerade denken, will ich lieber nicht wissen. Ich möchte mich mit dieser Einladung nur bei Ihnen bedanken für Ihre Hilfe.“ Sie schaute ihn so lieb aus ihren rätselhaften Mandelaugen an, dass seine Bedenken dahinschmolzen wie Schnee in der Sonne. „Die japanische Frau ist emanzipierter als ihr Amerikaner glaubt“, sagte sie mit lieblicher Stimme.

Sie gingen die Ginza hinauf und kamen an der köstlich duftenden Grillbude vorbei. „Ich bin kein Amerikaner, sondern Deutscher“, korrigierte Stefan. „Fischlein gefällig?“

„Gerne“, antwortete sie.

Er bestellte zwei Portionen.

„Ich hätte nie gedacht, dass sie aus Deutschland kommen. Sie sprechen akzentfrei“, meinte sie bewundernd.

Stefan reckte sich. „Danke, das hört man gern.“

Der Japaner, der immer noch am Brutzeln war, erkannte ihn wieder und freute sich wahrscheinlich auf ein neues Trinkgeld, welches er auch prompt bekam. Einige Minuten lang aßen sie schweigend und spazierten weiter die Ginza entlang. „Erster“, sagte Stefan und ließ seinen leeren Pappdeckel fallen. „Hat der Fisch Ihnen geschmeckt?“ „Geschmeckt schon, aber es war zuviel.“ Sie warf die Reste in einen am Straßenrand stehenden Abfallkorb.

„Man wirft keine Sachen auf die Straße“, rügte sie ihn.

Stefan machte ein reuevolles Gesicht. „Jetzt kennen wir uns erst fünfzehn Minuten, und schon schimpfen Sie mit mir, Miss...“

„Mioshi, nennen Sie mich einfach Mioshi. Das war übrigens kein Fisch, was wir gegessen haben.“

Sie blieben vor einem kleinen Restaurant, aus dem gedämpfte Musik drang, stehen. Man hatte wegen der Hitze alle Türen geöffnet und die Tische einfach auf den Gehsteig gestellt. Die Kellner jonglierten mit traumwandlerischer Sicherheit schwere Tabletts zwischen den Tischen hindurch und bedienten die Gäste. Eine Drei-Mann-Kapelle spielte monotone Melodien auf zwei Saiteninstrumenten und einem Tamburin.

„Das war kein Fisch?“, fragte Stefan etwas abwesend, „was dann?“

„Schlangenfleisch, gebraten“, erwiderte sie erstaunt. „Ich dachte, Sie wüssten es...“

Stefan setzte sich auf den nächsten freien Stuhl. „Nein, aber jetzt weiß ich es.“ Sein Gesicht wurde um eine Schattierung blasser. „Dann habe ich also zwei Portionen Schlangenfleisch verspeist?“

Bevor die bezaubernde Mioshi für Schlangenfleisch Partei ergreifen konnte, bestellte er zwei Tassen Kaffee, „aber bitte schön stark.“ Eine zierliche Geisha, die sie bediente, nahm die Bestellung entgegen und huschte lächelnd hinweg. Stefan wandte sich Mioshi zu: „Hoffentlich gibt’s wirklich Kaffee und nicht Tintenfischtinte oder so.“

Mioshi musste lachen. Es war ein reines, glockenhelles Lachen, und der blonde Deutsche stellte mit Erstaunen fest, dass es nichts gab, was ihm an Mioshi nicht gefiel. Wo er doch ansonsten immer so wählerisch war, was die Damenwelt anbelangte. Stefan versuchte, ein unbefangenes Gespräch zu beginnen, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Ob er vielleicht gar nicht mehr so unbefangen war?“

Uns so saßen sich in einer heißen Tokioter Sommernacht zwei junge Menschen gegenüber. Sie kamen aus zwei verschiedenen Welten, doch es störte sie nicht. Das immer noch geschäftige Treiben der Millionenstadt umbrauste sie, und Stimmen aller Sprachen und Dialekte drangen durch den Verkehrslärm an Stefans Ohr.

Als er den Kaffee bezahlen wollte, protestierte Mioshi. „Nein, nein, ich habe Sie doch eingeladen, und nicht umgekehrt...“

„Wenn’s denn unbedingt sein muss“, gab Stefan klein bei und wartete, bis seine schöne Begleiterin die Rechnung beglichen hatte. Dann standen sie auf und gingen die Straße hoch in Richtung des großen, unterirdischen Einkaufszentrums der Stadt.

„So, und jetzt...“, begann Stefan unternehmungslustig.

„Und jetzt müssen wir uns trennen“, holte ihn Mioshi in die Wirklichkeit zurück.

Stefan blieb abrupt stehen. Sein Gesicht wurde ernst. „Was ist denn, das dürfen Sie mir doch nicht antun, Mioshi. Wo es gerade so schön angefangen hat. Bitte gehen Sie noch nicht. Was soll ich denn hier inmitten der fremden Menschen. Da geh’ ich glatt verloren.“

Da war es wieder, ihr Lachen, das ihn so verwirrte und zugleich anzog. „Das glaube ich Ihnen aber nicht, dass Sie verloren gehen.“ Sie blickte ihn an, irgendwie unentschlossen. „Ich weiß gar nicht, wozu Sie einen Mund haben“, sagte Mioshi, „mit Ihren großen blauen Augen können Sie doch viel besser reden.“

Stefan atmete erleichtert auf und wurde leichtsinnig.

„Meinen Mund habe ich zu etwas anderem.“ Sprach’s und zog sie mit festem Griff an sich. Dann gab er der verdutzten Mioshi mitten auf der Straße einen Kuss auf den Mund. Ein paar Passanten gingen kopfschüttelnd vorüber. Auf der Straße küssen! So weit war man hier in Japan noch nicht. Aber auch Mioshi war empört. Zumindest tat sie so. Sie riss sich von Stefan los und lief ohne ein Wort zu sagen davon. Stefan hinterher. Er fasste sie beim Arm und zwang das Mädchen, ihn anzuschauen.

„Au!“, schrie sie auf. „Erst benehmen Sie sich unverschämt, und dann brechen sie mir auch noch den Arm.“

Stefan versuchte, ein schuldbewusstes Gesicht zu machen. „Ich wollte Ihnen nicht weh tun, wirklich nicht, aber Sie sind einfach weggelaufen, und da dachte ich, es darf doch nicht alles schon vorbei sein...“

Mioshi legte ihre Hand sanft auf seinen Mund. Zwei rätselhafte, wunderschöne dunkle Augen blickten ihn an. „Sprechen Sie nicht weiter, Stefan, bitte.“ Ihre Stimme wurde jetzt sehr ernst. „Vielleicht ist es besser so, ich meine, dass alles schon vorbei ist.“

Stefan schüttelte den Kopf. Er wirkte fast wie ein kleiner Junge, der nicht einsehen will, dass er etwas sehr Schönes nicht bekommen kann. „Nein!“, erwiderte er heftig, „nein, Mioshi, das dürfen Sie nicht tun. Gehen Sie nicht. Bleiben Sie, bitte. Wenigstens für heute Abend.“ Seine Stimme klang beinahe resignierend. „Lassen Sie mir die Illusion, nur für heute Abend.“

Er bemerkte ihr Zögern. Natürlich, da war sicher ein anderer Mann. Ein solches Mädchen bleibt nicht allein. Aber er wollte sie nicht danach fragen. Jetzt nicht. Er versuchte, seiner Stimme einen unbefangenen Klang zu geben. „Ich hab’s, wir gehen tanzen!“ Er sagte es so, als ob es die größte Idee seines Lebens wäre.

„Tanzen...“

Mioshi schaute abwesend und beinahe traurig drein. Dann schien es, als gebe sie ihrem Herzen einen Stoß. „Gut, Stefan, wir gehen tanzen.“ Sie nahm ihn bei der Hand. „Und ich weiß auch schon, wohin!“

Stefan konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben so glücklich gewesen zu sein. Höchstens als er die Meisterschaft gewonnen hatte. Aber nein, das war eine andere Art von Glück. Was denn. Sollte er, Stefan Tent, der harte Kämpfer, sich etwa verliebt haben? Schien ganz der Fall zu sein. Und irgendwie in irgendeinem Winkel seines Herzens hatte er das bedrückende Gefühl, als ob gerade dieses Mädchen Mioshi noch mehr Komplikationen bringen würde als die Auseinandersetzung, die er mit den drei Kerlen vorhin hatte.

Und Mioshi? Sie wirkte so, als hätte sie mit Gewalt etwas weggewischt, um dafür umso ausgelassener sein zu können. Es klang beinahe verzweifelt fröhlich, als sie zu Stefan sagte: „Gut, Stefan, heute Abend wollen wir tanzen gehen. Ja, tanzen. Wie lange das her ist...“

Stefan staunte nicht schlecht. „Das verstehe ich aber nicht. Ein Mädchen wie Sie hat doch dazu sicher öfter Gelegenheit, oder?“

Mioshi, die immer noch seine Hand hielt, senkte ihre Stimme, die jetzt sehr bestimmt klang. „Sie müssen mir für den heutigen Abend etwas versprechen, Stefan. Stellen Sie keine Fragen. Ich würde Ihnen ohnehin nicht antworten, ist das klar?“

Statt einer Antwort nahm er sie einfach in seine Arme und küsste sie ein zweites Mal. Erst wehrte sie sich, aber gegen den Druck seiner Arme konnte sie nichts ausrichten. Und sie wollte es auch nicht. Diesmal erwiderte das Mädchen seinen Kuss, und sie kümmerte sich ebenso wenig wie er um die Blicke der Vorübergehenden. Dann löste sie sich von ihm und schaute ihn mit noch dunkleren Augen heftig atmend an.

„Komm!“