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Kurzbeschreibung:

Ein Sturm zieht auf. Während sich Tyr wieder mit den Rebellen vereint, droht in Narbo Martius ein Sklavenaufstand, der jeden Augenblick losbrechen kann. Der Zeitpunkt scheint gekommen, um Tyrs verschleppte Schwester zu retten und Rache zu nehmen am Kreis der Erhobenen. Die letzte Schlacht mit den Legionen von Narbo Martius scheint unausweichlich.

Tom K. Williams

Apokalyptika 


Sechster Akt: Früchte des Zorns

Edel Elements

Sechster Akt

Epilog

Mehr als ein Jahr war seit der blutigen Nacht des Sklavenaufstandes vergangen. Die kleine Siedlung Novitas Spes lag noch in morgendliche Stille gehüllt, Nebel waberte über die Holzpalisade und verlor sich auf den Wegen, die noch größtenteils Trampelpfade und nur teilweise mit Steinen befestigt waren. Vor einer unverputzten, mit getrockneten Gräsern gedeckten Hütte saß Tyr auf einem behauenen Baumstamm und genoss die morgendliche Ruhe.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass jemand im Wohnraum hinter ihm eine Kerze entzündete, schwach hörte er das Schreien eines Säuglings durch die Mauern seines Zuhauses. Er musste unwillkürlich lächeln.

Als Tyr sich gerade aufrichten wollte, um zu seiner Familie hineinzugehen, bemerkte er Melolonthus, der auf ihn zukam. Der Wissenssuchende war in den letzten Monaten sichtlich gealtert, was kein Wunder war, schließlich hatte er selbst für die Verhältnisse der Oberschicht von Narbo Martius ein stattliches Alter erreicht. Das unwirtliche Leben im Norden machte sich nun ebenfalls bemerkbar.

Melolonthus kam vor Tyr zum Stehen, stützte sich auf seinen Stock und bedachte ihn mit einem freundschaftlichen Blick. „Wie ich sehe, bist du schon wach. Lässt die kleine Anouk euch nicht schlafen?“

Tyr musste grinsen, als er den schelmischen Ausdruck im Gesicht seines Freundes sah, dem selbst die zunehmenden Zeichen des Alters nichts von seiner Wirkung genommen hatten. Er erwiderte: „Es ist besser geworden, seit sie sich beim Krabbeln selbst verausgaben kann.“

Melolonthus ächzte kurz auf, als er sich neben Tyr auf dem Baumstamm niederließ. Er murmelte: „Ich habe immer bemerkenswert gefunden, dass Aveline mit der Namensgebung einverstanden war. Immerhin ist die Kleine nach…“

„Aveline ist eine sehr warmherzige Frau. Ich hätte nicht gewagt, den Vorschlag zu machen. Die Idee kam von ihr“, unterbrach ihn Tyr. Melolonthus nickte anerkennend.

Eine Zeit lang schwiegen die beiden, begnügten sich damit, dem zunehmenden Treiben in der Siedlung zuzusehen. Türen wurden geöffnet, um Kinder herauszulassen, die sich wie Vögel sofort zu Schwärmen zusammenfanden und lärmend durcheinanderliefen. Frauen und Männer begannen ihre tägliche Arbeit. Apis Melliferus, der ehemalige Legionär, kam mit einer geschulterten Hacke an ihnen vorüber, nickte ihnen zur Begrüßung zu. Er war wohl auf dem Weg zu den Feldern außerhalb der Palisade, wo die im Dunstkreis des Kreises Erzogenen den Sippenleuten die Feldarbeit beibrachten.

Beim Anblick des ehemaligen Legionärs kam Melolonthus wohl ein Gedanke. „Es ist mir leider noch immer nicht gelungen, Mantis in Narbo Martius eine Nachricht zukommen zu lassen. Ich würde ihm gerne von all dem hier berichten und vor allem, dass ich wohlauf bin. Allerdings habe ich interessante Geschichten gehört…“

Tyr seufzte. Sein alternder Freund hätte es nicht zugegeben, aber so sehr er sich auch um die Gemeinschaft von Novitas Spes bemühte und so unbestritten wertvoll sein reichhaltiger Wissensschatz war, so kreisten seine Gedanken doch stets um die Stadt, die ihn sein ganzes Leben beherbergt hatte und in der er nun ein Verstoßener war.

Melolonthus fuhr unbeirrt fort. „Ein Händler der Karawane, die uns letzte Woche besucht hat, berichtete davon, dass es Latrodecta tatsächlich gelungen ist, sich vom Senat zur Despotin auf Lebenszeit ernennen zu lassen. Sie präsentiert sich als starke Frau, der es gelungen ist, den größten Sklavenaufstand in der Geschichte des Kreises unter Kontrolle zu bringen. Wenn das nicht nach der Begründung einer Dynastie klingt, dann…“

„Melolonthus.“

„Ja, Tyr?“

„Verzeih bitte, aber davon will ich nichts wissen.“

Der Wissenssuchende hob schuldbewusst die Hände und verstummte. Tyr sah rüber zum Hauptpfad, der sich durch die ganze Siedlung den Hügel hinauf schlängelte und im großen Versammlungsplatz mündete. Von dort kam gerade der Trupp der Jäger, um sich auf die Pirsch zu begeben. Unter den Jägern waren verständlicherweise viele Sippenleute, darunter Tyrs Ziehvater Balder, aber auch ehemalige Rebellen. Voran marschierte Odonata, die sich ganz nach Araneus‘ Wunsch zu einer Führungsfigur innerhalb der Gemeinschaft gemausert hatte. Sie trug noch immer ihre alte Kampfmontur aus geplünderten Legionsbeständen, hatte sie jedoch um religiöse Runen und Symbole erweitert. Tyr wusste es nicht mit Gewissheit, denn sie sprach nie über diese Dinge, aber er vermutete, dass sie im Glauben der Sippenleute Trost fand. Sie winkte den beiden zu, Tyr und Melolonthus erwiderten den Gruß.

Gerade wollte Tyr aufstehen, da trat Aveline aus der Tür, die kleine Anouk auf dem Arm. Das Mädchen musste die Brust bekommen haben, denn sie schlief schon wieder tief und fest. Ebenfalls dabei war Ari, die seit ihrer Rettung aus Narbo Martius häufig bei ihnen schlief. Obwohl sich ihre Mutter Sigyn wieder auf dem Weg der Besserung befand, würde sie nie wieder die Kraft aufbringen können, ein heranwachsendes Mädchen ohne fremde Hilfe zu erziehen. Aveline hatte sich gerne bereit erklärt, Tyrs Schwester eine zweite Mutter zu sein. Balders Tochter wich ihr und Anouk fast nie von der Seite.

Melolonthus grüßte höflich in der Sprache von Madras, während Tyr aufstand und den dreien jeweils einen Kuss auf die Wange gab. Dann sagte er: „Kommt, wir gehen wieder rein. Bevor wir uns eine Arbeit für den Tag suchen, wollen wir erstmal anständig essen. Melolonthus, möchtest du uns vielleicht Gesellschaft leisten?“

Der Wissenssuchende machte eine übertrieben höfliche Verbeugung, die man so wohl nur in den Theaterstücken in Narbo Martius sehen konnte. Ari lachte ob der ulkigen Geste laut auf. Obwohl sie häufig ängstlich war und Alpträume von ihrer Entführung hatte, entwickelte sie sich gut. Tyr hoffte, dass sie eines Tages ein normales Leben führen würde, frei von Angst und Sorge.

Während sie gemeinsam sein Haus betraten, musste er still lächeln. Er wünschte es für sie alle.

Hier im Norden würden sie endlich Frieden finden.

I. Ein Sturm zieht auf

Mantis Religiosa zog seinen groben Wollmantel enger zu, als er die schmale Gasse hinunter zum Justizpalast lief. Ein kalter Wind fegte zwischen den Häuserfronten hindurch, so schneidend wie die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen. In ganz Narbo Martius brodelte es bedrohlich. In den Gassen patrouillierten Seelenlose, Legionäre und Auxiliare. In den Gärten der Oberschicht trieben sich zwielichtige Spießgesellen herum, nur zu dem einen Zweck eingestellt, den hohen Herrschaften ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Auch die Sklaven verhielten sich eigenartig. Normalerweise hörte man sie in den verschiedensten Sprachen miteinander sprechen, manchmal gar singen, wenn es ihre Herren zuließen. Nun lag eine gespenstische Stille über den Baracken, den Gärten und den Bordellen. Eine unbestimmte Gefahr hing in der Luft und jeder schien sie zu spüren.

Mantis kam vor zwei grobschlächtigen Hilfstruppensoldaten zum Stehen, welche ihre Auxiliaruniformen mit martialischen Symbolen, Knochen und Metallstücken verziert hatten. Eine Freiheit, die nur den Decurios und anderen Unteroffizieren unter den Militärsklaven verliehen wurde. Mantis schluckte, als die beiden Männer bei seinem Anblick schäbig zu lächeln begannen. Der eine, dessen Gesicht von einer ausgefransten Narbe verunstaltet wurde, sprach ihn an. „Na sieh mal an, wer sich da in unseren Wachbereich verirrt hat…“

Sein Latein war zwar grammatikalisch makellos, doch sein Akzent verriet, dass er ein Gefangener aus den nördlichen Stadtstaaten sein musste, oder zumindest ein Nachkomme ihrer Bewohner.

Mantis überwand seinen Anflug von Unsicherheit und bemühte sich um ein selbstbewusstes Auftreten. „Ich komme im Auftrag des Justizmagistrats und soll einem Sklaven mit dem Namen Honore beistehen. Angeblich wurde er letzte Nacht außerhalb seiner Baracke aufgegriffen.“

„Honore? Ein Landsmann also. Der Name kommt mir in der Tat bekannt vor…“ Er stieß seinem Kameraden in die Seite, woraufhin dieser eine Wachstafel hervorholte, auf der er eifrig zu suchen begann. Mantis betrachtete die beiden Männer mit ernstem Blick. Er hatte nie verstanden, wie leicht sich mancher Sklave zu einem willigen Henkersknecht der Erhobenen machen ließ. Bei den Kindern konnte er noch Verständnis aufbringen, wenn sie durch militärische Erziehung und gezielte Verrohung zu Auxiliaren geformt wurden. Aber die zahlreichen Erwachsenen, denen der Kreis nur eine Waffe, einen Befehl, etwas zu essen und einen zu bekämpfenden Feind zu geben brauchte, um sich ihres gewalttätigen Naturells zu bedienen, stimmten ihn traurig.

Der Auxiliar hatte den passenden Namen gefunden, raunte seinem vernarbten Kameraden etwas in seiner Sprache zu. Dieser zeigte kaum eine Reaktion, behielt sein überhebliches Lächeln aufrecht.

Mantis verlor langsam die Geduld. „Also? Was ist nun? Ich verlange, dass ihr mich zu ihm bringt!“

Der Hilfstruppen-Decurio stieß belustigt Luft durch die Nase. „Du solltest dir genau überlegen, was du dir da wünschst, Freigelassener. Es könnte sein, dass du mit der Erfüllung sehr unglücklich wärst.“

„Was soll das heißen?“

Der Schweigsamere der beiden formte eine Faust, führte sie an seinem Kopf vorbei und zog einen imaginären Strick fest, ließ die Zunge aus dem Mund hängen. Dann lachte er dreckig. Mantis entglitten sämtliche Gesichtszüge.

„Aber das kann doch nicht… Wer hat das angeordnet, verdammt nochmal? Die Verhandlung war für heute Mittag angesetzt!“

Der Decurio stemmte bedrohlich die Fäuste in die Hüfte. „Es gibt keine Verhandlungen für das Gesocks mehr, zumindest bis auf Weiteres. Du wirst hier also nicht mehr benötigt. Geh nach Hause und schließ die Tür hinter dir. Nicht, dass du am Ende noch Besuch bekommst, weil du dich mit zwielichtigen Gestalten gemeinmachst.“

Mantis war die Drohung nicht entgangen, doch er schluckte die Angst vor der mit Sicherheit realen Gefahr herunter und erwiderte: „Selbst wenn er verurteilt wurde, so würde er für nächtliches Ausreißen lediglich ausgepeitscht werden, gebrandmarkt, im schlimmsten Fall.“

Der Decurio schien langsam die Geduld zu verlieren. Der Ausdruck spöttischer Überlegenheit wich langsam Gereiztheit. „Ich sage es dir noch einmal: Die Zeiten haben sich geändert. Auxiliare sind verschwunden, Legionäre ebenso. In den Wohnvierteln häufen sich die Morde an Erhobenen. Und letzte Nacht wurde eine Senatorentochter von einem Haufen Sklaven derartig vergewaltigt, dass man sie fast nicht mehr wiedererkannt hat.“ Er trat einen Schritt auf Mantis zu, den Blick auf seinen geheftet. „Ich sage es dir noch einmal: Verschwinde hier und misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen. Oder wir werden überprüfen müssen, ob du nicht vielleicht etwas Interessantes zu erzählen hast.“

Mantis ging rückwärts auf die gepflasterte Straße, weg vom Seiteneingang in den Justizpalast. Die beiden Auxiliare betrachteten seinen Rückzug mit sichtlicher Genugtuung. Der Vernarbte rief ihm zu: „So ist es gut! Lauf, Sklave, bevor noch ein Unglück mit dir geschieht!“

Mantis schluckte schwer, machte kehrt und ging eiligen Schrittes davon. Mit zunehmender Entfernung beschleunigte er sie noch. Erst jetzt waren ihm die Dutzenden schwarzen Vögel aufgefallen, die über dem Gelände des Justizpalastes kreisten. Sie wurden angelockt vom Geruch von Nahrung, dem Geruch des Todes. Ihr Schrei drang ihm bis ins Mark.

Wenn der Justizpalast begann, seine eigenen Gesetze zu missachten, um unliebsame Elemente loszuwerden und den geringen Zeitaufwand eines kurzen Verfahrens zu vermeiden, dann musste die Lage wirklich ernst sein. Er hatte Gerüchte gehört, dass nur die Manufakturbesitzer und die großen außerstädtischen Gutshöfe noch verhinderten, dass die Legion einen großen Kahlschlag an den Sklaven von Narbo Martius durchführte. Wie lange würden sie gegen die Bedrohung eines großflächigen Aufstandes noch anreden können?

Mantis begegnete einer Gruppe Sklavenfrauen, die, der Kleidung nach zu urteilen, zu einem bürgerlichen Haushalt gehörten. Sie sahen ihn kaum an, senkten den Blick, huschten wortlos an ihm vorbei. Es war überall zu spüren: Die Lunte brannte bereits.

Vor dem Winterquartier der Widerständler standen sich zwei große Menschenmengen schweigend gegenüber. Auf der einen Seite die Reste der Rebellenkämpfer, Frauen und Kinder, auf der anderen das, was von Tyrs Sippe übriggeblieben war. Die Fremden betrachteten sich mit sichtbarer Skepsis. Die ehemaligen Widerständler trugen teilweise Legionärskleidung, wohingegen die Stammesleute von den Strapazen der letzten Zeit gezeichnet waren – sie sahen müde, dreckig und abgekämpft aus. Viele von ihnen waren in speckige Felle oder alte Plastikutensilien gekleidet. Langsam, sehr langsam, gingen die beiden Gruppen aufeinander zu. Man verständigte sich mittels Zeichensprache und Gestik, brachte zögerlich kleine Geschenke vor. Obwohl man sich bemühte, einander mit Respekt zu begegnen, hörte man nirgends Lachen oder andere Zeichen von Fröhlichkeit.

Abseits dieses Kennenlernens trafen Tyr, Araneus, Dipterus, Odonata, Kvasir, Balder und Melolonthus aufeinander. Dieses Zusammentreffen verlief freundlicher, etliche Umarmungen wurden ausgetauscht. Nur Kvasir blieb zurückhaltend abseits der anderen stehen.

„Endlich seid ihr hier. Wir hatten schon nicht mehr mit euch gerechnet. Ganz zu schweigen von diesem Haufen von Wilden. Euer Ausflug in den Westen scheint von Erfolg gekrönt zu sein.“ Araneus nickte in Richtung des großen Pulks, der sich mittlerweile aus beiden Fraktionen gebildet hatte.

Dipterus fragte an Tyr gerichtet: „Deine Verwandtschaft?“

„Sozusagen.“

Der Schwarzäugige fügte hinzu: „Und warum sind sie hier?“ Argwohn und Bedenken zeichneten sich in seinem Blick ab.

Tyr sah ihn unverwandt an. „Geht es dir um die Versorgung? Wir haben Vorräte dabei, außerdem sind meine Sippenbrüder ausgezeichnete Jäger. Sie werden ihren Teil beitragen, mehr noch, sie könnten in der Ödnis für euer Überleben sorgen.“ Nachdem sich Araneus‘ Mimik entspannt hatte, fuhr er fort: „Ich konnte sie nicht in Madras lassen. Dort wären sie untergegangen. Die Stadt ist tot, zumindest vorerst. Ich hatte gehofft, dass ihr gemeinsam mit ihnen nach Norden ziehen könntet.“

Araneus wurde augenblicklich hellhörig. „Das heißt, du willst uns nicht begleiten?“

Tyr schüttelte den Kopf. „Nein. Ich konnte meine Sippe retten, doch der Kreis hat meine Schwester vor mir gefunden. Ich muss nach Narbo Martius und Ari zurückholen. Wenn ich sie ihnen überlasse, werden sie ihr unbeschreibliche Dinge antun. Wer wüsste das besser als ihr.“

Tyr musterte Araneus und Dipterus eindringlich. „Ihr wisst, wie es den Gefangenen des Kreises ergeht. Vor allem, wenn sich die Erhobenen die Erlösung von den Geistern, von der Strahlung, wie ihr sagt, erhoffen.“